Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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14

Die Herzbeschwerden der Mutter nahmen zu. Sie wurde dicker, rote Flecken zeigten sich bei der kleinsten Erregung auf ihrem schmalen Gesicht und sie erregte sich nun über alles, über die Ankunft von Mme. Sanders, wie über ihr Ausbleiben, über die Briefe Hermanns, der in Leipzig studierte, und über Amélies Verstimmungen. Wegen des Verhältnisses zu dem Baron beunruhigte sie sich nicht. Sie vermochte es nicht zu übersehen und dachte kaum darüber nach. Im Laufe des Winters gewöhnte sie sich das Ausgehen ab, sie wurde immer schlaffer und bleicher, lag viel im Bett und wurde eines Morgens von der alten Lene tot gefunden. Die Alte war nicht allzu überrascht, sie hatte das kommen sehen. Sie blickte ihre wie schlummernd daliegende Herrin an, und ihr klarster Gedanke war, daß sie wenigstens nicht gelitten habe. Sie schlich in die Küche und flüsterte der Köchin zu:

»Luis', die Madame ist gestorwe.«

Die Köchin, die mit der Familie nicht verwachsen war, empfand nicht mehr als den gewöhnlichen Schrecken, der einen bei einer solchen Nachricht überfällt. Amélie war in der Malstunde. Nur langsam stieg in der alten Lene eine dunkle Traurigkeit auf, und sie wischte sich ein paar Tränen von den harten, vertrockneten Wangen. Aber sofort fühlte sie sich wieder als die treue Schaffnerin. Ihr einfacher Kopf ordnete klar an, was geschehen müsse. Sie hatte ja auch einst den gnädigen Herrn sterben sehen. Schnell ließ sie den Arzt kommen und schrieb Telegramme: »Frau Sanders schwer erkrankt, gleich kommen, Lene,« an die Adresse der Großmutter und an die beiden Söhne und schickte die Köchin damit zur Post. Sie selbst wollte Amélies Ankunft abwarten, um das Kind vorzubereiten. Dabei vergaß sie nicht, nach dem Essen zu sehen, denn in den schweren Tagen, die bevorstanden, mußte man sich ordentlich nähren. Hie und da trocknete sie sich schnell und heimlich die Augen und schluchzte einen Augenblick leise auf. Auch telephonierte sie gleich an Metzger, Kolonialwarenhändler und andere Lieferanten sowie an eine Aushilfsfrau, damit die beiden jungen Herren bei ihrer Ankunft ihre Bequemlichkeit fänden, wie es Frau Sanders selbst gewünscht hätte, wäre sie noch am Leben. Die Köchin kam von der Post zurück. Sie wollte die Tote sehen. Die Erregung, die dieser Anblick der derben, kurzbeinigen Person gewährte, erweckte alle ihre Lebensgeister. Mit glühenden Wangen folgte das sonst querköpfige Geschöpf den Anordnungen Lenes, gegen die sie immer einen schweigenden Widerstand geleistet hatte, lief treppauf, treppab, hatte in einem fort irgend etwas zu fragen, schaute in den Keller, räumte die Fremdenzimmer ein, auch vergaß sie nicht, ihr schwarzes Kleid herzurichten; das Leben war ihr wie zu einem Feste gesteigert.

Amélie kam nach zwölf nach Hause. Lene öffnete ihr ernst die Tür, sie trug schon ihr enges, schwarzes Kleid um die magere Gestalt.

»Was ist denn los?« fragte Amélie, »ist jemand da?«

»Komm erst herein, Kind.« Im Zimmer fuhr sie fort: »Die Mama ist nämlich heute morgen sehr krank geworden.«

Amélie erriet alles. In furchtbarem Schrecken rief sie:

»Sie ist tot, ich weiß! Wo ist sie?«

Sie brach in ein schreiendes, verzweifeltes Schluchzen aus.

»Sie liegt noch im Bett, wie ich sie heute morgen gefunden habe,« sagte Lene leise, als täten ihre Worte dann weniger weh.

Amélie stürzte ins Schlafzimmer.

Die Mutter war wie aus gelbem Wachs. Sie sank vor ihr nieder und weinte und weinte. Lene und der Köchin war es nicht möglich, sie zu beruhigen und sie zum Essen zu veranlassen. Sie wollte allein bei der Mama sein. Ihr war, als sei sie an einem Ort, wo sie noch nie gewesen, herausgerissen aus allem, und sie wimmerte unaufhörlich, fast mechanisch, denn oft schwand ihr ganz das Bewußtsein des Geschehenen. In diesem Zustand blieb sie bis drei Uhr. Sie hörte die Stimme und die Schritte der Großmama auf dem Vorplatz. Da erfaßte sie plötzlich ein eigentümlicher Zorn. Sie wollte die Großmama nicht in ihren Schmerz blicken lassen, aber schon stand Mme. Sanders neben ihr. Auch sie weinte leise, beugte sich über die Tote. Dann legte sie ihre alte gepuderte Hand auf Amélies Haar und flüsterte mit tränenerstickter Stimme:

»Ma pauvre enfant, was soll denn jetzt werden?«

Amélie sog das ihr bekannte leise Parfüm der Großmama ein, und das kam ihr auf einmal so vertraut vor. Langsam ließ sie sich durch den Schmerz der Großmutter, den sie in ihrer Vorstellung von ihr nicht erwartet hatte, versöhnen. Sie war sogar zu bewegen, eine Tasse Tee zu trinken und etwas zu essen, aber als sie der alten Frau an dem Tisch gegenübersaß, wo sie seit längerer Zeit jede Mahlzeit, noch das gestrige Nachtessen allein mit der Mutter genommen hatte, da überkam sie ein solches Gefühl des Schmerzes und der dauernden Verlassenheit, daß ihr die Bissen in der Kehle steckenblieben.

Nachmittags kamen einige Bekannte. Mme. Sanders empfing sie. Amélie war völlig teilnahmlos. Es war ein fortgesetztes Kommen und Gehen. Die Leichenwäscherin erschien. Die Tote wurde in das schwarze Seidenkleid gehüllt, in dem sie manche Ballnacht Amélie zuliebe gewacht hatte, und mitten im Schlafzimmer aufgebahrt. Sie lag bleich und fast schön da. In ihrer Zierlichkeit erschien sie wie eine junge Frau. Ueber ihrem gelben Gesicht war eine sinnende, tiefe Ruhe, die der kleinen, stets zu beweglichen Frau sonst im allgemeinen nicht eigen gewesen war. Amélie saß wieder lange bei ihr, bald weinend, bald mit geschwollenen Augen die Tote anstarrend. Kurze Augenblicke dachte sie:

»Wer weiß, vielleicht ist sie doch nicht tot und schlägt ihre Augen wieder auf, vielleicht ist sie nur bewußtlos.«

Sie dachte an Fälle von Scheintod und Lebendigbegrabenwerden.

Dann machte sie sich bittere Vorwürfe, daß sie die Mama nicht lieb genug gehabt hatte und besonders in der letzten Zeit so oft mürrisch gegen sie gewesen war. Oh, wenn sie doch wieder die Augen aufschlagen wollte, jetzt würde sie wahrhaftig anders zu ihr sein, jetzt, wo sie wußte, was sie an ihr gehabt hatte.

Lene machte einen Versuch, Amélie ihrem Schmerz zu entreißen. Der Baron Wietersheim sei dagewesen und habe nach ihr gefragt. Ein entsetzliches Gefühl stieg in Amelie auf, als sie diesen Namen hörte. Sie merkte, daß etwas Böses, Zähes, wie eine Lavawelle über einer Stadt, sich ihrem Schmerz näherte und ihn ersticken wollte. Wut erfaßte sie. Sie beschloß, diesen reinen Schmerz gegen den Schlamm, in dem sie bisher gelebt hatte, zu verteidigen. Dann stieg eine tiefe Verachtung und ein Hohn in ihr auf, die ihr gleichzeitig die Kraft gab, sich gegen die andrängende Gestalt Erichs zu wehren, und einen Augenblick wurde sie ganz klar und kalt und dachte: »Den gibt es auch noch?«, obwohl sie erst vor vierundzwanzig Stunden in seinen Armen gelegen war. Heute nachmittag sollten sie sich wieder im Atelier treffen. Wie ein schleimiger Molch erschien er ihr, den man zertreten müsse. Nach einiger Zeit kam Lene wieder und sagte, der Baron würde morgen früh noch einmal kommen. Erschreckt griff Amélie nach Lenes Hand.

»Nicht hereinlassen, hörst du, Lene? Er darf nicht herein!«

»Aber Mely,« sagte Lene, »ich begreife dich nicht, das kannst du ihm nicht verbieten. Alle Bekannten werden die Mama noch einmal sehen wollen, und sie sieht ja doch auch so gut aus.«

»Oh, Lene, wenn du ihn hereinlaßt!« schrie Amélie laut.

»Beruhige dich doch; wenn du nicht willst ...« begütigte die Alte erschreckt.

»Nein, es darf nicht sein, hörst du, Lene? Du versprichst es mir.«

Sie versenkte sich mit einer Art Wollust in diesen neuen, tiefen Schmerz, der sie von dem Widerlichen, in dem sie zuletzt gelebt, durch seine Kraft befreite. Auch Lea wollte sie nicht sehen. Was lag ihr jetzt noch an Freiheit und Persönlichkeit? Das Verlogene und Leblose all dieses Geschwätzes wurde ihr halb bewußt, und sie nährte ihre abgegriffene und abgeblaßte Seele an dem reinen, echten Gefühl kindlicher Trauer, zu dem sie sich fast mit Freude noch fähig fühlte.

In der Nacht träumte sie, draußen vor dem Hause säße ein dicker Ochsenfrosch, er wurde immer größer und größer, bis sein scheußlicher Kopf an das erste Stockwerk reichte und in das Totenzimmer hereinblickte. Als Lene mit einem Besen auf den Frosch losging, zerplatzte er mit einem lauten Knall.


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