Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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3

An einem der nächsten Tage nahm Mely doch das »Buch der Lieder« aus dem Bücherschrank. Sie las erst im Stehen hie und da ein Gedicht, dann setzte sie sich auf einen Stuhl – nach ihrer Gewohnheit nur auf die Kante –, las und las, und schließlich ließ sie das Buch sinken, ihre Schläfen schmerzten, die Glieder waren schwer und müde, in ihr wühlte eine unbekannte Erregung. Zuletzt hatte sie kaum mehr auf den Sinn geachtet, sich nur dem betäubenden Rhythmus der Verse hingegeben, aus denen ihr Blumennamen und Düfte, Worte wie Liebessehnsucht, Mondschein und Geheimnis, Erinnerungen an Stelldichein und Küsse im Gedächtnis blieben. Das war ja das Wundervollste, was sie je erfahren. Sie hätte gleichzeitig jauchzen und weinen können, und plötzlich fiel ihr Erwin mit den sonderbaren Augen ein, der ihr das Buch genannt hatte. Also auch er kannte diese süßen, berauschenden Gefühle, die sie jetzt kostete, und das war es vielleicht, was sie immer geahnt hatte, und was ihn ihr so ungeheuer interessant machte. Oh, sie mußte mit ihm über diese Dinge sprechen, so bald wie möglich. Während sie noch träumte und das Buch in den Händen hielt, hörte sie die Vorplatztür gehen und die Stimmen Lenes und der Mutter, die von einem Ausgang heimkehrte. Mely fühlte sofort, daß sie sich in ihrem Zustand nicht überraschen lassen dürfe, schnell stellte sie das Buch in den Bücherschrank zurück und ging in ihr Zimmer.

Am folgenden Sonntag traf sie Erwin beim Kirchgang. Von der Predigt hörte sie kaum ein Wort. Manchmal suchten ihre Blicke den brünetten Primaner, der sehr aufmerksam auf den Pfarrer zu hören schien. Ob ihn das, was er sagte, wirklich so sehr fesselte? Gewiß verschloß er in sich eine sehr große Liebe. Was mochte das wohl für ein Mädchen sein, das dieser fremdartige Junge liebte? Eigentlich war er gar kein Junge mehr, sondern wirklich ein junger Herr.

Nach dem Gottesdienst sagte ihr Erwin guten Tag. Sie gingen nebeneinander her, aber wie gewöhnlich sprach er nicht viel. Mely konnte es nicht mehr aushalten und sagte plötzlich, während sie zwischen den feuchten Rasen der Promenade gingen, die von sonntäglichen Spaziergängern belebt war:

»Das ›Buch der Lieder‹ ist aber sehr schön.«

Erwins Augen wendeten sich zu ihr und blitzten auf.

»Hast du's gelesen? Ich dachte es mir, daß du auch zu denen gehörst, für die es ist.«

Sie duzten sich, da sie sich noch vor jenem Lebenseinschnitt gekannt hatten, an dem junge Leute voreinander die Unbefangenheit verlieren. Für Mely war das belanglos, er aber genoß bereits die Vertraulichkeit, die darin lag. Lernte er ein Mädchen in Melys Alter jetzt kennen, so redete er sie unwillkürlich mit Sie an.

Mely hatte bei seinen Worten aufgehorcht. Es gab also offenbar auserwählte Menschen, die Dinge wußten und fühlten, die den anderen verschlossen waren, Erwin gehörte zu ihnen und schien nun nach einer Prüfung auch sie dazu zu rechnen. Sie bebte.

»Woher hast du das gewußt?« fragte sie, und es kam ihr fast keck vor, diese Frage zu stellen.

»Nun, das hast du wohl schon gemerkt, für die meisten ist doch das ›Buch der Lieder‹ nicht.«

»Das ist wahr, woher kennst du es denn?«

»Oh, ich interessiere mich doch überhaupt für Literatur,« erklärte Erwin mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, »ich kann dir auch einen Roman leihen, wenn du willst: ›Liechtenstein‹ von Hauff.«

»Von dem Hauffs Märchen sind? Ist der auch so schön?«

»Fast noch schöner.«

»Den haben wir auch zu Hause, aber es ist wirklich schrecklich lieb von dir, daß du mir so etwas sagst.«

»Ich spreche sonst mit gar niemand davon,« erwiderte Erwin, als habe er schon seine schlechten Erfahrungen mit Menschen gemacht.

»Ich werde es auch nicht tun, die anderen sind ja viel zu dumm.«

»Da hast du recht,« seufzte Erwin.

»Mit dir kann man sich wirklich furchtbar nett unterhalten,« erwiderte Mely voll Bewunderung.

Hermann hatte inzwischen die beiden eingeholt.

»Der Kofler kommt in eine Besserungsanstalt,« berichtete er, »weil er mit seinem Rehhorn einem Volksschüler ein Auge ausgestochen hat.«

Mely sagte: »Ach, Hermann, laß uns doch mit diesen langweiligen Geschichten zufrieden.«

»Seit wann sind sie dir denn langweilig? Hat dich der Dorn vielleicht mit seinen Ansichten angesteckt?«

Erwin wurde rot. Mely zuckte nur die Achseln:

»Als ob ich nötig hätte, mich anstecken zu lassen, ich habe doch meine eignen Ansichten.«

Erwin fand sich von jetzt ab häufig, bald jeden Morgen, schließlich zweimal täglich auf Melys Schulweg ein. Er trug ihr die Bücher und sie sprachen zusammen über Heine, Liechtenstein und Liebe. Er erzählte ihr, wie unglücklich Heine war, und wie schrecklich es ist, wenn man liebt ohne Gegenliebe. Einmal fragte Mely:

»Hast du eigentlich schon geliebt, Erwin?«

»Ach nein, wen hätte ich denn lieben sollen, ich kenne ja niemand!«

Das enttäuschte Mely. Sie hatte geglaubt, er würde sie nun in das Geheimnis einer großen Leidenschaft blicken lassen, nun aber tat er ihr fast leid, gleichzeitig war aber auch etwas in ihr, das sich darüber freute, daß Erwin noch nicht geliebt hatte.

Am andern Tage drückte Erwin Mely beim Abschied ein Briefchen in die Hand, sie solle es oben lesen. Voll Neugier rannte sie hinauf in ihr Zimmerchen. In dem Briefe stand ein Liebesgedicht. Mely gefiel es sehr gut. Woher er es wohl hatte? Ob es auch von Heine war? Sie las es im Tage mehrmals durch und abends konnte sie es auswendig. Bei ihrem nächsten Zusammentreffen fragte sie Erwin:

»Woher ist denn das schöne Gedicht?«

»Von mir.«

Mely schaute ihn erstaunt an. War das möglich? Jetzt schwindelte er aber.

»Wirklich von dir selbst gemacht? Woher kannst du denn Gedichte machen?«

»Oh, ich dichte sehr viel,« erwiderte er, »fast jeden Tag eine Stunde. Ich habe ein ganzes Heft für dich, ich wollte nur erst einmal sehen, ob dir das eine gefällt.«

»Ach, laß mich alle lesen, das eine gefällt mir sehr!«

Erwin zog aus seiner Tasche ein kleines gelbes Heft, das mit einem blauseidenen Faden umwunden war. Mely konnte kaum erwarten, bis sie zu Hause war, und nun las sie Gedichte »An Mely«, »Als ich sie zum erstenmal sah«, »Eine Friedhofsphantasie im Falle von Melys Tod«. Er nannte sie Grausame, Engel, Geliebte, Ungetreue. Dann verfiel er plötzlich in einen frivolen Ton. »Ich habe soviel mit Herzen gespielt«, begann ein Gedicht. Fieberhaft durchlas Mely das Heftchen. Sie konnte es kaum glauben. Das waren Gedichte, mindestens so gut wie die von Heine, und sie waren an sie selbst gerichtet, von jemand, der sie liebte. Vor dem Einschlafen war sie, wie noch niemals, von den widersprechendsten Gedanken erfüllt. Der Gedanke an eine Liebe zwischen ihr und Erwin war ihr bisher noch nie gekommen, überhaupt schien ihrer Phantasie der Gegenstand einer Liebe niemals greifbar. Nur die Liebe als solche lockte sie, und mit Erwin hatte sie nur davon geplaudert, wie man zu jemand spricht, mit dem man eine gemeinsame Reise in ein fremdes Land unternehmen will; ja, es hätte sie fast mehr gereizt, ihn über irgendeine Liebe, die er hegte, sprechen zu hören, als daß er sie selber liebte. Und nun liebte er sie doch selbst, da konnte sie in ihm auf einmal nur den Jungen, den Gymnasiasten sehen. Aus seiner romantischen Ferne war er ihr nun ganz nahe gerückt. Vorher hatte sie bewundernd zu ihm aufgeschaut, er war ihr geheimnisvoll erschienen. So ein Junge ist doch tausendmal interessanter, hatte sie oft gedacht, als so eine Gans von einem Mädel und selbst als die strenge Elisabeth Schlosser. Aber jetzt fühlte sie sich auf einmal überlegen, und während ihr bisher alles, was sie mit Erwin, seit sie das Buch der Lieder kannte, gesprochen hatte, als etwas Ernstes, Edles, fast Heiliges erschienen war, fand sie auf einmal auch ihm gegenüber ihr sonst so leicht zu erregendes Lachen wieder. Die Verwirrung, in die ihn beim Hutabnehmen immer die Schulbücher brachten, war doch auch zu komisch. Sie schalt sich selbst, daß sie darüber lachen mußte. Wie gerne hätte sie alles feierlich genommen! Immerhin fand sie es wunderschön, so geliebt und besungen zu werden. Zum ersten Male vermißte sie es, daß sie keine nahe Freundin hatte. Mit Entsetzen erinnerte sie sich an Therese Berger. Es wäre eine Beschmutzung dieser Dinge gewesen, wenn sie sie ihr anvertraut hätte. Nein, mit so etwas hatten ihre Gefühle und auch die Erwins gewiß gar nichts zu tun. Dennoch aber mußte sie immer wieder an die Worte denken, die Therese zu ihr gesprochen, und an die grausige Welt, vor der sich einen Augenblick der Vorhang gelüftet hatte. Oder sollte sie sich gar Elisabeth Schlosser anvertrauen? Um Gottes willen, wenn die davon etwas wüßte! Die stand ja hoch und unnahbar über solchen Dingen.

Am Nachmittag konnte sie kaum erwarten, Erwin zu sehen. In den letzten Tagen hatten sie den Heimweg immer mehr ausgedehnt. Da Frau Sanders um diese Zeit ausging, blieb Melys Fernbleiben unbeachtet. Erwin war blaß, als er ihr entgegenkam. »Wie leidenschaftlich muß er mich lieben,« dachte sie und sie nahm sich ernstlich vor, diese schönen Gefühle zu erwidern. Nachdem sie in eine etwas stillere Straße gelangt waren, fragte er fieberhaft:

»Hast du's gelesen?«

»Ja.«

Seine Augen schienen sie verschlingen zu wollen, und sie fühlte, wie wundervoll das war, diesen Augenblick auszudehnen und ihn noch eine Zeitlang in Unkenntnis über ihre Meinung zu lassen. Dann tat er ihr leid, weil er so zitterte, aber sie sagte doch nichts und freute sich heimlich.

»Nun,« drängte er, »haben dir die Gedichte irgendeinen Eindruck gemacht?«

»Ja,« erwiderte Mely langsam, »sie sind wundervoll!«

Und nun weidete sie sich daran, zu sehen, wie diese Worte plötzlich sein starr gespanntes Gesicht lebendig machten, wie seine Augen wieder einen ganz unbefangenen, jungen Ausdruck annahmen und unter einem glücklichen Lächeln seine blanken Zähne sichtbar wurden.

Sie kamen an dem Stadtpark vorbei, einem um die Zeit wenig besuchten Garten, der nur den Abonnenten und ihren Familien geöffnet war. Erwin und Mely waren gewohnt, dort aus- und einzugehen. In der Ferne erklang die Nachmittagsmusik zwischen den rauschenden Wipfeln.

»Komm ein bißchen mit an den Schwanenteich,« sagte er.

Sie war einverstanden. Schweigend gingen sie die sauberen Kieswege. Eine Viertelstunde schlenderten sie an dem Teich umher, starrten die Schwäne an und sprachen kaum. Beide waren etwas gedrückt, sie fühlten, daß irgend etwas gesagt werden müsse. Aber was? Hinter dem Teich befand sich eine künstliche Felsgrotte mit Bänken.

»Setzen wir uns vielleicht dort in die Grotte?« fragte Erwin, fast ganz sicher.

Sie setzten sich in den dämmerigen Raum. Vor dem Eingang spielte die Nachmittagssonne im Gras, man hörte hie und da einen Ruderschlag vom See. Erwin sprach zunächst noch immer nicht. Da durchzuckte Mely ein Gedanke, und sofort sprach sie ihn aus:

»Ich bin sicher, hier hast du schon einmal mit einem anderen Mädchen gesessen, weil du den Ort so genau kennst.«

»Niemals, ich schwöre dir,« erwiderte Erwin und sank vor ihr auf die Knie. »Aber ich habe hier oft allein gesessen und davon geträumt, die künftige Geliebte einmal hierherzuführen, und nun ist dieser Augenblick gekommen.«

Mely kam es vor, als ob sie den plötzlich vor ihr Knienden wirklich sehr gern hätte.

»Erwiderst du eigentlich meine Gefühle?« fragte er plötzlich.

Sie fand keine Worte und blickte auf den erdigen Boden der Grotte, wo ein dünner schwarzer Käfer kroch. Erwin wußte erst nicht, was er nun tun sollte, aber dann erinnerte er sich, gehört und gelesen zu haben, daß das immer so geht: auf solche Fragen gibt ein Mädchen keine Antwort, und er fühlte: das ist der Augenblick, jetzt oder nie. Er gab sich innerlich einen Ruck, um seine Schüchternheit zu besiegen, und wollte Mely auf den Mund küssen.

»Nein, nicht,« sagte sie und wehrte sich.

»Aber Mely,« flüsterte er, »wenn wir uns doch lieben.«

Da hatte er nun eigentlich recht, wenn sie sich liebten, mußten sie sich auch küssen. Das gehörte dazu. So stand es ja auch in allen Gedichten. Nach einiger Zeit des Schweigens versuchte er wieder einen Kuß, und sie wehrte sich nur noch zum Schein.

»Wir lieben uns doch,« sagte er wieder.

Ja, sie liebten sich doch. Was war das anderes als Liebe, dachte sie, und schließlich ließ sie sich küssen; aber sie hörten Tritte und mußten sich bald entfernen.

Von jetzt ab gingen sie täglich in die Grotte und blickten durch die Gräser, die davorstanden, auf den in der Nachmittagssonne glitzernden See mit den grünen, hügeligen Ufern darum. Sie fand das Küssen ganz schön, aber wenn sie abends im Bett lag, dann war ihr doch oft, als sei das nicht richtig, auch mußte sie immer wieder lächeln, wenn sie daran dachte, wie verliebt Erwin in sie war. Es gefiel ihr, und sie machte es mit, aber manchmal warf sie sich vor, daß es sich eigentlich nicht gehörte. Anfangs mochte sie sich nicht gestehen, daß sie ihn gar nicht liebte, sie wollte das Traumbild wach erhalten, eine wahre Liebe zu fühlen, aber dann brach die Wahrheit zu deutlich hervor. Sie konnte nicht anders, sie mußte Erwin manchmal ein bißchen necken und ärgern. Es kam ihr vor, als ob er sie für sich ganz in Beschlag legen, gewissermaßen als zu ihm gehörig betrachten wolle, und dagegen wehrte sich etwas in ihr. Er rechnete ganz sicher damit, daß sie ihn ebensosehr liebe, wie er sie. Das reizte sie zum Widerspruch. Sie eilte sich nun bald nicht mehr so sehr, ihn zu treffen, schwatzte oft noch eine Zeitlang mit den Freundinnen. Anfangs machte er ihr keine Vorwürfe, sondern sah sie nur mit schmerzlichen Augen an. Ihre Ankunft freute ihn so, daß er allen Aerger über das lange Warten im Augenblick vergaß, wenn sie schließlich kam. Nun reizte es sie, einmal zu erproben, wie lange er wohl warten würde. Einmal kam sie eine halbe Stunde zu spät, und nun machte er ihr Vorwürfe. Jetzt gefiel es ihr, ihm zu widersprechen. Sie müsse doch aufpassen, daß man sie nicht sähe, überhaupt, es würde schon über sie geschwatzt; ihre Unterlippe schob sich vor und in ihrem Gesicht lag eine Mischung spielerischer Schnippigkeit und ernster Entschlossenheit. An manchen Tagen hatte sie aber auch gar keine Luft, sich küssen zu lassen, dennoch freute es sie, wenn er sie darum anflehte. Manchmal fand sie nun auch Gedichte von ihm schlecht. Das sei doch immer wieder dieselbe Leier, behauptet sie sogar eines Tages. Dann versuchte er ein verzweifeltes Hohnlachen, dem sie sich aber überlegen fühlte. Kurz, sie gewöhnte sich an ihn und seine Ergebenheit und schließlich bekannte sie sich offen, daß das alles nur eine Spielerei war, nicht die wahre Liebe. Ueberhaupt ein Gymnasiast! dachte sie.


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