Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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49

Kurt kam in München mit dem Frühzug an. Amélie holte ihn an dem Bahnhof ab, und auf seine plötzliche Frage:

»Wie steht es mit ihm?« erwiderte sie schnell:

»Lebensgefährlich ist es nicht. Ich sage dir nachher alles in der Droschke.«

Amélie war bleich und verstört durch das Ereignis. In dem Wagen war sie kaum imstande, Kurt das Nötige zu sagen. »Denke dir nur,« stieß sie plötzlich heraus, »er hat sich umbringen wollen.«

Kurt schnellte zurück.

»Und ist gerettet worden?« fragte er.

»Ja, es ist ihm mißlungen. Er wollte sich in die Isar stürzen, aber er ist in den Bäumen am Ufer hängengeblieben. Arbeiter haben ihn gefunden. Mir ist es gestern mittag durch die Polizei mitgeteilt worden. Stell' dir einmal meinen Zustand vor!«

Kurt ergriff ihre Hand, sie brach in nervöses Weinen aus. Man merkte ihr an, daß ihre Kräfte erschöpft waren.

»Beruhige dich, Kind,« sagte Kurt, »ich muß dich noch ein paar Sachen fragen. Ist er schwer verletzt?«

»Nein, gar nicht. Verletzungen hat man überhaupt kaum gefunden, außer ein paar Hautabschürfungen, aber man fürchtet eher, daß die Nerven einen starken Stoß erlitten haben, der Arzt konnte noch gar nichts Näheres sagen.«

»Wo ist er denn jetzt?«

»In einer Privatklinik ... Freunde haben gleich dafür gesorgt, daß er hingebracht worden ist ... Gestern mittag um zwölf habe ich die Nachricht bekommen und dann gleich telegraphiert ... Wir können nachher sofort in die Klinik fahren und hören, wie die Nacht gewesen ist« ... Dies brachte sie zusammenhanglos hervor.

»Hast du eine Ahnung, warum er es getan hat?« fragte Kurt.

»Nicht recht, aber seine Scheidungsgeschichte ist vielleicht daran schuld.«

»Liegt er in Scheidung?«

»Ja. Die Leute benehmen sich furchtbar gemein gegen ihn.«

»Wo ist denn dein Mann?«

Amelie fühlte nur einen ganz kurzen Augenblick etwas von ihrem alten Trotz aufsteigen und war im Begriff, schnippisch zu sagen, er sei auf Reisen; aber sie hatte nicht mehr die Kraft dazu, sondern warf sich an Kurts Schulter, weinte und sagte:

»Ich bin doch auch schon seit vorigem Herbst geschieden.«

Kurt suchte sin Erstaunen darüber zu verheimlichen, da er fühlte, daß es im Augenblick nur zu beruhigen galt. Er sagte nur in gedämpftem Ton:

»Warum hast du uns denn von alledem nichts gesagt?«

»Ach, frag' mich nicht.«

»Nein, ich will dich jetzt nichts fragen, was dich noch mehr aufregen könnte.«

So kamen sie in den Gasthof. Amélie wartete in der Halle, während er sich umzog. Es war der frühen Morgenstunde wegen noch leer in dem Raum. Kellner, die unbeobachtet zu sein glaubten, schrien und warfen Türen auf und zu. Dadurch entstand heftiger Zug. Amélie fror an den Füßen. Ihr war, als sei sie bis zu den Knien eiskalt.

Dann kam Kurt die teppichbedeckte Treppe herunter: Sie frühstückten zusammen. Er bemühte sich, über gleichgültige Dinge zu reden, fragte sie, wo sie jetzt wohne, ob sie wieder male und dergleichen. Sie fand ihn auffallend gealtert. Dann fuhren sie zusammen in die Klinik. Sie mußten in einem hellen Raum mit weißen Holzmöbeln warten. Amélie dachte an die Zeit, als sie Cornelius Blumen ins Krankenhaus brachte. Damals lag das Leben noch vor ihr.

Ein junger Arzt mit rotem Bart in weißer Schürze trat ein. Er gab beruhigende Auskünfte. Hermann lag im Fieber: aus dem, was er in seinen Phantasien ausgerufen hatte, war ersichtlich, daß ihn Gedanken an seine Scheidung dauernd quälten. Es wäre gut, sagte der Arzt, wenn diese Angelegenheit etwas geklärt würde, bis der Kranke wieder recht zu Bewußtsein käme. Amélie schien es merkwürdig, den fremden Arzt von diesen Dingen reden zu hören. Sie mußte immerfort auf seine weißen, etwas sommersprossigen Hände schauen.

Als sie wieder unten waren, sagte Kurt zu Amélie:

»Sag' mal, Amélie, wärst du imstande, mir über diese Scheidungsgeschichte nun alles zu erzählen, was du weißt?«

Amélie sagte ihm, während sie zu Fuß nach dem Gasthof zurückgingen, was sie wußte. Es kam ziemlich verwirrt heraus. Aber durch allerlei Fragen konnte er sich ein Bild machen.

Frau Stehr-Schüler empfing ihn gegen Mittag. Sie fühlte sich zunächst geschmeichelt durch den vornehmen Besuch, war aber doch auch entschlossen, den Vorteil ihrer Tochter möglichst wahrzunehmen. Kurt fragte nach Lina, aber Frau Stehr meinte, es sei besser, sie verhandle mit ihm.

»Vor allem, wie geht's em denn?« fragte Frau Stehr mit Teilnahme.

»Er ist außer Gefahr.«

»Gottlob,« atmete sie auf.

Kurt, der gegenüber dem »Krieg« von Stuck saß, begann:

»Sie haben also wegen Verweigerung der ehelichen Pflicht gegen meinen Bruder auf Scheidung geklagt?«

»Ja, des hawe mer.«

»Ist Ihnen irgendwie bekannt, warum mein Bruder seine Pflicht nicht erfüllt hat?«

Frau Stehr fühlte sich sehr in ihrem Fahrwasser. Sie lächelte und sagte:

»No, des könne' Sie sich doch grad so gut denke' wie ich, Herr Doktor.«

»Es wären verschiedene Gründe möglich. Darf ich fragen, was Sie für den Grund halten?«

»No, des is sehr einfach, des Hermännche hat halt vor der Eh' e' bißche' mehr geläbt, als er vertrage' könnt', und da is er ewe nit mehr recht fähig dazu gewäse'. E' Frau kann des awer verlange'.«

»Nach dem, was ich über das Vorleben meines Bruders weiß, scheint eine derartige Annahme nicht gerechtfertigt. Er wird wohl hie und da seine kleinen Erlebnisse gehabt haben, aber von einer Erschöpfung seiner Kraft kann wirklich nicht die Rede sein. Erlauben Sie mir, daß ich offen spreche?«

»Awer nadürlich, dafür sin' mer ja hier beisamme',« sagte Frau Schüler liebenswürdig und zugleich neugierig auf das, was er sagen würde.

»Halten Sie es nicht für möglich, daß der Grund für Hermanns Zurückhaltung in dem Verhalten Ihrer Frau Tochter lag?«

Frau Schüler lachte laut heraus.

Nei', des halt' ich nit fir meglich bei der Lina. Die hat ja immer so en starke' Reiz auf die Männer ausgeübt, daß Freunde von gar nit allei' mit ihr in ei'm Zimmer sei' konnte', un' manche hawe' sogar, wenn se in Gesellschaft ihr gege'üwer gesesse' hawe, en' ganz rote' Kopp gekricht und sin' enausgegange', weil se's ei'fach nit mehr aushalte' konnte'. So wirkt die Lina auf die Männer. Nei', nei', wenn da einer sei' ehelich' Pflicht vernachlässigt, so is es einfach, weil er nit mehr kann.« Hiermit war für Kurt der Aufklärungsdienst beendet. Der Schlachtplan war ihm völlig klar.

»Ich bedaure,« sagte er höflich, »daß ich Ihre Illusion über die Reize Ihrer Frau Tochter etwas zerstören muß. Vielleicht ist es gerade diese Art der Wirkung, die Sie so drastisch schildern, was Hermann abgestoßen hat. Nach dem, was mein Bruder, den ich natürlich noch nicht selbst sprechen konnte, anderen Personen, wenn auch nur sehr leise angedeutet hat, muß Ihre Frau Tochter ein Gebaren gezeigt haben, das ihn verletzte. Ich will auf Einzelheiten nicht eingehen, aber ich erinnere nur daran, daß wir einen Paragraphen haben, der es erlaubt, ein gewisses sinnliches Verhalten, das von dem – wie soll ich sagen? – bürgerlichen Kanon allzu weit abweicht, als ehrlos und unsittlich zu betrachten, so daß dem anderen Teile die Weiterführung der Ehe nicht mehr zugemutet werden kann, wenn der eine Teil ein solches Verhalten gezeigt hat. Ich mache Sie also darauf aufmerksam, daß, falls Sie Ihre Klage auf eine so intime Frage stützen, uns nichts anderes übrigbleibt, als durch eine Gegenklage derselben Art gegen Ihre Frau Tochter zu antworten. Ich darf Ihnen das sagen, weil das alles erst als Möglichkeit besteht. Hermann, der noch nicht wieder bei vollem Bewußtsein ist, weiß natürlich von alledem nichts; ich aber habe ja hier nur persönlich, nicht einmal als Beauftragter geredet!«

Frau Stehr erschrak.

»Wisse' Se, wenn des der Hermann deht, des wär' awer e' Gemeinheit ersten Ranges. Dazu halt ich en gar nit für fähig.«

»Sie irren, gnädige Frau. Es wäre in der Tat eine unerhörte Gemeinheit, auf Grund solcher intimer Angelegenheiten gegen eine feinfühlige Frau zu klagen. Wenn einem aber von ihr das Messer an die Brust gesetzt wird, so wäre es falsch, eine größere Feinfühligkeit zu zeigen als der Gegner. Sie zuerst haben sich dafür entschieden, einen Scheidungsgrund auf so heiklem Gebiet zu wählen; wenn wir antworten, müssen wir natürlich auf diesem Gebiet bleiben. Sie sind also verantwortlich für das, was geschieht.«

»Awer des is ja e' unglaublich' Schweinerei!« rief Frau Stehr aus, »Ei fui dausend! Wie kann ma' denn so was mache'! So im Dreck 'erumzuwühle!«

»Ich freue mich, gnädige Frau, daß wir einer Meinung sind. Auch wir haben diese Ansicht, und darum bin ich gekommen, Ihnen vorzuschlagen, diese Mittel fallen zu lassen und zu einem andern überzugehen.«

Frau Stehr faßte wieder Hoffnung.

»Wisse' Sie dann eins?«

»Nun, das ist sehr einfach. Alles war ja auf dem besten Weg, ehe mein Bruder den Brief Ihres Anwalts erhielt. Auf diesen Weg müssen wir zurück. Ihre Frau Tochter will die Scheidung und mein Bruder hat nichts dagegen. Beide Teile haben in bester Absicht geheiratet, um einander glücklich zu machen. Das ist mißlungen, und daran sind sie moralisch höchstwahrscheinlich beide gleich schuldig oder unschuldig, wie Sie wollen. Sie passen eben nicht zusammen. Es handelt sich also darum, daß man anständig auseinandergeht. Ein Geschäft kann selbstverständlich dabei nicht gemacht werden. Daß mein Bruder Ihrer Frau Tochter eine Abfindung anbietet, geschieht nicht, weil er schuldiger ist als sie, sondern weil er wirtschaftlich besser gestellt ist. Das befreit uns natürlich nicht davon, daß man vor dem Gesetz eine Schuld angeben muß, damit die Ehe rechtskräftig geschieden werden kann. Wir machen Ihnen also folgenden Vorschlag: Ihre Tochter einigt sich mit meinem Bruder beim Notar über die Summe, die sie an dem Tag, wo die Scheidung rechtskräftig wird, erhält, er aber liefert dem Anwalt Ihrer Tochter freiwillig irgendeinen Grund, woraufhin dieser die Scheidung, ohne peinliche Einzelheiten ans Licht zu bringen, vor Gericht verlangen kann. Das ist durchaus ritterlich gehandelt, Ihre Tochter geht als der nichtschuldige Teil aus der Scheidung hervor, und nichts steht im Wege, daß sie später wieder heiraten kann, sie bekommt eine Summe, die es ihr ermöglichen soll, sich inzwischen beruflich selbständig zu machen, falls der zweite Gatte auf sich warten lassen sollte. Das ist der saubere Weg, den ich Ihnen vorzuschlagen gekommen bin.«

Frau Stehr überlegte eine Zeitlang.

»Ja, was Sie da sage', des klingt ja ganz verninftig. Es käm' halt nur auf die Höhe der Summe an.«

»Sehr richtig, ich freue mich, daß Sie den springenden Punkt gleich selbst erkennen. Die Höhe der Summe muß von zwei Gesichtspunkten aus bestimmt werden. Erstens ist dafür maßgebend das, was Hermann überhaupt zu leisten imstande ist, und sein Vermögen ist inzwischen recht zusammengeschmolzen.«

»Awer er beerbt doch e'mal sei' alt' Großmutter,« fiel Frau Stehr ein.

»Vielleicht später einmal. Vorläufig ist unsere Großmutter Gott sei Dank noch gesund und rüstig. Der zweite Gesichtspunkt aber ist der: wieviel braucht Ihre Frau Tochter, um sich in dem von ihr gewählten Beruf als Photographin auszubilden und selbständig zu machen. Soviel ich weiß, hat sich Hermann seinerzeit bereit erklärt, ihr so viel zu geben, daß sie zirka drei Jahre davon leben kann. Ich schlage vor, daß wir die dazu nötige Summe, über die man vielleicht noch etwas hinausgehen kann, zur Grundlage unserer Verhandlungen machen, denn irgendeine Schädigung hat ja Ihre Tochter in der kurzen Ehe nicht erfahren.«

»Bitte, auf ere geschiedene Frau haftet immer en gesellschaftlicher Makel.«

»Soweit ich unterrichtet bin, ist das in Künstlerkreisen mit moderner Weltanschauung nicht der Fall. Wenn ich nicht irre, sind gnädige Frau selbst...«

»Des haw ich aber noch nie gehört,« unterbrach Frau Stehr von neuem, »daß mer sei' Frau zwinge' will, en Beruf zu ergreife'. Des is in unsre Kreise gar nit üblich.«

»Gut,« erwiderte Kurt, »dann versuchen Sie es auf dem anderen Weg. Sie haben nun die Wahl, mit den Mitteln, die Sie vorhin selbst so treffend charakterisiert haben, gegen uns den Krieg bis aufs Messer zu führen, oder aber mit den Mitteln, die ich Ihnen eben vorgeschlagen habe, zu einer anständigen Lösung zu kommen, bei der Ihre Tochter auch nicht gerade schlecht fährt. Vor der Ehe wußte sie gar nicht anders, als daß sie einmal einen Beruf ergreifen würde. Nun hat sie zwar anderthalb Jahre verloren, bekommt aber dafür die Mittel zu der denkbar besten Vorbereitung. Wahrscheinlich wird kaum die Hälfte des von meinem Bruder zu Bewilligenden dazu nötig sein. Allerdings, eine Versorgung für ihr ganzes Leben ist es nicht; eine Rentnerin auf unsere Kosten wird sie dadurch nicht werden. Dazu liegt aber auch nicht die mindeste Veranlassung vor. Ich sehe nun Ihren weiteren Entschlüssen entgegen.«

Kurt empfahl sich. Frau Stehr blieb bestürzt zurück und sagte vor sich hin:

»Gott, is des´n unangenehmer Mensch.«

Während Kurt das Haus verließ, verzog sich sein sonst so beherrschtes Gesicht zu einem unwillkürlichen Lächeln, und er wünschte sich, seine alte Großmutter hätte zugehört. Er fühlte sich heute sehr als ihr Enkel.

Bald danach ging die Familie Stehr-Schüler auf seine Vorschläge ein.


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