Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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13

Zitternd schloß Amelie die Tür des Ateliers auf, als sie ihren Geliebten zum erstenmal dorthin führte. Sie traten in den dämmerigen Raum, dessen verbrauchte, warme Luft von Terpentingeruch erfüllt war. Amelie wollte Licht machen, aber Erich hielt sie zurück.

»Laß uns doch in der Dämmerung bleiben,« sagte er leise.

Ihr war es auch lieber so, sie hätte sich geschämt, in der Helle ihm gegenüberzusitzen. Er zog sie auf einen Diwan, der im Dunkeln stand, und küßte sie. Bisher hatte sie nur kurze, verstohlene Küsse von ihm erhalten, und schon die Hatten sie bis in die Tiefe erzittern lassen. Jetzt fühlte sie zum ersten Mal« lange, ihr Blut aufwühlende Liebkosungen. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die Stunden mit Erwin Dorn in der Grotte. Wie blaß war das nun alles. Der war ja ein Bub gewesen, jetzt empfand sie alles tiefer, ja, ihr kam fast vor, feierlicher, und sie fühlte wieder »ihr großes Schicksal« um sich brausen. Sie vergaß ganz die Zeit. Es war schon völlig dunkel geworden, sie lag wie im Traum, von ihm umschlungen, seine Lippen ununterbrochen auf ihrem Munde. Die eintönige Uhr schlug plötzlich sieben. »Ich muß ja nach Hause,« rief Amelie aufspringend. Sie hätte gern Licht gemacht, um ihr Haar in Ordnung zu bringen, doch wagte sie es nicht. So gut es ging, glättet« sie es im Dunkeln, setzte ihr Pelzmützchen auf und band einen Schleier darüber. Erich zündete sich eine Zigarette an, wobei ein Lichtschimmer über sein bleiches Gesicht und die schneeweißen Hände fiel. Er setzte sich im Dunkeln auf eine Tischkante, und während er den Rauch der Zigarette einsog, konnte Mely von Zeit zu Zeit in dem rötlichen Schein sein Antlitz sehen, das für sie etwas unheimlich Bezauberndes hatte.

»Na, Kind – fertig?« unterbrach er plötzlich mit seiner hohen, etwas harten Stimme das Schweigen.

Sie war verblüfft über seine Lässigkeit in einem so tief erregenden Augenblick. Aber so sehr es sie befremdete, daß er jetzt in diesem Tone sprechen konnte, diese Sicherheit gefiel ihr irgendwie, diese plötzliche Gleichgültigkeit, als ob gar nichts geschehen sei. Sie ging auf ihn zu und schweigend küßte sie ihn von selbst.

»Komm, gehen wir,« sagte sie dann, sich auch zu einem überlegenen Tone zwingend, und sie war stolz, daß es ihr ziemlich gut gelang.

»Als ob alles das gar nichts gewesen wäre!« dachte sie. Das war doch eigentlich sehr »fesch«, die Dinge so aufzufassen. Sie wußte nicht, woher ihr plötzlich dieser Ausdruck einfiel, den sie sonst eigentlich nicht anzuwenden gewohnt war.

Erich brachte sie diesmal nicht bis an die Tür. Warum sich länger der Gefahr aussetzen, gesehen zu werden? Sie hatten das jetzt nicht mehr nötig. Amelie flog fast durch die Straßen. Zu Hause fragte die Mutter, wo sie« gewesen war. »Bei Lea im Atelier,« erwiderte sie, zufrieden darüber, daß sie keine Lüge zu sagen brauchte, denn von Natur machte ihr das Lügen keinen Spaß. Noch immer hatte sie diese »platonische« Liebe zu allem Guten, Aufrichtigen und Ehrlichen. Sie wolle jetzt öfter nach dem Unterricht zu Lea gehen, sagte sie ganz sicher, die Mama habe doch nichts dagegen? Die Mama hatte gar nichts dagegen, und so ging Amelie täglich hin, außer Sonntags.

Bald entstanden bestimmte Formen, unter denen sich diese Ereignisse vollzogen. Amelie ging voraus, nach einigen Minuten kam Erich. Sie setzten sich auf den Diwan und standen auf, als es sieben Uhr schlug. Di« Liebkosungen Erichs wurden immer kühner. Eines Tages flüsterte er ihr ins Ohr:

»Ich wüßte wohl ein Mittel, wie wir deine Familie zwingen könnten, uns die Erlaubnis zum Heiraten zu geben.«

»Was für ein Mittel?« fragte Amelie in banger Ahnung.

»Wenn du ein Kind von mir bekämst,« sagte Erich ruhig und beobachtend.

Das traf sie wie ein Schlag. Sie sprang auf und flüchtete in die andere Ecke des Raumes.

»Laß mich,« sagte sie, ihn von sich stoßend, als er sich ihr näherte.

Sie schaute in einen Abgrund, an dessen Rand sie bisher gewandelt war. Sie hatte bisher nicht daran denken wollen, daß die Küsse, die sie tauschten, den Weg zu so furchtbaren Dingen vorbereiteten. Im Grunde wollte sie doch nur spielen, wenn dieser Spieldrang auch von dämonischer Unwiderstehlichkeit war, und nun fielen auf einmal tiefe Schatten in das Spiel. Von dem Tage ab war Amelies Unbefangenheit zerstört. Sie mußte wieder an die« Worte denken, die ihr einst auf dem Schulweg die häßliche Therese Berger zugeflüstert hatte, vor denen sie entsetzt geflüchtet war. »Die haben ein Verhältnis zusammen,« hatte sie von einem Mann und einer Frau gesagt, ihr Bruder habe auch schon eines gehabt, und wenn es ein Kind gäbe, ginge er ins Wasser.' Amelie hatte selten mehr an diese furchtbaren Worte gedacht, jetzt fielen sie ihr auf einmal wieder fast wörtlich ein, und sie hatte dieselbe Angst davor, wie einst als Kind. Nun stand das Gespenst, das sie in der Welt umherschleichen fühlte, vor ihr.

Erich brauchte viele Tage, bis er sie beruhigt hatte. Anfangs war sie nicht dazu zu bringen, wieder in das Atelier zu kommen. Immer wieder versicherte er, er denke ja gar nicht daran, so etwas ohne ihren Willen zu tun, es sei ja nur ein Vorschlag gewesen. Er komme eben immer auf die tollsten Gedanken, nur um sie heiraten zu können. Amelie ließ sich auf Ehrenwort versprechen, daß er nie wieder an so etwas rühren wolle. Er versprach es und so ging sie wieder mit ihm in das Atelier hinauf. Manchmal sagte sie noch:

»Ich habe oft Angst vor dir, du willst etwas anderes als ich.«

»Ich will mehr, als du mir jetzt gibst,« erwiderte er, »aber nicht das, was du fürchtest.«

Sie hörte zitternd zu.

»Meinst du etwa, ich wäre versessen darauf, Kinder zu kriegen?« sagte er ihr, leise lächelnd, ins Ohr, »das wäre doch höchstens ein Mittel zum Zweck gewesen.«

»Nun, weißt du,« erwiderte Mely unbefangen, »wenn wir einmal verheiratet sind, dann will ich auch zwei Kinderchen haben, erst einen Bub, und dann ein Mädchen.«

»Ja, dann ist's was anderes, schon um den Namen zu erhalten, aber ich will jetzt schon mehr, viel mehr von dir, als du mir gibst.«

»Ich verstehe dich nicht,« sagte Amelie voll Angst, und sie fühlte, daß sie nun in ein Gebiet hineingeraten war, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.

»Ich liebe doch nicht nur dein Gesicht und deine Hände, ich liebe alles an dir.«

Während er so sprach, wurden seine Liebkosungen immer verwegener, und halb mit Grausen, halb mit Wonne ließ sie es geschehen.

Nachdem sie einmal das Vertrauen wiedergewonnen hatte, daß er seine entsetzlichen Gedanken an ein Kind nicht mehr hegte, gab es keinen Halt und keine Grenzen mehr; bald war bis in die verborgensten Winkel der ganze Garten der Lust durchmessen, in den sie heimlich eingestiegen waren, ohne die Pforte zu sprengen. Die jungfräuliche Amelie verlor sich tiefer und weiter als die meisten Frauen, die mehrmals Mütter geworden sind. Sie folgte Erich willenlos, wohin er sie haben wollte, und er wußte genau, daß sie vor nichts mehr zurückschrecken würde, solange er die eine Bedingung einhielt. Diese zu brechen fühlte er sich nicht im geringsten versucht. Seinen verfeinerten Sinnen und überzüchteten Nerven wurde auch so alles zuteil, was sie wünschten. Wozu also unnütze Dummheiten machen? Das überließ Erich von Wietersheim Köchinnen und ihren Soldaten.

Die vorrückende Jahreszeit zog langsam den Schleier der Dämmerung von diesen Umarmungen zurück, und zuletzt schien die Abendsonne herein, während das Paar aufbrach. Amelie brachte nun ganz ohne Scheu ihr Haar in Ordnung, während Erich rauchend zusah. Meist rauchte sie selbst eine Zigarette mit. In diesen Augenblicken prüfte sie oft seine Gestalt und sein Antlitz, wenn er lässig auf der Sofakante saß. Diesem elfenbeinernen Gesicht war sie verfallen. Was er befahl, das mußte sie tun. Es war schauervoll, dies so genau zu wissen, und dieser Schauer erweckte in ihr Entsetzen und Wonne zugleich.

Wenn sie von ihm getrennt war, fühlte sie sich stets von schwerer Mißstimmung erfüllt, die wie ein zäher Nebel über ihr lag und nicht weichen wollte. Alle Arbeitslust verging ihr, sie schlief lang und schlecht und stand auf mit einem Seufzer über die jämmerliche Leere des Daseins. Frau Sanders ließ sie gewähren, weil der Arzt meinte, bei Blutarmut sei langes Schlafen gut. Oft ging sie gar nicht zu Professor Stettner, sondern lag müde auf dem Diwan und las die Zeitung; zu ernsterem Lesen hatte sie keine Lust. Auf die Zusammenkünfte mit Erich freute sie sich nicht, im Gegenteil, sie tat vor sich selbst so, als gehöre das eben auch zum elenden Einerlei ihres Lebens, und als sei sie es ihrer Würde schuldig, den Zusammenkünften nicht mit Freude entgegenzusehen. Darin sah sie gewissermaßen eine moralische Milderung ihres Tuns, daß es ihr im Grunde ja gar keinen Spaß machte. Manchmal empfand sie sogar einen ausgesprochenen körperlichen Ekel davor, und etwas in ihr freute sich darüber, so daß sie dieses Ekelgefühl noch bewußt in sich vertiefte. Oft war sie schlecht gelaunt, wenn sie zu ihm kam, und er noch nicht Macht über sie gewonnen hatte, wie gestern, als sie ihn verließ. Dann freute es sie, ihn zu quälen, sich ihm zu verweigern, verächtlich von ihren gemeinsamen Freuden zu sprechen. »Ach, was hat das denn alles für einen Sinn? wozu das?« oder aber »meinetwegen, wenn du soviel Wert darauf legst.« Dann ließ sie sich aber immer wieder von ihm hinreißen, nein, leise hineinziehen in den lauwarmen Sumpf ihrer Lüste. Manchmal haßte sie ihn und freute sich, ihm ihre Verachtung auszusprechen. Dann zeigte er sich von einer ihr schmählich dünkenden Unterwürfigkeit, er flehte, er wimmerte, ja er weinte. Aber wenn es ihm dann irgendwie gelungen war, ihre Sinne wieder zu reizen, dann erlag sie ihm und ruhte halbe Stunden lang mit ihm Mund auf Mund. Eine Zeitlang vernachlässigte er sein Aeußeres, wechselte nicht mehr täglich die Kragen, trug verschabte Halsbinden, war oft unrasiert, ja, sie fragte sich, ob er es wohl mit dem Waschen noch ganz genau nahm. So widerlich ihr das bei nüchternen Sinnen und in klaren Augenblicken war, so überkam sie schließlich ein« bleierne Gleichgültigkeit in allem. Dann ließ sie die Ereignisse über sich ergehen, wie sie kamen. »Ja, ich gehe zugrund,« sagte sie sich, »ich verkomme und er ist auch ein verkommener Mensch.« Dann freute es sie ingrimmig, ihn anzusehen, wie er vernachlässigt und unreinlich vor ihr stand, ja, sie konnte sich sogar entschließen, ihn dann plötzlich ganz wild zu küssen, als wolle sie ihn drängen, doch kurzen Prozeß zu machen und sie recht schnell in den Abgrund zu ziehen, der ihr doch nun einmal bestimmt war. Aber auch dies enttäuschte sie wieder, und sie fand, daß ihm doch die wahre Leidenschaft fehlte, die sie mit dämonischer Gewalt, bei geschlossenen Augen, in einer tiefen Wonne ins Verderben hinabschleudern würde. Oft, wenn sie von ihm einen wahnsinnigen Ausbruch erwartete, begann er trocken von ihrer gemeinsamen Zukunft zu reden. Einmal verhöhnte sie ihn:

»Du bringst es ja doch nie zu etwas, du kannst nichts, du bist nichts.«

Er saß schweigend auf dem Diwan, die Unterarme auf die Knie gestützt, und trommelte mit den spitzen Nägeln auf seiner goldenen Zigarettendose. Da hatte sie auf einmal wieder Mitleid mit ihm und küßte ihn von selbst ganz schwesterlich.

»Ich Hab' dich doch lieb,« sagte sie. »Ich bin ja auch nichts wert. Nur trommle nicht immer so auf der Dose, das macht mich ganz nervös.«

Als er auf eine Demütigung wieder einmal statt durch Wut und Roheit, wie sie im stillen gehofft hatte, mit Gleichgültigkeit antwortete, rief sie verzweifelt:

»Oh, ich bring« mich noch um! ... Hörst du? ... Antwortest du nicht? ... Ich bringe mich um ... du?«

»Was soll ich da antworten?« sagte er mit etwas näselndem Ton, »tu's nur, ich mache mit.«

Er wollte wieder zu trommeln beginnen, aber als er sie ansah, fiel ihm ein, daß sie das nicht leiden konnte.

Sie blickte ihn forschend an und sagte:

»Auch dazu bist du ja zu feig, zu waschlappig ... aber es ist gleich ... wozu sich noch umbringen? ... Deine Geliebte sein, das ist ja geradesogut wie umgebracht ... du ... du ... komm, küß mich.«

Ihre Zähne knirschten, während sie sich ihm näherte.

Ein klares Gefühl sagte ihr, daß er doch verantwortlich sei für die schiefe und ekelhafte Lage, in der sie sich nun befanden. Er war doch der Mann, er hätte es nicht dahin kommen lassen dürfen; vor Zorn über das, was er aus ihr gemacht hatte, hätte sie ihm manchmal ins Gesicht schlagen können, aber zu ihrem eigenen Erstaunen wurde, so oft sie das vorhatte, schließlich doch immer wieder eine Umarmung daraus. Sie erkannte genau, was er für ein Windbeutel war. Oft nannte sie ihn einen Affen, und es gefiel ihr, ihn bei seinen Schwächen zu verletzen. Er besaß eine goldene Uhr von seinem Vater, die aber nicht mehr zum Gehen zu bringen war. Da er in seiner Geschäftstätigkeit eine Uhr brauchte, benutzte er wochentags eine billige von Stahl, an Sonntagen aber trug er die goldene mit der Freiherrnkrone wie einen Schmuck, obwohl sie nicht ging. Sie lachte ihn darüber aus, dann meinte er, man müsse repräsentieren. In dem Dreckgeschäft sei ihm alles egal, >aber nach Geschäftsschluß<, sagt er, >bin ich, der ich bin.<

Erich mußte für drei Wochen in seine Heimat reisen. Amélie atmete auf, als sie es erfuhr. Sie verhehlte ihre Freude darüber schlecht. Erst während sie ihn am Wagenfenster sah, wurde ihr weh ums Herz. Als der Zug in der Ferne verschwand, fühlte sie, wie eng sie doch mit diesem Menschen verwachsen war, und daß er sie nun allein ließ. Sie ging düster und verlassen heim und dachte, sie habe ihn doch lieb, alles könne noch gut werden, er müsse nur fleißig arbeiten und sich eine Stellung erringen. Als sie aber am anderen Morgen erwachte, und ihr einfiel, daß sie ihn nun heute nicht sehen würde, war sie auf einmal von einer aufrichtigen Fröhlichkeit erfüllt. Beim Waschen konnte sie sich gar nicht genug tun, sich mit kaltem Wasser zu begießen, sie lechzte nach Frische. Sie kam vergnügt an den Frühstückstisch, küßte und umarmte die Mutter mit einer von dieser lange vermißten Herzlichkeit und konnte es kaum erwarten, bis sie bei Professor Stettner war. Draußen empfing sie ein kühler, sonniger Märzmorgen. Zwischen den watteartigen Wolken brach das fast zu scharfe Blau hervor. Hie und da lag auf den Pfützen eine ganz dünne Eisdecke. Amélie machte es Freude, sie mit ihrem leichten Schirm zu zerschlagen und das Knirschen zu hören. Auf den schwarzen Zweigen sproßte das erste Grün und eine herbe Luft bewegte sie. Ueberall wurden Frühlingsblumen verkauft. Amelie kaufte sich Veilchen; sie ging glücklich und frei durch die Straßen.

Mehrere Tage lang fühlte sie, wie sie wirklich ein anderer Mensch wurde oder vielmehr wieder der junge, frische Mensch, der sie früher gewesen, fröhlich, arbeitslustig, voll Wohlwollen gegen ihre Umgebung. Manchmal mußte sie zwischen alledem an etwas Dunkles, Häßliches denken, aber sie wollte sich's nicht zugestehen, so wie man sich zeitweise über eine schleichende, nicht immer schmerzhafte Krankheit hinwegsetzen kann.

Eines Morgens lag ein Brief von Erich neben ihrer Frühstückstasse. Jetzt war das Häßliche, Niederziehende wieder dicht bei ihr, so fühlte sie. Sie öffnete den Brief nicht. Während des Frühstücks blickte sie starr auf die Adresse mit der fahrigen, schnörkelreichen Schrift. Es machte ihr Freude, daß ein Butterfleck auf den Umschlag kam. Sie schloß den Brief in eine Schublade, ohne ihn zu lesen. Dann ging sie in die Werkstatt zu Professor Stettner, aber heute konnte sie nicht arbeiten wie sonst. Eine Unruhe bemächtigte sich ihrer, sie fühlte sich schwach und zerschlagen, nach einer Stunde brach sie auf und eilte nach Hause. Wieder war ein klarer, herber Märztag und in den Straßen wurden Veilchen verkauft; aber Amélie fühlte ihr Verhängnis, das sie aus dieser lachenden Heiterkeit der Welt ausstieß. Sie mußte nach Hause eilen und war gereizt über jeden Aufenthalt, wenn ein Wagen den Straßendamm sperrte oder ein Verläufer um sich einen Auflauf verursachte. Sie dachte nur an den Brief mit dem Butterfleck, und endlich hielt sie ihn wieder in der Hand. Sie las Beteuerungen seiner Liebe, seiner Sehnsucht, Schilderungen seiner Einsamkeit. Mit weichlicher Schwül« legte sich seine Liebe von neuem um sie, und voll Scham und Zorn fühlte sie in sich wieder die Sehnsucht nach seinem Kuß. Als die Mutter hereinkam, fand sie sie zerstreut und mürrisch. Nachmittags schrieb sie einen langen Brief an Erich, voll Sehnsucht, er möge doch bald zurückkommen, sie hielte seine Abwesenheit nicht länger aus. Fiebernd wartete sie auf Antwort. Ihre nervös« Zerrissenheit war fast schlimmer als zur Zeit, da sie ihn täglich sah. Dann kamen bisweilen entsetzliche Tage, in denen sie klar erkannte, daß er ihr Verderben sei, ein Dämon, der sie in den Abgrund zog. Auch der Verdacht lag ihr nicht fern, er rechne einfach auf ihre Mitgift und sei gewillt, bis zum Tode der ohnehin herzleidenden Mutter zu warten. Ihre Person sei nur eine ganz angenehme Zugabe zum Nichtstun. Aber seine Briefe, die etwas von dem krankhaften Hauch ihrer Zusammenkünfte ausströmten, fesselten sie immer wieder in seinen Bann.

Nur mit Lea sprach sie über ihn. Diese tat so, als hielte sie Amélies Verhältnis mit Erich für eine alle Folgen ziehende Verbindung zwischen Mann und Weib. Amélie mußte sich verstellen, als ob es ganz so sei, um vor der Freundin nicht als feige zu erscheinen. Lea verbarg hinter ihrer scheinbar klugen Ueberlegenheit mühsam ihre naive Befriedigung darüber, in Amélie zum ersten Male eine Frau zu sehen und zur vertrauten Freundin zu haben, die ein wirkliches, ungesetzliches Verhältnis unterhielt. Oft fühlte Amélie, es sei wenigstens ein Glück, daß sie Erich nicht alles gewährt habe, dann aber fehlte es ihr auch keineswegs an dem Verständnis dafür, daß gerade in der Halbheit ihrer Hingabe das Unwürdige und Herabziehende lag. Sollte sie Mut fassen und sich nach seiner Rückkehr ihm ganz geben? Um Gottes willen nein – durchschauerte es sie, sie mußte immer wieder an den Abgrund denken, in den sie einst Therese Berger hatte blicken lassen.

Nach kurzer Zeit kam Erich zurück. Die entnervenden, Amelie aushöhlenden Zusammenkünfte begannen von neuem. Erich bekleidete fortwährend ein untergeordnetes Amt in der Bank, eine von den Stellen, wo man untüchtige Leute mit guten Formen ein Leben lang läßt, in denen, entgegen der allgemeinen Annahme, kein Aufrücken auf verantwortliche Posten vorkommt, höchstens ein langsames Steigen des Gehaltes. Eines Tages machte er, mit Amélie darüber einig, bei Frau Sanders einen Besuch und erzählte ihr, seine Verhältnisse hätten sich erheblich gebessert, sein Gehalt sei zwar noch klein, aber ansteigend. Ob sie nicht jetzt in die Verlobung einwilligen wolle, die Standhaftigkeit seiner Liebe sei durch die Zeit doch erwiesen. Frau Sanders antwortete zunächst ausweichend. »Mely, ich bin ratlos ...« rief sie ein über das andere Mal aus, als sie abends mit der Tochter allein unter der Hängelampe beim Tee faß. Sie fürchtete die Großmutter. Gleichzeitig war sie nicht imstande, der Tochter etwas abzuschlagen, und was der junge Mann sagte, schien doch auch ganz vernünftig. Das Ergebnis dieser Unentschlossenheit war eines jener halben Verhältnisse: Eine Verlobung war es nicht, auch keine heimliche, denn was geschah, geschah ganz offen; Erich kam wieder ins Haus, speiste oft dort und wurde nur vor der Großmama, wie ein Liebhaber vor dem Gatten, verborgen. Er durfte mit Amelie ins Theater gehen, sie zum Tennis begleiten, d. h. eigentlich durfte er es nicht, Frau Sanders verbot es von Zeit zu Zeit einmal wieder, indem sie sagte: "Wenn das die Großmama wüßte!" Oft riet sie in vertrauten Stunden Amelie von Erich ab, sie fand, daß er doch eine recht dürftige Partie sei, aber gerade damit reizte sie Amelies Widerspruch, die ja doch gar keine Partie machen wollte.

Frau Sanders merkte nicht, daß sich die Bekannten ein wenig von Amélie zurückzogen, ja, Amélie wurde es selbst kaum bewußt, da sie ohnehin seit einiger Zeit auf gesellschaftlichen Verlehr wenig Wert legte. War man bei zufälligem Zusammentreffen mit ihr etwas kühl, so ließ sich das leicht durch ihre Vernachlässigung der Bekannten erklären, und sie war eigentlich stolz darauf, mit den konventionellen Durchschnittsmenschen nichts mehr gemein zu haben, halte sie doch ihr eigenes Schicksal. Weder sie noch die Mutter ahnte, daß über ihre Beziehungen mit Erich allerlei Gerüchte umgingen. Von den geheimen Zusammenkünften wußte zwar niemand etwas, aber man sah sie fortgesetzt mit einem als liederlich bekannten jungen Menschen in untergeordneter Stellung herumziehen, dessen Adel ihn unter solchen Umständen nur lächerlich machte. Als das schlimmste schien aber: diese nicht als harmloser Flirt zu betrachtenden Dinge geschahen unter den Augen der Mutter.

Das Haus Sanders verödete allmählich. Es ließen sich keine jungen Leute mehr einführen, und die früher dort Verkehrenden blieben fort. Amélie, die inzwischen zwanzig Jahre alt geworden war, besuchte keine Gesellschaften mehr und hatte auch keine Lust, welche zu geben. Sie malte ein wenig, lag viel auf dem Sofa, küßte sich stundenlang mit Erich, schwatzte mit Lea über Gott und die Welt und verhielt sich schnippisch gegen die Großmutter, wenn sie zu Besuch kam. Dabei war sie tief unzufrieden mit sich und allem, was um sie geschah. Ihre Grundstimmung war Langeweile und Ekel. Mit Hartnäckigkeit aber vertrat sie das Recht der Persönlichkeit auf individuelle Ausgestaltung des Lebens.

Erich indessen war nun seiner Macht über sie gewiß. Sie ist mein, dachte er oft heimlich, ganz mein, ich kann mit ihr machen, was ich will. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, und sie wird meine Frau. In solchen Augenblicken vergaß er sich leicht und begann auf der Dose zu trommeln.

»Erich,« rief sie dann empört.

»Schon gut, du hast recht, erinnere mich nur daran, es ist eine schlechte Gewohnheit,« antwortete er, und fügte sich gerne im Kleinen, da er sich im Großen dem Erfolg so nahe fühlte.


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