Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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35

Sie ging zu Fuß zur Baronin. Die Straßen waren heute so wundervoll, daß sie ihren Reiz ganz genießen wollte. Ein fast sommerliches Blau war den ganzen Nachmittag in der Luft gelegen, und nun drangen langsam die Dämmerung und die frühe Dunkelheit des noch fast winterlichen Abends in diese warme, goldene Blaue hinein; man fühlte so recht, daß ein derartiger Tag im Vorfrühling eigentlich ein unverdientes Geschenk ist, befand man sich doch genau genommen noch im Winter. Aber die klare Kühle ließ vermuten, daß der morgige Tag wieder so hell und sonnig und voller Versprechungen für den Frühling und den Sommer sein würde. Amélie freute sich an den ersten Lichtern, die in den Häusern angezündet wurden. Als sie vor dem Haus der Baronin stand, war es vollkommen Nacht geworden. Die kahlen Sträucher des Vorgartens knackten in einem leichten Abendwind.

Die Baronin hatte eine Atelierwohnung inne, die nach dem Garten ging. Das Mädchen führte Amelie in ein an die geräumige Werkstatt stoßendes Empfangszimmer, das rotseidene Damastvorhänge und -portieren schmückten. Die Wände waren weiß, die Kanten der alten Rokokomöbel vergoldet, die Ueberzüge von etwas hellerem roten Damast als die Vorhänge. Die Baronin lag, in ein weißes, spitzenbesetztes Hauskleid gehüllt, auf einem Ruhesofa und las. Sie bat Amélie, liegenbleiben zu dürfen, da sie sich nach der gestrigen Nacht doch ein wenig angegriffen fühlte, und bot ihr einen Platz an. Amélie war von dieser Umgebung sehr erstaunt. Es gefiel ihr sehr, und dabei war es doch nicht in dem Sinne modern und künstlerisch, wie etwa bei Oesterots. Die Baronin bemerkte, wie interessiert sich Amélie umsah und erklärte, daß alles hier alte Familienstücke seien, die aus dem pommerschen Schloß ihres Geschlechtes stammten.

»Ich kann mich an diese modernen kunstgewerblichen Möbel nicht gewöhnen,« sagte sie, »das ist mir viel zu neu, ich bin ein Mensch der Vergangenheit, der das Neue nur so gelegentlich als Dessert genießt. Ich habe nicht den Glauben an diese moderne Kultur als das einzige, was überhaupt noch Berechtigung hat. Ich brauche Dinge um mich, die mich an meine Kindheit und an meine Heimat erinnern. Mir aber von irgendeinem Innenarchitekten etwas zimmern zu lassen, was seinen künstlerischen Absichten entspricht, vielleicht auch sehr praktisch und komfortabel ist: nein, das kann ich geradesogut in einem modernen Gasthof haben. Dazu brauche ich kein eigenes Heim.«

»Ich finde es auch viel schöner als das Moderne,« erwiderte Amélie, im Nu überzeugt, und vergaß ganz, daß sie noch bis heute morgen für van der Velde und Pankok geschwärmt hatte. »Es ist Rokoko,« fragte sie, »nicht wahr?«

In diesem Augenblick trat das Mädchen ein und meldete, daß das Essen aufgetragen sei.

Die beiden Damen traten in ein kleines Eßzimmer, in dem alte geschnitzte Holzmöbel standen und setzten sich zu Tisch, während das Mädchen, ein weißes Häubchen auf dem Kopf, bediente. Amélie war entzückt von der Art dieses Haushaltes. Das war in mancher Hinsicht wie zu Haus – ja, daheim war es doch schön gewesen! – nur noch verfeinerter. Alles, was auf dem Tisch stand, zeigte beste Art und schöne Formen, aber ohne die Übertreibung, wie sie sie in einigen Münchener Haushaltungen gesehen hatte. Gläser und Teller machten nicht den Anspruch, Kunstwerke für sich zu sein und waren doch anmutig und edel. Die Baronin, die wußte, daß Amélie durch ihre Großmutter von Kindheit her an die französische Sprache gewohnt war, sprach bei Tisch französisch, um von dem bedienenden Mädchen nicht verstanden zu werden. Sie erzählte von ihrer Jugend auf dem Schloß in Pommern, wo sie sich mit den Buben gebalgt und mit Pferden getummelt hatte. Keines war ihr wild genug gewesen, und wenn sie selber über Land kutschierte, dann brach in den Dörfern manchmal geradezu eine Panik aus, aber niemals ist etwas passiert. Ihre Eltern starben früh, der Grundbesitz kam an den älteren Bruder, und sie sollte verheiratet werden. Das ließ sie sich aber nicht gefallen.

»Que voulez-vous que je fasse avec un mari?«

Keiner von denen, die kamen, schien ihr der Richtige, und so brannte sie eines Tages nach München durch. Die Familie konnte nichts dagegen sagen, da sie unabhängig war. Inzwischen hatte sie sich aber wieder mit den Ihren versöhnt, ja, die ostelbischen Herrschaften waren sehr zufrieden, auf ihren Reisen in München eine nahe Verwandte zu treffen, die sich in der Kunst einen gewissen Namen gemacht, sie sachkundig herumführen und ihnen manches Erstaunliche und Neue zeigen konnte. Als Stiftsdame hatte sie das Recht, den Titel Frau zu tragen.

»Nun, so einfach ist das alles nicht gewesen, bis es soweit gekommen ist,« erzählte die Baronin, »manche Kämpfe hat es gekostet, bis ich mit meiner Familie und vor allem mit mir selber ins klare kam.«

»Ach ja, die Familie,« warf Amélie wie aus tiefer Erfahrung dazwischen.

»Und dennoch müssen wir uns mit ihr halten,« sagte die Baronin, während sie ihrem Gast Bordeaux eingoß, »je älter man wird, desto mehr erkennt man, daß doch nur in ihr unsere Wurzeln liegen. Wenn man erst selbst einmal genau weiß, was man will, wird man nachsichtig. Man bleibt in der Hauptsache unerbittlich und gibt im Kleinen nach, und weiter verlangt ja die Familie nichts von uns. Ich bin z. B. vollkommen aus der Art geschlagen, und trotzdem stehe ich mit meinen Leuten ausgezeichnet. Manchmal kommt ein Vetter oder ein Bruder hierher, und im Sommer bin ich bisweilen ein paar Wochen dort, dann freue ich mich immer wieder, daß wir doch alle, wie verschieden wir uns auch entwickelt haben, im Grunde gute Wernitze geblieben sind, und daß das hier in München ebenso geht, wie daheim auf der Klitsche.«

»Aber oft ist es doch ganz und gar unmöglich, mit der Familie auszukommen,« meinte Amélie.

»Sie haben sich wohl mit der Ihrigen überwerfen, um nach München gehen zu können?«

»Ja, sozusagen, es war nicht anders möglich.«

»Das halte ich für ganz falsch, Kindchen. Verzeihen Sie, wenn ich mir diese Bemerkung erlaube. Sie sind doch auch unabhängig, können tun und lassen, was Sie wollen; warum soll man da mit der Familie nicht freundlich sein, die einem ja doch in keiner Weise ernstliche Hindernisse in den Weg legen kann. Gerade wir, die wir uns der gewöhnlichen Familiensimpelei überlegen glauben, müssen eine Form des Verständnisses mit ihr finden. Sonst sind wir doch gar nicht die Ueberlegenen.«

Amélie wußte nicht, was sie auf diese Worte antworten sollte.

Der Kaffee wurde in dem roten Zimmer genommen. Die Baronin legte sich wieder auf das Ruhesofa und rückte Amélie einen Puff vor den Sessel, damit sie die Füße auflegen könne, die doch vom Tanzen noch recht müde sein mußten. Dann brachte sie mit einer gewissen Absichtlichkeit das Gespräch auf das alte Thema, und sie sprach sich aus über die vielen jungen Mädchen, die jetzt in München lebten, in der Meinung, hier neue Lebensinhalte zu finden. Es sei schade, wieviel gutes Menschentum in dieser Stadt unter die Räder käme.

»Aber man wird doch hier ein ganz anderer Mensch,« warf Amélie eifrig ein, »die Schuppen fallen einem geradezu von den Augen.«

»Wieso denn, Kindchen,« fragte die Baronin in fast zärtlichem Ton, Amélies Hand ergreifend, die sie streichelte. »Was haben Sie denn hier Neues erlebt und gelernt?«

Amélie wurde etwas verlegen, aber es schien ihr eine Ehrensache zu sein, ihre Ideale zu verteidigen.

»Nun, man kommt doch aus dieser ganzen Heuchelei heraus, in der man früher gehalten worden ist; man sieht alle Dinge viel freier an.«

»Heuchelei? Freiheit?« sagte die Baronin geringschätzig, »ich glaube, hier gibt es mindestens ebensoviel Heuchelei wie im Familienleben und ebensowenig innere Freiheit wie dort. Die Freiheit ist nun einmal das Vorrecht ganz ungewöhnlicher Naturen.«

»Heuchelei gibt es hier?« fragte Amélie ganz erstaunt, »das habe ich noch gar nicht beobachtet.«

»Nun,« sagte die Baronin, sich aufrichtend und ganz ernst werdend, »die sogenannte künstlerische Weltauffassung ist vielleicht die größte Heuchelei, die je erfunden worden ist. In Wirklichkeit sind doch alle diese Menschen die größten Philister mit ihrer neuen Ethik und ihrer Reform der Liebe. Es sind alles Menschen, die aus irgendeinem Grund, teils verschuldet, teils unverschuldet, auf dem gewöhnlichen Weg kein Glück und keinen Erfolg finden, und die sich darum so revolutionär gebärden. Sie haben nicht den Mut, etwas zu wagen, und darum wollen sie vorher Brauch und Gesetz gewissermaßen durch Mehrheitsbeschluß ändern, damit sie scham- und gefahrlos ihr bißchen Sinnlichkeit befriedigen können ohne unbequeme Rücksichtnahme. Wenn das nicht Philister sind? Sie meinen, wer aus dieser modernen Weltanschauung heraus handelt, sei ethisch, wer sich aber den Teufel darum kümmert und tut, was ihm Spaß macht, der sei frivol. Ist das nicht eine Heuchelei sondergleichen? Sehen Sie sich doch einmal alle diese Mädchen an, die hier herumlaufen, sie alle reden von dem großen Erlebnis. Die einen möchten es haben, aber sie wagen nichts, die anderen berauschen sich erst an der Rhetorik einer neuen Weltanschauung, um in dieser Verblendung den Mut zum Wagen zu finden. Die aus wirklicher Leidenschaft etwas wagen und mutig sind, die schweigen, die brauchen keine moderne Weltanschauung, denen zeigt ihr Instinkt im rechten Augenblick den Weg über alle Klippen und durch jedes Dickicht. Sehen Sie, mein liebes Kind, ich bin froh, daß wir einmal darüber sprechen, denn ich habe Sie lange Zeit beobachtet und Sie liebgewonnen. Sie selber sind auf dem Holzweg. Sie haben es gar nicht nötig, diesen ganzen Schwindel mitzumachen, denn die Natur hat Sie ja mit einer Reihe schöner Gaben beschenkt. Warum laufen Sie auf diesen Festen herum und stellen sich bloß? Warum lassen Sie sich von jedem Menschen mißbrauchen, den es nichts kostet, Ihnen einige Redensarten vorzumachen, um Sie zu täuschen und zu berücken? Wissen Sie, all diese Männer, die Sie hier kennen, das ist nichts für Sie, das sind keine Ehrenmänner, keine Gentlemen; die machen sich an Künstlerinnen heran, weil man ihnen gegenüber nicht die Verantwortlichkeit hat, wie bei den Mädchen, die in der Familie leben, und weil sie billiger sind als die bezahlten Mätressen. Das ist das ganze Geheimnis. Es klingt vielleicht ein bißchen hart, aber es ist so. Und dann sagen Sie mir eins, mein Kind, sind Sie denn glücklich in all diesem Treiben?«

So schroff manches war, was die Baronin sagte, es lag so viel Güte und menschliche Teilnahme in ihren lebhaften, sofort wieder heiter blickenden Augen, daß Amélie nicht den mindesten Widerspruchsgeist in sich fühlte. Sie fand keine Worte; die Tränen traten ihr in die Augen und sie warf sich, infolge ihrer Aschermittwochsmattigkeit körperlich widerstandslos, wie ein hilfloses Kind an den Hals der Baronin. Diese streichelte sie, und Amélie tat sich auf einmal selber furchtbar leid und begann laut zu schluchzen, während die Baronin sie beruhigte. Nach einiger Zeit sagte Amélie:

»Ach, ich habe ja nie einen Menschen gehabt, mit dem ich so über diese Dinge reden konnte, wie mit Ihnen.«

»Wieso denn?« fragte die Baronin, »wie war denn Ihre Frau Mutter?«

»Die ist früh gestorben und hat von diesen Dingen gar nichts verstanden; und dann sollte ich bei Großmama bleiben, aber das ging ganz und gar nicht. Die war auch sehr dagegen, daß ich nach München ging, aber sie konnte es mir nicht so sagen, wie Sie es jetzt getan haben, daß hier alles bloß Heuchelei und gar nichts anderes ist.«

»Nun, das habe ich nicht gesagt,« erwiderte die Baronin lächelnd, »wenn man sich innerlich über sich selber klar ist, so bietet einem dieses ungebundene Münchener Leben unendlich viel.«

Nach einiger Zeit beruhigte sich Amélie ein wenig und dann fragte sie ganz kindlich:

»Sie sind also gar nicht modern, Frau Baronin?«

Die Baronin mußte laut lachen. »Modern? Ja, was verstehen Sie denn darunter?«

»Nun, Sie meinen, daß ein junges Mädchen doch nicht seine Freiheit haben soll, wie es die Modernen verlangen?«

»Aber mein liebes Kind, darüber gibt es keine Regel; Menschen, die innerlich frei sind, haben sich zu allen Zeiten auch in ihrem äußeren Handeln zur Freiheit durchgerungen, dazu brauchen wir keine freie Liebe und keine moderne Weltanschauung.«

»Ja, aber was soll man nur in Gottes Namen tun?«

»Das ist sehr einfach bei einem jungen Mädchen wie Sie: wenn jemand kommt, der Sie lieb hat und den Sie lieb haben, und wenn auch sonst Ihre Charaktere zusammenpassen, nun, dann heiraten Sie ihn, streben Sie nach nichts anderem, als ihn und dadurch sich selbst glücklich zu machen, und grübeln Sie nicht einen Augenblick über moderne Weltanschauung und Reform der Liebe. Das ist gut für Schlechtweggekommene und Menschen ohne Geschmack und Erziehung. Ob man eine eigene Persönlichkeit hat, darüber braucht man sich nicht den Kopf zu zerbrechen, dadurch bekommt man jedenfalls keine.«

»Aber wenn es dann mit der Liebe doch nichts war?« fragt« Amelie.

»Nun, man muß sich eben vorher genau prüfen, und wenn es das Schicksal will, daß es dann doch unglücklich ausgeht, so ist das Leben immer wieder so reich an Auswegen, daß es für einen gegen sich selber wahrhaften Menschen mit einiger Selbstzucht immer wieder möglich wird, eine Lösung zu finden.«

»Verurteilen Sie ein junges Mädchen, das schon einmal ein Verhältnis gehabt hat?« fragte Amélie plötzlich.

»Mein Kind, kennen Sie mich nicht genug, um zu wissen, daß ich nichts und niemand verurteile? Aber es ist ein Unterschied, ob man einen einzelnen Fall dieser Art versteht und entschuldigt, oder ob man ein Gesetz daraus für alle machen will. Christus hat gewollt, man solle keinen Stein auf die Ehebrecherin werfen, darum hat er doch nicht den Ehebruch erlaubt. Hier in München aber wird so getan, als ob nun den jungen Mädchen alles erlaubt sei, wo es sich doch um nichts anderes handelt, als Sentimentalität, Sinnlichkeit und Amüsement; die Folge davon ist dann diese Halbheit, dieses Herumziehen auf Festen, diese Intimität mit ganz fremden Menschen, kurz, dieses leidenschafts- und temperamentlose Geknäuel, diese ganze Schwabinger Ferkelei.«

Amélie erschrak bei diesem Ausdruck, der also offenbar keine Erfindung Rittmeiers war, sondern schon allgemein gebraucht wurde. Die ganze Szene mit ihm stand ihr wieder vor dem Gedächtnis, und in tiefer Niedergeschlagenheit hörte sie die Baronin weiterreden. Gegen elf Uhr verabschiedete sie sich und dankte ihr aufrichtig für ihre Teilnahme. Sie sank ihr wieder in die Arme und ließ sich von ihr wie eine Schonungsbedürftige, Leidende hinausbringen. Die Baronin ließ ihr ein Auto holen, Amélie fuhr nach Hause zurück. Unterwegs aber gelobte sie sich, daß ihr Leben jetzt ganz, ganz anders werden müßte, und daß sie einen Strich unter das Geschehene machen würde. Sie war so müde, daß der Chauffeur, als sie angekommen waren, an die Scheibe klopfen mußte, um sie ans Aussteigen zu erinnern. Beim Einschlafen dachte sie mit Zärtlichkeit an Cornelius, und sie freute sich bereits darauf, morgen wieder ins Krankenhaus zu gehen und Nachricht von ihm zu erhalten.


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