Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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33

Noch in dem Café hatte der Fürst seine Bekannten aufgefordert, mitzunehmen, wen sie wollten, denn er wollte heute nacht das »Tirol« voll von Menschen haben. So kam es, daß dort bald ein dichtes Gedränge von Kostümierten Stühle und Bänke besetzte. Nicht alle konnten Sitzgelegenheiten finden und manche Gruppen lagerten am Boden, während der Fürst am Herd selber den Punsch bereitete, von ein paar der Mädchen unterstützt, die Gläser herbeiholten und Wasser ans Feuer setzten. Außer den vorher schon im Kaffeehaus am Tisch Sitzenden hatte sich auch Fräulein Anne-Marie Hösgen eingefunden, sowie Bettina Selch in Begleitung eines sehr sonderbar aussehenden, aber tadellos gekleideten Kavaliers, an dem Hermann sehr bald das unverkennbare Antlitz des Maxl entdeckte. Vom Kutscher des kirschroten Coupés war er offenbar, wie sich aus seinem zärtlichen Verhalten schließen ließ, zum Herzensfreund der Besitzerin aufgerückt. Er trug Frack, sie eine kostbare, helle Ballrobe mit tiefem Ausschnitt. Beide kamen sich sichtbar distinguiert vor in der Gesellschaft, die großenteils nur in bunte Fetzen gekleidet war.

Bald dampfte der Punsch in den Gläsern. Anne-Marie predigte mitten in dem Lärm der Halbtrunkenen, das Leben müsse ein Fest sein, und die freie Liebe sei der dazugehörige Kult.

»Ich schwärme für das achtzehnte Jahrhundert, für das Rokoko,« rief die Baronin Wernitz, »da gab es keine freie Liebe, aber wer den Teufel im Leib hatte, der wußte sich schon zu helfen.«

»Oh, die Baronin ist anbetungswürdig,« rief plötzlich Fürst Kraminsky, der ihr stehend zugehört hatte. »Trinken wir auf den Teufel im Leib!«

Darauf erhob er sein Glas, ging auf die Baronin zu, die verbindlich lächelnd mit ihm anstieß. Bettina hatte dem Gespräch nicht ganz folgen können. Sie bat daher den Maxl um eine Erklärung, und dieser erklärte ihr, was er verstanden hatte:

»Jo, sie sogt halt, das 's nix is mit die freie Liab', aber baldst den Teifi im Leib hast, nacha fangt erscht die Gaudi an.«

»Des is gut, des is gut,« rief Bettina, »jo den Teifi im Leib hab'n, des is d' Hauptsach'. Prost, Frau Baronin.«

»Prost,« rief der Maxl, »prost prost; Frau Baronin san – derf i 's sogen, ja derf i? Frau Baronin san wirklich a Urviech.«

Man brach in lautes Gelächter aus und dem Maxl sein Mund zog sich von einem Ohr zum anderen.

»Ich begreife das Wort ›verführen‹ gar nicht,« rief Anne-Marie in eifrigem Gespräch mit ihrem Partner, »das moderne Weib läßt sich nicht verführen, es schenkt sich aus freier Wahl.«

Da sang plötzlich der Maxl mit seliger Stimme:

»Sie laßt sich net verfiehra, dazu ist sie zu schlau.«

»Naa, zu dumm,« rief Bettina in plötzlicher Erleuchtung.

»Auch recht,« rief der Maxl und begann von neuem:

»Sie laßt sich net verfiehra, dazu ist sie zu dumm ...

Ja, wie geht's halt weiter? Dazu ist sie zu dumm ...«

»Warten Sie,« rief Oesterot, sah, auf Inspiration wartend, in die Luft, und suchte einen Reim auf dumm.

Da sang plötzlich Rittmeier laut:

»Es kann ja nix passiera, knutscht ma' nur so herum.«

»Des is guat, des ist aber wirklich guat,« rief Bettina, die zum erstenmal in ihrem Leben den Vorgang des Dichtens miterlebte. Alles sang nun im Chor die ganze Strophe. Der Maxl sprang auf den Tisch, dirigierte und sagte, er sei der Johann Strauß aus Wien, der heuer am Oktoberfest hier gewesen war. Als der Chorgesang verstummte, lallte er weiter: »Sie laßt sich net verfiehra, na, na, ganz g'wiß net, na, na, na, i hab's ja immer g'sagt.«

Dann senkte er sich plötzlich, immer noch auf dem Tisch stehend, in eine hockende Stellung, dicht vor Anne-Marie, deutete auf sie und platzte heraus:

»Un' doch hat's an Bamsen kriagt, an Bamsen.«

»Ach Bamsen,« sagte Anne-Marie, keineswegs beleidigt, »Sie meinen wohl mein süßes, liebes Kindchen?«

Nun folgte eine Lachsalve auf die andere, während hie und da immer wieder das Thema von der freien Liebe berührt wurde.

»Is ja alles Quatsch!« rief plötzlich die hohle Stimme Moritz Behrents dazwischen, »wenn eene det nötige Jeld hat, denn jiebt's keene freie Liebe, denn wird se einfach von dem jeheiratet, der's am schlausten anfängt.«

Er schaute mit einem bösen Blick auf Amélie, die, dicht an Rittmeier geschmiegt, schweigend mit ihm in einer Ecke saß. Das Paar schaute sich fast unausgesetzt in die Augen, und hie und da drückte Rittmeier einen Kuß auf ihre Lippen. »Nun gerade,« dachte sie und schielte manchmal nach Cornelius, der aber hatte sich absichtlich so gesetzt, daß er ihr den Rücken zuwandte.

»Wer's am schlausten anfängt und noch Knöppe dazu hat, der rejiert die Welt,« fuhr Behrent fort, immer wieder hämisch auf Rittmeier blickend, »und unsereener, 'n armer Künstler, der sich schinden muß von früh bis spät, nischt hat, als sein Talent, der kann dann dasitzen und zuschauen, wie die anderen Herrschaften sich amüsieren, na prost!« Er setzte sein Punschglas an den Mund.

Nun wurde es dem Fürsten zu viel. Mit dröhnender Stimme rief er:

»Schweigen Sie! Sie sind ... wissen Sie, was Sie sind? Wissen Sie es? Ich werde es Ihnen sagen, was Sie sind: Sie sind ein ... Sie sind ...«

Aber offenbar fehlte ihm das deutsche Wort, und er sagte:

»Warten Sie, warten Sie zwei Minuten, dann werde ich Ihnen sagen!«

Er griff unter seinen Sammetflaus, holte sein kleines Wörterbuch hervor, blätterte nervös zwischen den Seiten, während alles schweigend auf ihn sah. Dann rief er plötzlich:

»Nun habe ich es. Sie sind ein ... ein Kuhhirt sind Sie!«

Zunächst ließ das allgemeine Staunen über diesen unerwarteten Ausdruck niemand recht ins klare kommen über die Bedeutung, die der Fürst dem Worte gab. Behrent rief:

»Wat wollen Se denn damit sagen? Kuhhirt? Soll det 'n Schimpfwort sein?«

»Allerdings,« bestätigte der Fürst.

Nun griff Cornelius ein und erklärte:

»Der Fürst meint, der Standpunkt Ihrer Lebensphilosophie sei der eines Kuhhirten.«

»Sehr gut!« rief der Fürst, »sehr gut, so ist es gemeint.«

»Na, und was ist Ihre Lebensphilosophie, Sie Schnopp (snob), Sie Aesthet Sie?« schrie er, zu Cornelius gewendet.

Der lachte auf.

»Jetzt wern's glei' zu raaf'n anfangen,« rief der Maxl und machte eine Bewegung, als wolle er seine Frackärmel über die Ellbogen hinaufschieben. Aber Bettina zog ihn an sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin er sich beruhigte.

»Wissen Se was, Sie?« rief Behrent mit Verachtung Cornelius zu, »ick schlag' Ihnen ein Duell vor, aber keen blutiges, da brauchen Se keene Angst zu haben, 'n janz bequemes Duell, wo es auf nischt weiter ankommt, als daß eener seinen Verstand beisammen hat. Sehen Se da oben det Dambrett stehen? Dat holen wer nu' runter und spielen zusammen Mühle, und wer zuerst den andern dreimal besiegt hat, der darf ihm 'ne Backpfeife jeben.«

Cornelius weigerte sich.

»Na, dann lassen wir die Backpfeife sein,« sagte Behrent, der immer mehr in sich das Bedürfnis fühlte, sich endlich auf einem Gebiete zeigen zu dürfen, wo er die Niederlagen, die er bisher erlitten, wieder wett machen wollte, »also lassen wir die Backpfeife fallen. Spielen wir einfach Mühle, und sehen wir, wer der Jescheitere is und den anderen 'reinlegt.«

»Dann doch noch lieber Schach,« meinte Cornelius.

»Schach spiel ick nich, det is mir zu kompliziert; det is nischt für'n Mann, der den Tag über zu arbeten hat.«

»Sie machen sich 's leicht,« rief Cornelius, »Mühle ist doch ein Spiel für Kinder.«

»Wat? für Kinder?« schrie Behrent, bei seiner tiefsten Empfindlichkeit gefaßt, »für Kinder? Na, probieren wir doch mal, ob det 'n Spiel für Kinder is. Kennen Sie's denn überhaupt?«

»Nein, ich habe noch nie Mühle gespielt.«

»Und da behaupten Se, es wär' für Kinder? Sie wollten sich doch eben mit mir aufs Spielen einlassen?«

»Wenn Sie mir die Spielregeln erklären, wird es für einen alten Schachspieler nicht schwer sein, auch einmal Mühle zu spielen.«

»Na, dat wollen wir aber doch probieren,« schrie Behrent, immer gereizter, »dat wollen wir doch mal probieren. Sie glauben, Mühle kann einer so in fünf Minuten lernen?«

»Wenn er an Schachspiel gewöhnt ist, doch sicher.«

»Na, nu' werden Se aber mal was erleben, Männeken, machen Se aber die Augen weit auf,« rief Behrent über seinen sicheren Triumph frohlockend.

Er nahm das Dambrett von dem Wandregal, stellte lärmend die Hölzer auf und wollte beginnen.

»Gut, ich nehme an,« sagte Cornelius, »aber erst erklären Sie mir die Regeln.«

»Das is wirklich – nehmen Se's mir nicht übel – jelinde jesagt, 'ne Unverschämtheit. Setzt sich hin und will mit'm jewiegten Mühlespieler in drei Minuten spielen können. Na, Se werden ja sehen, Se werden ja sehen.«

»Also erklären Sie die Regeln,« wiederholte Cornelius kurz.

Er fühlte wohl, daß ihn nur die krampfhafte Wehr gegen seinen inneren Schmerz zu einer so voreiligen Herausforderung veranlaßt hatte, aber was schadete es? Wenn er auch besiegt wurde, in Gottes Namen! So war er wenigstens während der nächsten qualvollen Stunde beschäftigt.

Behrent begann nun, sich etwas zu beruhigen und die Spielregeln zu erklären; aber was er sagte, war so verworren, daß Cornelius immer wieder Fragen stellen mußte, um das Notwendige zu erfahren. Behrent gab unliebenswürdig Antwort:

»Na ja, det hab' ick ja schon jesagt,« oder »nur abwarten, werd' ick Ihnen gleich erklären.«

Schließlich glaubte Cornelius, die Grundregeln erfaßt zu haben, wiederholte sie noch einmal, auch andere mischten sich hinein und erklärten, das Spiel begann. Ein höhnisches Lächeln lag die ganze Zeit auf Behrents Gesicht, der bisweilen sein Pferdegebiß und das Zahnfleisch entblößte. Er spielte mit herausfordernden, ausfahrenden Armbewegungen, während Cornelius sehr langsam und konzentriert überlegte. Die Notwendigkeit, sich aufs höchste angespannt mit dem Spiel beschäftigen zu müssen, ließ ihn fast vergessen, daß in der Ecke hinter ihm Amélie und Rittmeier dicht beisammensaßen. Hie und da durchzuckte ihn die Erinnerung daran, aber es gelang ihm, sie wie mit einem Schütteln abzuwerfen. Amélie konnte sich nicht enthalten, von rückwärts zuzusehen. Ihr Auge blieb an einem kleinen braunen Fleck haften, den sie schon öfter auf Cornelius' rechter Wange wahrgenommen hatte; da mußte sie plötzlich daran denken, daß wahrscheinlich schon manche Frau diesen kleinen Fleck geküßt und, daß seine Mutter, als er noch ein Kind war, wohl oft mit dem Finger darüber gestrichen hatte. Und nun war er ein Mann und noch immer hatte er den kleinen Fleck. Da tat er ihr auf einmal schrecklich leid, und sie wünschte, er würde den Behrent tüchtig blamieren.

Er spielte sehr besonnen, schon in der ersten Partie zog er Behrent ziemlich lange hin und schlug auch einige seiner Steine. Natürlich siegte Behrent, was er mit Hohngelächter verkündigte. Aber alle Umstehenden waren der Ueberzeugung, daß Cornelius für jemand, der zum erstenmal spielte, sich ganz ungewöhnlich gut aus der Sache herauszog.

»Es ist wirklich eine Kleinigkeit,« erwiderte er, »wenn man an die viel größeren Schwierigkeiten des Schachspiels gewöhnt ist.«

Behrent kochte vor Wut und schlug eine zweite Partie vor. Sie zog sich endlos hin, schließlich erlahmte das Interesse der übrigen, manche gähnten und man fand, daß dieses dumme Mühlespiel eigentlich die ganze Nacht verdürbe. Einige wollten aufbrechen, als man plötzlich draußen auf der Straße heftigen Lärm vernahm: mehrere Stimmen sprachen in nervöser Hast, teils in einer fremden Sprache, dazwischen hörte man eine Frauenstimme, und alles dies wurde begleitet durch das Schnaufen eines Autos. Der Fürst hörte sofort, daß es polnische Landsleute waren, trat ans Fenster und sprach lebhaft zu ihnen hinab. Sie antworteten, immer durcheinanderredend, und schließlich schickte der Fürst Hermann, der die ganze Zeit Hand in Hand mit Lina Schüler gesessen war, hinunter, um die Besucher hereinzulassen.

Zwei schmale, kaum mittelgroße Herren mit schwarzem Haar, der eine glattrasiert, der andere mit einem kurzen Schnurrbärtchen, beide in Frack und Pelz, übermäßig elegant, fast geckenhaft gekleidet, kamen mit einer Dame herein, die unter einem hellen Abendmantel einen lilasamtenen Domino mit Flitter trug und einen großen Rembrandthut mit langer weißer Feder aufhatte. Die Dame sah sich um, und als sie in der Ecke bei Rittmeier Amélie sitzen sah, ging sie sofort auf sie zu. Es war Ellinor Schlosser, die Barfußtänzerin, die seit einiger Zeit in der Münchner Vasensammlung ihre Tanzstudien machte und hie und da in das »Tirol« gekommen war.

Inzwischen hatte der Fürst in polnischer Sprache halblaut mit seinen beiden Landeleuten verhandelt, die sehr lebhafte Gebärden machten.

»Unter keinen Umständen werde ich dulden,« sagte der Fürst Kraminsky, »unter keinen Umständen.«

»Das habe ich den beiden Herren auch gesagt,« erwiderte Ellinor, außerordentlich angeregt durch die Lage, die ihr eine so wichtige Rolle gab. »Sie können doch ganz gut beide mitkommen, und damit ist alles erledigt.«

»Unmöglich, unmöglich, unmöglich!« riefen die beiden Polen einstimmig. »Ach, es ist eine merkwürdige Geschichte passiert,« erklärte nun Ellinor ihren Bekannten sehr redselig, »ich bin mit den beiden Herren zusammen auf dem bal paré und dann im Café gewesen, beiden habe ich zufällig erzählt, daß ich in den nächsten Tagen in meine Heimat zurückreise, um dort meine Studien fortzusetzen, und beide haben mir angeboten, mich zu begleiten. Ich habe nichts dagegen gehabt und jedem die Erlaubnis dazu gegeben, und jetzt wollen sie sich deshalb totschießen, weil sie behaupten, nur einer dürfe mitgehen. Ich finde das einen ganz falschen Standpunkt, warum können sie nicht beide mitkommen?«

»Unmöglich, unmöglich, unmöglich!« riefen die zwei Polen wieder einstimmig.

»Und nun,« fuhr Ellinor fort, »haben wir uns geeinigt und sind hierher zu ihrem Freund, dem Herrn Fürsten Kraminsky gefahren, der für sie in Ehrenfragen maßgebend ist. Sie wollen sich durchaus noch vor Sonnenaufgang hier im Garten schlagen.«

»Auf Leben und Tod,« rief einer der beiden.

»Unbedingt,« sagte der andere.

Der Fürst hingegen erwiderte:

»Ich dulde es unter keinen Umständen! Deswegen schießt man sich nicht tot.«

»Dann gib einen anderen Rat, Fürst,« sagte der eine der beiden Polen.

»Es gibt keinen anderen Rat,« rief der andere.

»Doch, es gibt einen anderen,« sagte Kramineky, »warum sich gleich auf Leben und Tod schießen? Ihr fechtet Florett. Genügt es nicht, daß einer verwundet wird? Das hindert ihn am Reisen, und nur darauf kommt es an.«

»Das ist wahr!« riefen nun beide.

»Wenn aber beide reiseunfähig werden,« warf Rittmeier ein, »dann ist der Dame schlecht gedient.«

Alle lachten.

Nun ergriff Oesterot das Wort und sagte:

»Dagegen gibt es ein Mittel. Wie wäre es, nachdem ja hier in dem Raum bereits ein anderes, unblutiges Duell ausgefochten wird, wenn die beiden Herren einfach mit umwickelten Spitzen vor uns fechten würden? Der Fürst ist Unparteiischer, und wer sich als der beste Fechter erweist, der begleitet Fräulein Ellinor.«

Alle Anwesenden billigten diesen Vorschlag, der Fürst überlegte und meinte:

»Das ist gut, das ist ein guter Gedanke! Wir gehen hinunter in meinen Saal, ich gebe euch Floretts mit umwickelten Spitzen, und ihr fechtet da unten.«

Die beiden Nebenbuhler schauten sich an.

»Seid ihr einverstanden?« fragte der Fürst.

»Wenn Raczinsky ist,« sagte der eine Pole. Raczinsky erwiderte:

»Wenn Liezevsky ist.«

»So gehen wir hinunter in den Saal,« rief Fürst Kraminsky und ließ die beiden Polen vorgehen. »Alle Herrschaften, die bei dem Kampf zuschauen wollen, sind höflichst geladen.«

Während des Gedränges gelang es Rittmeier, mit Amélie in ihr an das »Tirol« anstoßendes Zimmer zu schlüpfen. Cornelius, der die zweite Partie Mühle mit Behrent bei dem Eintreten der Polen für einen Augenblick unterbrochen hatte, aber an seinem Platze sitzengeblieben war, sah, wie Amelie mit Rittmeier verschwand.

»Spielen wir weiter,« rief er bebend Behrent zu.

»Aber selbstredend,« erwiderte dieser. Und während sich das »Tirol« leerte, blieben Behrent und Cornelius allein an der Ecke des Tisches sitzen und setzten ihre Partie fort. Unten hörte man das Verhallen der Stimmen und lebhafte Schritte. Cornelius biß die Zähne aufeinander, er wollte sich keine Rechenschaft geben von dem, was in ihm vorging, und spielte mit einer geradezu übermenschlichen Aufmerksamkeit. Schließlich kam das Spiel zu einem Punkt, wo Behrent zugeben mußte, daß es remis sei, und weder er noch Cornelius Sieger blieb. Behrent wurde immer wütender und rief:

»Beginnen wir eine dritte Partie!«

»Mir ist es recht,« sagte Cornelius, der mit allem zufrieden war, was ihn hinderte, an die Vorgänge in dem anstoßenden Zimmer zu denken. Er spielte nun immer sicherer und schneller, mit einer fieberhaften, seherischen Schärfe erkannte er alle Möglichkeiten und vermied alle Gefahren, während Bebrent immer langsamer und nachdenklicher zog. Cornelius konnte es vor Ungeduld kaum aushalten, bis Behrent wieder gesetzt hatte, und er einen Gegenzug machen konnte. Aber trotzdem waren seine Gegenzüge immer so klug und richtig, daß er Behrent immer mehr in die Enge trieb. Seine Erregung steigerte sich, während es ihm vorkam, als ob in Amélies Zimmer lebhaft gesprochen würde. Die Stimmung Rittmeiers wurde lauter, es klang fast wie ein Streit, aber man konnte keine einzelnen Worte verstehen. Die Nerven Cornelius' waren bis aufs äußerste gespannt, aber er schwor sich, nicht zu lauschen. So gelang es ihm nach einigen Zügen, Behrent matt zu setzen. In dem Augenblick, als dieser sich seine Niederlage nicht mehr verhehlen konnte, kreischte er:

»Das is 'ne Jemeinheit! Is jeschwindelt! Das laß ich mir nich jefallen! Sie haben jemogelt!«

Er ergriff in seiner Wut das Brett mit beiden Händen und schlug es Cornelius mit solcher Wucht auf den Kopf, daß dieser bewußtlos auf dem Stuhl zusammensank. Der Kopf fiel vornüber und langsam rutschte der Körper herab. Behrent bekam einen Todschrecken. Er stützte den Gleitenden mit der Hand, bis er am Boden lag. Wie in einem entsetzten Grinsen entblößte er sein Zahnfleisch und beugte sich in lauernder Angst über Cornelius, der kein Zeichen des Lebens von sich gab. Die Tür zu Amelies Zimmer war inzwischen aufgesprungen, Rittmeier trat heraus.

»Er ist bewußtlos,« sagte Behrent bleich und zitternd.

»Sie haben ... Ich habe gesehen, wie Sie ihm das Schachbrett auf den Kopf geschlagen haben,« drohte Rittmeier.

»Holen Se kaltes Wasser! Holen Se kaltes Wasser! Um Jotteswillen holen Se!« rief Behrent schlotternd vor Angst.

Die Tür nach Amelies Zimmer war offen geblieben, und nun erschien auch diese mit zerzaustem Haar, mit bleichem Gesicht, am ganzen Körper bebend.

Als sie Cornelius am Boden liegen sah, stieß sie einen Schrei aus und rief:

»Oh, oh, was ist denn? Ist er tot?«

Behrent sagte mit gedämpfter Stimme:

»Schreien Se nich so, schreien Se nich so, er is bloß ohnmächtig.«

Inzwischen war mit Amelie folgendes vorgegangen: Nachdem sie sich von Rittmeier in ihr dunkles Zimmerchen hatte drängen lassen, umhüllte er sie mit immer kühneren Liebkosungen. Plötzlich schrie Amelie laut auf und entzog sich ihm voll Angst. Dann folgte ein heftiger Kampf. Schließlich packte Rittmeier sie wütend an der Schulter und schrie in der unbeherrschten Wildheit des kurz vor der Erfüllung seines aufgestachelten Begehrens gestörten Männchens:

»Weißt du, daß das ekelhafter ist, als das, was eine Hure tut? Erst es darauf anlegen und dann ... Entweder ja oder nein, aber das ist ...«

Amelie hatte die Hände vors Gesicht gehalten, sie antwortete nicht vor Scham. Sie erwartete, er würde sie schlagen und hätte es hingenommen. Die erste Morgendämmerung drang in das Zimmer. Rittmeier stand mit kaltem Lächeln vor ihr und musterte sie:

»Schwabinger Ferkel,« sagte er, im Tone tiefster Verachtung. Sie fühlte, daß sie in diesem Augenblick die größte Demütigung erlebte, in die ein Geschlecht vor dem andern geraten kann. Da vernahm man aus dem »Tirol« das Geschrei Behrents; Rittmeier öffnete schnell und sah gerade noch, wie dieser das Schachbrett auf Cornelius' Kopf niederschlug.

Amelie war erst teilnahmlos dagesessen, dann aber warf sie einen zerstreuten Blick durch die offene Tür; da sah sie Cornelius leblos am Boden liegen. Ein wahnsinniger Schrecken erfaßte sie. Sie eilte hinein und erfuhr, was geschehen war. Sie fühlte diese Ablenkung wie eine Erleichterung. Schnell kam sie wieder zu sich, holte ihre Waschschüssel herbei, machte Cornelius einen kalten Umschlag, und es gelang ihr mit Rittmeier, ihn auf den Diwan in ihrem Zimmerchen zu legen, wo sie noch fünf Minuten vorher mit jenem Arm in Arm geruht hatte. Behrent stand in der Tür, totenbleich, wie ein Wahnsinniger mit irren Blicken umherschauend und immer wieder fragend:

»Kommt er zu sich? Jiebt er 'n Lebenszeichen?«

»Stören Sie nicht,« schrie Rittmeier ihn heftig an, »rufen Sie lieber den Fürsten herauf.«

Aber Behrent war nicht imstande, irgend etwas anderes zu tun, als täppisch im Wege zu stehen.

Inzwischen hatte unten im Saale des Fürsten der Kampf stattgefunden. Beide Polen erwiesen sich als vortreffliche Fechter, aber nach einiger Zeit gelang es doch dem einen, den anderen zu touchieren. Der Fürst erklärte den Schluß des Zweikampfes und behauptete, zwar habe der eine den anderen tödlich getroffen, der andere aber habe sich durch größere Eleganz der Bewegungen und Plastik der Stellungen ausgezeichnet, so daß es schwer sei, den Preis zu bestimmen. Er müsse es der Dame, um die der Kampf stattgefunden habe, überlassen, zu entscheiden, welchen sie für den Sieger erklären wolle.

Ellinor fühlte sich zwar tief geschmeichelt über diese Rolle, die ihr zufiel, aber dann gewann doch die weibliche Verlegenheit in ihr die Oberhand, und sie erklärte, sich nicht entscheiden zu können.

»Also«, sagte der Fürst, »muß es bleiben, wie es war, ihr werdet das Fräulein beide in ihre Heimatstadt begleiten.«

Die Erregung, in der sich die beiden Polen befunden hatten, war durch diesen unblutigen Zweikampf zur Ruhe gekommen; sie schüttelten sich die Hand und erklärten sich auf einmal einverstanden mit einer Lage, um derentwillen sie sich noch vor einer halben Stunde hatten töten wollen.

Inzwischen war Rittmeier heruntergekommen und hatte dem Fürsten zugeflüstert, was oben vorgefallen war. Dieser erschrak einen Augenblick, dann rief er:

»Dieser Kuhhirt! Hätten wir ihn doch hinausgeworfen!«

»Wie? Was geht vor?« rief alles durcheinander, aber der Fürst sagte:

»Bitte, folgen Sie mir nicht!«

Niemand wagte zu widersprechen, ein ängstliches Gemurmel erfüllte den Saal. Ellinor saß verlegen lächelnd zwischen den zwei Polen, die sich um sie bemühten.

Indessen eilte der Fürst mit Rittmeier in das »Tirol« zurück, wo Behrent bleich in einem Sessel zusammengesunken saß, während Amelie allein bei Cornelius an dem Diwan hockte und seine kalten Umschläge wechselte. Er gab inzwischen wieder Lebenszeichen von sich, und Amelie hatte ihr Haupt weinend und schuldbewußt an seine Brust sinken lassen. Der Fürst fühlte den Puls Cornelius', legte das Ohr an sein Herz und sagte, er glaube, daß keine Gefahr bestehe, man müsse sofort einen Arzt holen. Rittmeier erklärte sich dazu bereit. Dann ließ der Fürst Cornelius und Amelie allein. Er erkannte sie und lächelte. Als sie ihm den Umschlag wechselte, flüsterte er: »Danke.«

Der Fürst trat in das »Tirol«. Er ergriff den schlotternden Behrent am Arm und sagte:

»Kommen Sie mit.«

Dieser ließ sich willenlos führen, der Fürst drängte ihn eine Treppe hinauf in das Mansardengeschoß, stieß ihn in eine Kammer, wo verstaubte Lederkoffer und Schließkörbe standen, und schloß die Tür hinter ihm zu. Dann ging er hinunter in den Saal und sagte den dort Versammelten, sie möchten ruhig das Haus verlassen, da Cornelius erkrankt sei und der Arzt erwartet würde.

Inzwischen war es fast ganz hell geworden, das fahle Morgenlicht fiel auf die bleichen Menschen, die in ihren bunten, zerschlissenen Fetzen in dem Saal umherstanden. Sie zogen draußen ihre Mäntel an, unter denen die Kostüme bunt und schreiend hervorlugten und verließen leise das Haus.

Rittmeier kam mit einem kleinen, älteren Mann mit Brille zurück. Es war der Arzt, den der Fürst sofort in Amélies Zimmer führte. Nachdem er Cornelius, der mit offenen Augen vor ihm lag, sorgfältig befühlt hatte, ordnete er an, daß dieser sofort ins Krankenhaus gebracht werden müsse. Rittmeier und der Fürst trugen ihn in die Droschke des Arztes, der mit ihm fuhr.

»Bitte holen Sie gleich die Polizei für diesen Kuhhirten,« sagte der Fürst zu Rittmeier. »Ich will indessen nach Fräulein Sanders sehen.«

Bald darauf kam dieser mit zwei Schutzleuten zurück. Der Fürst führte sie hinauf in die Kammer, wo Behrent mit stierem Blick auf einem Koffer saß. Er heulte auf, als er sie sah.

»Ick bin ja nur en armer Künstler un' war besoffen!« rief er aus. »Lassen Se mir doch loofen, Herr Schutzmann, Se werden sich doch nicht an 'nem armen Künstler vergreifen.«

»Sein's stad,« sagte einer der Schutzmänner. Sie packteihn und führten ihn auf die Wache.

Amelie hatte sich kaum zurückhalten lassen, Cornelius in das Krankenhaus zu folgen, aber dem Fürsten war es gelungen, sie zum Ruhen zu veranlassen; am Mittag wollte er sie hinbringen, dann würde man Bestimmtes erfahren, wie es um den Patienten stand. So ließ sie sich in ihr Zimmer zurückführen, wo sie sich auf das Bett legte und still weinte.

Sie verfiel in einen unruhigen Halbschlaf voll krauser Träume. Sie sah Behrents gelbes Pferdegebiß, das ihr grinsend zum Kusse nahte. Sie flüchtete vor ihm unter Rittmeiers montenegrinischen Mantel, aber dort saßen Ellinor und die zwei Polen so klein wie Zwerge und stachen mit Floretts auf sie ein. Dann war sie auf einmal Cornelius' Braut. Der kleine bebrillte Arzt traute sie und hielt segnend ein Schachbrett über sie. Da kam plötzlich der Marl, schlug dem Arzt das Schachbrett aus der Hand und sang dazu:

»Sie laßt sich net verfiehra.«

»Warum denn nicht?« fragte Cornelius mit einer Schärfe, die er manchmal im Ton hatte.

»Ja, wissen's denn net,« sagte Maxl, »sie is doch das Schwabinger Ferkel.«

»Wissen Sie das gewiß?« drängte Cornelius.

»Ja, das weiß doch a jedes Kind,« rief der Maxl.

»Gut, daß Sie mir's sagen,« erwiderte Cornelius, »dann heirate ich sie nicht.«

Als der Fürst Amelies Tür hinter sich geschlossen hatte, sah er in dem trüben Morgenlicht, wie durch einen Türspalt aus dem Zimmer Hermanns, bleich und mit wirrem Haar, Lina Schüler in verwühltem hellem Gewand entwischte. Er schaute weg und ließ sie die Treppe hinuntergehen. Als sie das Haus verlassen hatte, ging er in seinen Saal.

Nun war es eine Viertelstunde ganz still im Haus, dann drehte sich ein Schlüssel in dem Tor; die Zugeherin, Frau Kuhwarm mit dem ewig geschwollenen Backen, erschien, um ihres täglichen Amtes zu walten.


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