Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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7

Frau Sanders und ihre Kinder fuhren im Zug durch grünes Hügelland; bald erschienen die riesenhaften, tief beschneiten Formen des Hochgebirges, welche die noch leidende, an die milden Linien des deutschen Mittelgebirges gewöhnte Mely geradezu erschreckten, so daß sie das Köpfchen in ihr weiches Reisekissen vergrub, und schließlich kamen braune, laublose Höhenzüge, auf den Gipfeln noch sonniger Schnee, etwas tiefer bisweilen die schwarzen Flecken immergrüner Haine um flache helle Häuser, dazwischen die blauen Flächen der italienischen Seen, in denen sich Berge spiegelten mit weißen, im Lichte eines klaren Himmels flimmernden Firnen.

Die südliche Umgebung machte Mely anfangs schwermütig, sowie mancher leuchtende Frühlingstag zu Haus. Ein nachmittäglicher Spaziergang von einem Seeufer aus in die Einsamkeit zwischen starren Bergformen griff sie derart an, daß sie sich vor dem drohenden Umriß eines sich plötzlich schwarz erhebenden Felsens erschreckt umkehrte. Dazu kam das Rauschen eines unsichtbaren Wasserfalls, der plötzlich tödliche Kühle über die Straße hauchte. Mely konnte sich kaum aufrechterhalten. Am Wege stand ein einstöckiges Steinhaus mit der Aufschrift: »Osteria di campagna«. Dort kehrt« Frau Sanders mit ihren Kindern ein und verlangte für Mely etwas gewärmten Rotwein. Eine nicht mehr junge, doch keineswegs reizlose italienische Frau bediente mit einem üppigen Lächeln der stark geschwungenen Lippen und einer weichen Grazie, die Hermann sehr auffiel. Er schien sie geradezu mit den Augen zu verschlingen. Sie merkte es und streifte manchmal so dicht an ihm vorbei, daß ihre brünette fleischige Hand ihn berührte. Der Raum war öde, weit und eiskalt. Verschimmelte giftgrüne Landschaften waren auf die Wände getüncht. Die Berge schienen hier die Sonne immer abzuhalten. Die Sanders waren die einzigen Gäste in dem unwirtlichen Saal, in dem lange Holztische mit Bänken standen. In einem Nebenzimmer belustigte ein Harmonikaspieler ein paar Soldaten. In ihrem ganzen Leben hatte Mely nie eine so tiefe Trauer empfunden. Und das war nun Italien! Sie erklärte nach ein paar Schlücken Wein, nur um hier möglichst schnell hinauszukommen, sie sei wieder ganz erholt.

Anfang April kam Frau Sanders mit ihren beiden Kindern in der Rivierapension an, die man ihr empfohlen hatte. Der Kurort lag am Meer in einem Halbkreis kupferbrauner Berge, deren Fuß mit Oliven dünn bewaldet war. In den Anlagen standen Zedern, Palmen, Magnolien, Zypressen, Oleander. Es gab einige Schwindsüchtige, die, in Mäntel gehüllt, in der schon recht heißen Sonne saßen, Spucknäpfe standen neben ihnen. Andere Kranke wurden in Stühlen umhergefahren. Alles dies wirkte in der zauberischen Landschaft doppelt traurig. Um den kleinen Ausschnitt einer gepflegten Welt aber lag das abenteuerliche, italienische Städtchen mit seinen unheimlichen steinernen Gassen, dunklen Tunnels und gewölbten Bogengängen, die wie Stollen in das Innere der geheimnisvollen Berge zu führen schienen. Frau Sanders und Mely graute vor alledem, und so waren sie anfangs auf den Aufenthalt unter den Orangenbäumen und zwischen den Zitronenspalieren des Pensionsgartens und auf kleine Spaziergänge beschränkt, während Hermann oft allein in den Bergen herumstreifte, um, wie er sagte, wichtiger Fragen wegen in sich Einkehr zu halten. Er war sich noch nicht darüber klar geworden, was er eigentlich studieren wollte. Theologie? Die hielt er längst für Unsinn. Philologie? Davon hatte er fürs erste auf der Schule mehr als genug bekommen. Medizin, das war vielleicht ganz interessant, aber er konnte keine Leichen sehen und entsetzte sich vor dem Anatomiesaal. Juristerei? Nein, das war zu trocken und förmlich, als Jurist hatte man ja nichts als Rücksichten auf die Gesellschaft und die Vorgesetzten zu nehmen; das wußte er von Kurt, der inzwischen Referendar geworden war und vor der Assessorenprüfung noch einmal eine ähnliche Schufterei durchzumachen hatte, wie vor dem Abiturium.

Nein, er wollte frei sein, unabhängig, sein persönliches Leben führen, wie er es nannte, und der ganzen Gesellschaft mit ihren konventionellen Rücksichten ins Gesicht schlagen. Er dachte auch an Philosophie, obwohl er nicht ganz genau wußte, was er eigentlich von dieser Wissenschaft wollte. Die Mutter hätte am liebsten gesehen, daß er, wie Kurt, die Rechte studierte. Hermann ahnte, daß sie mit diesem darüber Briefe gewechselt hatte, und das ärgerte ihn. Ueberhaupt, so wie Kurt wollte er auf keinen Fall werden. Ein Trotz stieg in ihm auf, wenn er bloß an Kurt und seine männliche Ueberlegenheit dachte. Wenn der Bruder in den Ferien kam, konnte er sich immer weniger mit ihm verstehen. Das war ein phantasieloser, kalter Mensch, meinte Hermann, ein Streber.

Am Abend des Ostermontags erklärte Hermann plötzlich, als habe ihn jemand tief gekränkt:

»Ich halte die Familiensimpelei nicht mehr aus. Ich werde noch irgendwo ein Glas Wein trinken gehen.«

Die Mutter erschrak.

»Aber Hermann,« sagte sie, »Wein kannst du doch auch hier haben.«

»Das ist es nicht, ich brauche ein anderes Milieu.«

Trotzig nahm er seinen Hut und ließ die ängstliche Mutter und die Schwester in bangem Staunen zurück. In einer Osteria trank er etwas von dem herben Landwein, der ihm gar nicht schmeckte. Eine hübsche Person, die an jene von neulich erinnerte, doch jünger und herber war und ihn lange nicht so vertraulich anlächelte, sagte in gebrochenem Deutsch:

»Wir schließen in zehn Minuten, Signorino, dann gehen wir alle zum Tanzen, viele Deutsche sind da.«

Hermann ließ sich mit durch die dunklen, stollenartigen Gassen ziehen, umgeben von lauter fremden jungen Leuten, die zu ihm italienisch sprachen, wovon er nur einzelne Worte verstand. Sie machten ihm einen ganz anständigen, wenn auch nicht sehr gebildeten Eindruck in ihrem Sonntagsstaat. In einem rosa getünchten Saal, an dessen einer Wand der Golf von Neapel mit dem Vesuv gemalt war, wurde getanzt. Die Weiber sahen wie Dienstmädchen aus. Nur hatten sie sehr viel feurigere Augen als daheim. Seine Führerin setzte ihn zu einigen blonden Herren, von denen jeder so ein hochbusiges, braunes Mädchen bei sich hatte. Sein Nachbar sprach ihn in ausgesprochen sächsischem Dialekt an. Er sei Kellner im Hotel Beaurivage, ob Hermann auch in Stellung sei.

»Ich bin Student,« erwiderte er etwas verschämt.

Der andere zeigte dann nicht mehr viel Redelust und sprach zu seiner Gesellschaft hinüber. Die Männer redeten deutsch, recht gemein, wie Hermann schien. Immer wollten sie die Mädchen anfassen. Diese ließen sich's aber um keinen Preis gefallen, schlugen ihre Begleiter oft recht unsanft auf die Hände, lachten dann aber wieder mit ihnen und ließen die schwarzen Augen blitzen, bis jene wieder Berührungen versuchten. Dazwischen sprachen die Männer von ihrem Beruf, einer prahlte, wieviel Geld er in London verdient habe. Ein anderer pries Aegypten. Die erlebnisreiche Buntheit dieses Daseins machte Hermann großen Eindruck, und die Mädchen verwirrten sein Blut. Der in Aegypten war, erzählte von einem Abenteuer mit einer Araberin, die eine rehbraune Haut gehabt habe.

»Da ist's freilich leichter als hier, du legst ihr zwei Schilling hin, und . . . die Passage ist frei.«

»Die Passage ist frei,« lachten die anderen; nun wollten die Mädchen den Spaß übersetzt haben, und darauf folgte wieherndes Gelächter.

Hermann trank weiter von dem schweren Wein. An dem Nebentisch war ihm eine unheimliche Gruppe aufgefallen: ein Mann mit blondem Vollbart wie ein Lehrer, aber offenbar sehr herabgekommen, flüsterte mit zwei jungen Bengeln. Sie kamen Hermann wie geheime Verbrecher vor. Auf einmal rückten sie mit ihren Gläsern herbei und setzten sich zu ihm. Hermann hatte ein bißchen Angst, gleichzeitig machte ihn der Wein schwer und dumpf. Der Mann sprach auf ihn ein, er verstand gar nicht alles. Es war ihm sehr widerlich, wenn er ihm zu nah kam, und er seinen alkoholischen Atem roch. Hinter dem Rücken des Mannes gaben die zwei Bengel Hermann Zeichen mit den Händen, als machten sie sich über den Sprechenden lustig, oder als sei der nicht recht bei Trost.

». . . Ich bin ein Von . . . ein Von,« verstand Hermann immer, ». . . ich kriege soviel Geld als ich will . . . in jeder Stadt . . . der Adel hält zusammen . . . wir fechten uns so durch . . . hahaha . . . und immer ist's kreuzfidel . . . kommen Sie mit, probieren Sie's . . . vor einem jungen Burschen wie Sie liegt die Welt offen.«

Er war Hermann immer näher gekommen, und nun legte er ihm seine Hand auf das Bein und tätschelte ihn. Hermann sprang erschreckt auf. Alles schaute nach ihm. Der Mann war offenbar auch erschrocken. Hinter seinem Rücken krümmten sich die zwei Bengel vor Lachen und schlugen sich immer wieder auf die Knie. Plötzlich wendete sich der Mann streng zu ihnen und rief:

»Was gibt's denn da? Wir gehen zu Bett, marsch.«

Und alle drei verließen den Raum.

»Eine schöne Sippschaft,« rief einer der Kellner.

»Der spielt Kümmelblättchen,« sagte ein anderer, »immer hat er Karten bei sich, und den zwei Burschen bringt er die Kunst bei.«

»Ein Hundertfünfundsiebziger,« bemerkte einer.

Hermann kam, von alledem ganz benebelt, nach der Pension zurück.

Mely erholte sich unter der Rivierasonne zusehends. Körperlich war sie nun wieder ganz gesund. Bald aber wurde das Wetter schlecht, sie verfiel in traurige Stimmungen, während sie stundenlang in der offenen Halle des südlichen Gartens, in Decken gehüllt, ausgestreckt lag, und der Regen unaufhörlich auf das Blechdach fiel. Sie beklagte sich bei der Mutter, daß es für sie gar nichts Schönes gab, woran sie hätte denken, worauf sie sich hätte freuen können, während Hermann nun voll Erwartungen der Universitätszeit entgegensah. Was sollte mit ihr geschehen, wenn sie nach Hause kamen? Wieder ein Sommer mit Tennisspiel? Wieder das Flirten, die lärmenden Ausflüge mit Tanzereien? Mely fühlte eine trostlose Leere in sich. Was sollte werden? Das Leben sei doch eigentlich langweilig. Sie gähnte den ganzen Tag und war schwer und matt. Die Mutter wurde wieder besorgt um sie. Der Arzt empfahl Zerstreuung, etwa einen Ausflug von ein paar Tagen in das nahe Genua.

Frau Sanders und ihre beiden Kinder traten also die Pilgerfahrt an durch die Paläste und die Kirchen der prächtigen Hafenstadt. Hermann spielte den Reisemarschall. Er las aus dem Bädeker vor, aber Mely beschämte ihn oft, denn hin und wieder fiel ihr vor Bildern und Bauten etwas aus ihrem kunstgeschichtlichen Unterricht ein. Sie wußte, an welchen Zeichen man den Barockstil erkennt und woran man sehen kann, daß auf Rubens Italien Einfluß gehabt hat. Hermann machte das großen Eindruck. Es gewährte ihm Genugtuung, gegenüber der Fülle der Erscheinungen, die auf ihn eindrangen, durch Mely ein paar Richtlinien zu bekommen, um Stile und Jahrhunderte, Schulen und landschaftliche Abgrenzungen zu unterscheiden. Wenn man z. B. eine Barockkirche gesehen und als solche erkannt hatte, war es doch sehr befriedigend, daß man dann eine andere leicht erkennen konnte, auch Barockpaläste gab es und sogar eine barocke Art der Gartenkunst. Im Gegensatz dazu erinnerte ihn Mely wieder an die traulichere Gotik daheim, die sich in dem festlichen Italien lange nicht so stark entwickelt hatte. Das heimatliche Leben war bürgerlich und eng, das italienische heiter und großzügig, und das äußerte sich auch im Baustil. Solche Erkenntnisse fand Hermann sehr geistvoll und tiefgründig. Auf der Schule war einem so etwas nicht gesagt, wohl mit Absicht verschwiegen worden. Diese neuen Kategorien beschäftigten ihn nun sehr, und was ihm dabei besonders gefiel, war die Leichtigkeit, mit der man solche Dinge erfassen konnte, wenn man überhaupt einigen angeborenen Sinn für Kunst besaß, und daß sie einen in gar keine unangenehme Berührung mit Menschen, weder mit Leichen, noch mit Vorgesetzten brachten, wie die Medizin und die Jurisprudenz. Mit Ueberzeugung und Glauben hatte es auch nichts zu tun, und es war viel einfacher zu verstehen, als die Philosophie.

Als sie eines Mittags zusammen in einem italienischen Speisehaus aßen, in das Mely durchaus hatte eintreten wollen, weil so wundervolle Paradeisäpfel in der Auslage zu sehen waren, rief Hermann plötzlich wie in einer Eingebung:

»Wißt ihr was? Ich studiere ganz einfach Kunstgeschichte. Da kann ich reisen und bin ein freier Mann.«

»Aber Junge, was kannst du denn da werden?« fragte die Mutter besorgt.

»Museumsdirektor.«

»Aber so viele Museen gibt es doch gar nicht.«

»Und Professor an einer Universität.«

»Weißt du, Hermann,« meinte Frau Sanders harmlos, »ich will einmal darüber an Kurt schreiben und hören, was der dazu sagt.«

»Ach, wenn du das schon tust, der ist sicher dagegen.«

»Das glaube ich auch,« sagte Mely, in der inzwischen auch ein Plan gereift war.

Sie scheute sich aber, davon zu sprechen. Als sie nach einigen Tagen wieder im Garten der Pension saß, nahm sie eine Photographie nach einem Gemälde vor, das sie in einem der genuesischen Paläste gesehen hatte. Es war von van Dyck und stellte eine glatt gescheitelte Dame mit feinem Gesicht und an den Ohren gekräuseltem Haar dar. Vor dem Bild war ein junges Mädchen mit Madonnenscheitel an einer Staffelei gesessen. Aus ihren weichen braunen Augen hatte sie einen freundlichen Blick auf Mely geworfen, als diese von weitem schüchtern ihrer Arbeit zuschaute. Das war die erste richtige Malerin, die Mely zu sehen bekam. Am Ende war sie aus München. Dieses Mädchen und seine Arbeit fesselten sie mehr als alles, was sie sonst in Genua gesehen hatte, und sie brannte darauf, zu versuchen, ob sie nicht vielleicht doch eine ähnliche Gabe in sich entdecken könne, denn die Malerin sah in gar keiner Weise anders, etwa gescheiter oder großartiger aus als die jungen Mädchen, die sie bisher gekannt hatte. Auch ihr hatte doch das Zeichnen immer viel Spaß gemacht. Sie versuchte nun, die Photographie abzuzeichnen und war überrascht, wie leicht es ihr gelang. Ihre Schüchternheit schwand während der Arbeit, sie hoffte sogar, jemand würde sie dabei überraschen. Zuletzt schrieb sie schräg in die Ecke mit einem kühnen Schnörkel: Mely Sanders. Als Hermann kam, gefiel ihm die Arbeit sehr gut. Er sagte, sie müsse das Wort »fecit« neben ihren Namen setzen; sie tat es, nachdem er ihr die Bedeutung erklärt hatte. Die Mutter war selbstverständlich entzückt, zumal als sie sah, wie günstig diese Beschäftigung auf Melys Zustand einwirkte, deren Wangen seit der Rückkehr von Genua wieder eine gesunde Röte angenommen hatten.

Mely war nun so weit hergestellt, daß sie manchmal mit Hermann zusammen in die Berge ging, während Frau Sanders einer sich leise bei ihr andeutenden Herzschwäche wegen das Steigen vermeiden und zurückbleiben mußte. Die beiden jungen Leute streiften unter natürlichen Lorbeerlauben oder durch die dunklen Pinien- und grauen, durchsichtigen Olivenwälder, rasteten auf den kahlen Bergrücken, zu ihren Füßen das nachmittägliche, halbinselreiche Meer, durchzogen die grauen, ruinenhaften Felsendörfer.

Eines Nachmittags saßen sie vor einer Osteria im Gebirg im blauen Schatten der Zypressen, deren uralte, verwitterte Stämme im staubigen Erdreich standen und aussahen wie die versteinerten Glieder aus einer Vorwelt übriggebliebener Elefanten. Sie tranken den herben, trockenen Rotwein und waren voll von ihren Plänen. Mely wollte nun unbedingt Malerin werden, und die Mutter hatte wenigstens erlaubt, daß sie zu Hause die städtische Kunstschule zum Zwecke ernstlichen Unterrichts besuchen dürfe.

»Jetzt kommen wir endlich aus der Philistrosität heraus,« rief Hermann und schwang sein Stöckchen durch die Luft, daß es pfiff.

»Du besonders,« erwiderte Mely, »du kommst hinaus auf die Universität, aber ich kann immer daheimbleiben. Ich ahne schon, ich werde niemals München sehen.«

»Das ist nicht gesagt. Ich werde doch sicher einmal in München studieren, und dann läßt dich die Mama vielleicht hinkommen. Du lebst in einer Pension.«

»Aber ich kann doch die Mama nicht allein lassen.«

»Vielleicht kriegen wir sie dazu, daß sie mit nach München zieht.«

»Das wäre fein,« rief Mely plötzlich aufstehend und umherhüpfend. Da entdeckte sie im Gras eine handgroße Schildkröte. Sie hob sie auf und setzte sie auf den Tisch. Das schwerfällige Tier kroch zu Hermann hinüber, der ihm den Finger entgegenstreckte.

»Aber nein, die Mama kann doch wieder nicht die Großmama allein lassen,« meinte nun Mely besorgt.

»Ach, die Familie,« seufzte Hermann, »ewig die Familie! Man trägt sie an sich, wie die Schildkröte ihre Schale. Diese ewigen Rücksichten, man erstickt förmlich.«

»Aber du doch nicht,« spottete Mely, »nur wir armen Mädchen und Frauen sind solche Schildkröten, die nicht aus dem Gehäuse können, ihr Buben kommt doch hinaus in die Welt.«

Mely nahm die Schildkröte, die sich ganz in ihre Schale zurückzog, wieder in die Hand.

»Ein langweiliges Tier,« sagte sie, »man weiß gar nicht, was man damit anfangen soll, man kann es nicht einmal streicheln.«

In diesem Augenblick sah man unter den Bäumen, wie die Nachmittagssonne die Fläche des Meeres berührte.

»Sieh nur diese Stimmung,« rief plötzlich Mely, »wenn man das malen könnte.«

Dabei machte sie mit der Hand ein paar Bewegungen in der Luft, als seien ihr schon alle Werkstattgeheimnisse bekannt, und als brauche sie sich bloß an die Leinwand zu setzen, um zu beginnen. Hermann hatte indes verträumt unter das Gehäuse der Schildkröte geblickt, die ihren Kopf aber nicht mehr herausstreckte. Dann steckte er das Tier in die Tasche, und beide gingen zusammen den Abhang hinunter nach der Pension zurück.


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