Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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28

Den Fürsten schien das Treiben im »Tirol« keineswegs zu stören, im Gegenteil, es war ihm erwünscht, in seiner Nähe ein so bewegtes Leben zu wissen. Meist war er einsam unten m seinem Saal, in den kaum ein Ton von den Gesprächen im »Tirol« drang. Außerdem hatte das Haus noch eine ganze Reihe nur ihm bekannter, stets verschlossener Gemächer, in die er sich bisweilen aus unbekannten Gründen stundenlang verschloß. Hie und da kam er einmal auf eine Viertelstunde ins »Tirol« und setzte sich auf die Holzbank, um mit freundlicher Teilnahme dem Gerede aller dieser irrenden, jungen Menschen zu lauschen. Meist trug er einen schwarzen Sammetflaus und ein Barett über dem römischen Kopf, der wie gemeißelt schien. Für Hermann zeigte er eine ganz besondere Teilnahme. Oft durfte er ihn morgens zwischen neun und zehn Uhr in seinem Saale abholen; dann traf er ihn, in eine braune Kapuzinerkutte gekleidet, die er seinen Philosophenmantel nannte, die Kapuze über den Kopf gezogen. Er sagte zu Hermann, daß er sich in diesen Augenblicken vollkommen sammle und seinen Blick nach innen richte. So wie der Philosophenmantel des Apollonius von Tyana halte die wollene Kutte alle unerwünschten Strahlen der Außenwelt vom Inneren ab. Es war eine Meinung des Fürsten, daß alle Geschehnisse auf Strahlungen beruhen, und daß wir fortgesetzt den Einflüssen dieser Strahlen ausgesetzt sind. Ob wir wollen oder nicht, sie dringen in uns ein und werden Antriebe unseres Lebens. Wer aber das Dasein, davon unabhängig, beherrschen möchte, der müsse einen gepanzerten Willen und einen klaren Geist haben; nur so könne er sich gegen diese unerwünschten, von den meisten überhaupt nicht beachteten Einflüsse schützen. Die Fähigkeit dazu erwarb sich der Fürst jeden Morgen wieder, indem er eine Viertelstunde lang, ganz in sich selbst vertieft, gewissermaßen das von sich warf, was am Tage vorher Fremdes in ihn gedrungen war, und sich von neuem widerstandsfähig machte gegen die Anforderungen des beginnenden Tages. So fand er sich jeden Morgen wieder und hielt sein Leben, obwohl er sich tagsüber vom Instinkt leiten ließ, immer wieder fest in der Hand. Er zitierte antike Mystiker, besonders der neu-platonischen Schule, zur Bekräftigung seiner Behauptungen.

Hermann ging mit dem Fürsten an manchem verschneiten Wintervormittag durch den Englischen Garten nach der Altstadt. Der Fürst schien die ausgesprochene Absicht zu haben, ihn durch seine Meinungen zu beeinflussen; mit einer fast väterlichen Zärtlichkeit legte er ihm manchmal den Arm um die Hüfte, wenn er ihm von seiner Lebensweisheit mitteilte.

»Haben Sie bemerkt,« fragte er eines Morgens im weichen Schnee der Parkwege, unter den braunen, tropfenden Zweigen, »daß alle Menschen, mit denen Sie hier verkehren, von Dämonen besessen sind und darum ihr Gleichgewicht verloren haben?«

Hermann blickte den Fürsten sehr erstaunt an.

»Man muß mit allen guten Geistern Freundschaft halten, dann bringen sie das Nötige, als trüge man einen Zauberring. Aber Sie wissen, man darf ihn nie aus Uebermut oder zum Zeitvertreib drehen. Sehen Sie, ich schlafe auf einem harten Bett und kann von einer Handvoll Reis am Tag leben; ich habe sehr wenig Geld – früher hatte ich viel – und trotzdem leide ich nie Mangel. Der Zufall oder mein Schicksal oder vielmehr mein Wille hat mir die Möglichkeit gegeben, durch das Malen von Gläsern einer augenblicklichen Geldverlegenheit im Augenblick stets abzuhelfen. So muß das Leben sein. Wenn man erst genau weiß, was einem gut und was einem schlecht ist, was man will, und was man nicht will, dann kommt alles, was man braucht, und in allen Lebensabschnitten etwas Neues. Wenn ich zur Erfüllung meines Lebens eine Million brauche – vielleicht kommt die Zeit wieder einmal – so ist sie ganz gewiß da. Da sie mir aber im Augenblick ganz unnötig ist, wäre es ein Frevel gegen das Lebendige, sie zu erstreben oder auch nur zu beehren. Aber was tun jene modernen Menschen? Ich warne Sie vor allen Bestrebungen, die das Leben rationell durch ein Programm beeinflussen wollen; auch die ästhetischen Bestrebungen unserer Zeit sind gewollt und verstandesmäßig. Nur das, was aus der Notwendigkeit heraus von selber wächst und blüht, nur das ist gut. Ich warne Sie vor allen Menschen, die so anmaßend sind, daß sie die Welt verbessern möchten. Sie sind im Innern unfruchtbar und fühlen das Quellen des Daseins nicht.«

»Aber glauben Sie nicht, daß die Welt verbesserungsbedürftig ist?« warf Hermann verschüchtert ein.

»Aber ganz und gar nicht,« erwiderte der Fürst, »ich bin ein Antirevolutionär. Warum soll ich nicht zufrieden mit der Gesellschaft sein? Warum sollen Sie nicht? Noch nie, vielleicht außer der spätrömischen Zeit, konnte ein Mensch voll wirklichen eigenen Lebens so ungestört bleiben wie heute. Was verlangen Sie denn mehr? Sie können hier sein, in München, niemand nimmt Ihnen etwas; niemand stellt Ihnen nach dem Leben; Sie können wohnen, wo Sie wollen; Sie können denken, was Sie wollen; Sie können lieben und hassen, wen und was Sie wollen. Sie können gehen, wohin Sie wollen; Sie können schlafen und essen an jeder Stelle; Sie können beten zu welchem Gott Sie wollen; Sie können zu Freunden haben, wen Sie wollen, Exzellenzen oder Verbrecher, Fürstinnen oder Dirnen, wenn es Ihnen persönlich gelingt, solche Menschen an sich zu ziehen; es gibt ja keine Hemmungen mehr. Jeder kann tun und sein, was er will und wie er will. Wenn Sie wirklich ein eigenartiger Mensch sind, dann können Sie die Welt gar nicht verbessern wollen, dann haben Sie in dieser Zeit alles, was es überhaupt gibt.«

»Aber ich darf nicht reden, ich darf nicht wirken, wie ich will,« warf Hermann ein.

»Das brauchen Sie ja nicht. Wozu müssen Sie das, was Sie denken, in die Zeitung setzen? Das gehört nicht in die Zeitung. Die Zeitung ist ein Geschäft, was mich nichts angeht; sie ist ein Ersatz für platte, dumme Leute, die einen zu verdorbenen Magen haben, um von den wahren Quellen zu trinken. Natürlich können die Zeitungen nicht drucken, was Sie und ich eben sprechen, und wer es versucht, das doch für die Massen drucken zu lassen, der ist ein Tor.«

»Aber sind wir nicht in Deutschland und besonders in Preußen polizeilich zu streng bevormundet?«

»Aber ganz und gar nicht! Die Polizei, was kümmert mich die Polizei? Niemand kann mir etwas tun. Ich habe unter den Schutzleuten ganz vortreffliche Menschen kennengelernt. Natürlich, sie haben ihr Geschäft wie jeder andere, sie müssen leben. Ich male Gläser, sie verhaften Verbrecher. Sie können nicht verlangen, daß ein Polizist ein Philosoph ist und weiß, daß auch das Verbrechen in der Welt notwendig ist und in den Weltplan gehört; das kann der Schutzmann nicht wissen.«

»Aber der Gesetzgeber muß es wissen,« erwiderte Hermann, weniger aus bewußtem Widerspruch, als um den Fürsten zum Weiterreden zu veranlassen.

»Aber nein, woher sollte er? Er ist auch kein Philosoph. Er ist dafür da, Eigentum und Leben der Menschen zu schützen; er kann sich nicht mit der Frage abgeben, ob der Mörder vielleicht ein interessanterer Mensch ist, als der Gemordete. Das geht den Gesetzgeber nichts an, das geht uns an, die wir frei und unabhängig sind; wir, Sie als Künstler, oder ich als Philosoph, wir können diese Frage besprechen und dann leben. Aber das hat nichts zu tun mit dem Gesetzgeber. Sein Geschäft ist anders. Möchten Sie von Philosophen und Dichtern regiert sein? Ich nicht. Sobald man Ideen populär macht und danach regiert, entsteht die schrecklichste Plattheit. Meine Freiheit liegt gerade darin, daß eine Kluft der Verständnislosigkeit zwischen mir und den anderen liegt. Die anderen sollen die anderen bleiben, so habe ich sie lieb, und ich bin sicher. Wozu Aufklärung, Reformen, Fortschritt? Da kommen uns die anderen nur immer näher, und wir sind nicht mehr frei. So ist es in Amerika, dem Land der Unfreiheit, dort sind die anderen Herren; Leute wie Sie würden einfach zermalmt, von der Atmosphäre umgebracht.«

Der Fürst führte Hermann in das »Tal« und zeigte ihm die kleinen, einfachen Bierhäuser, in denen das vom Markte kommende Volk auf langen Bänken saß, aus Krügen trank und dazu scharfen Käse und Rettige aß. Der Fürst liebte es, in die düsteren Torwege zu treten und sich dort zu diesen unbefangenen Menschen zu setzen.

»Sehen Sie,« sagte er zu Hermann, »in dem unteren Volke in Süddeutschland hat sich, wenigstens seelisch, nichts geändert seit dem Mittelalter, ja man kann sagen: seit dem Anfang der Welt. Diese Schicht ist bewegt von den ursprünglichen und ewigen menschlichen Bedürfnissen und Begierden, und die suchen sie zu erfüllen, wie es eben geht. Sie grübeln nicht über Doktrinen und Theorien, sondern zerbrechen sich höchstens einmal den Kopf darüber, warum es ihnen jetzt schlecht geht und früher gut gegangen ist. Und was sie dann sagen, das ist oft ganz reine und gute Philosophie, besser als das, was man gedruckt lesen kann. Sie müssen oft mit solchen Menschen sprechen, und dann werden Ihnen alle sozialen, ethischen und ästhetischen Theorien schemenhaft erscheinen. Sie sehen dann nur noch natürlicher Notwendigkeiten des menschlichen Daseins, und wenn diese sich in einem klar und überzeugend ausdrücken, dann können Sie gut mit ihm sein und er kann Ihr Freund werden, wie hoch oder wie niedrig er auch moralisch, intellektuell oder sozial stehen mag. Nur der Zweckmensch, der materielle wie der intellektuelle, ist ganz und gar unerträglich.«

»Also Sie meinen die Rückkehr zur Natur?« fragte Hermann, »das ist gerade das, wonach ich mich immer gesehnt habe.«

»Aber nur nicht Natur im Rousseauschen Sinne! Denn für Rousseau und seine Anhänger ist Natur auch nur ein abstrakter Begriff. Nichts ist an sich natürlich. Auch das Natürliche ist geworden, gewachsen und scheint denen oft unnatürlich, die es nach ihrer Doktrin der Natürlichkeit beurteilen. So ist der Mensch von Natur weder frei noch gut, sondern das Natürliche ist die Abhängigkeit von Vergangenheit und Gegenwart und die Mischung von Gutem und Schlechtem. Der Stadtmensch ist geradeso natürlich wie der Bauer, denn er ist gewachsen wie er. Unnatürlich ist nur der gewaltsame Theoretiker und Revolutionär, der alles durcheinanderwerfen will.«

»Das ist für mich ein ganz neuer Gesichtspunkt,« rief Hermann erstaunt und nachdenklich.

In einem der kleinen Bierhäuser setzte sich der Fürst mit Hermann in eine dunkle Ecke. Von den umhersitzenden Männern in graugrünen, ländlichen Joppen mit breiten Uhrketten, an denen quer über die Weste gelbe Eberzähne hingen, wurde der Fürst verschiedentlich in einer Weise gegrüßt, die eine gewisse Vertraulichkeit und zugleich doch Hochachtung verriet.

»Alle diese Leute kennen mich,« sagte der Fürst zu Hermann, »und dennoch: ich glaube, niemand weiß, wer ich bin. Es macht mir Freude, hier ein zweites Leben zu führen und von den Menschen genommen zu werden, wie ich sie nehme, nicht als gut oder als schlecht, nicht als nützlich oder als schädlich, sondern als einer, der in diesem Augenblick das Gefühl und Bewußtsein des Lebens hat, in diesem Raum sitzt und das Düstere dieser morgendlichen Halle mitlebt, die dichte warme Luft, den Geschmack des Bieres, die Berührung des kühlen, feuchten Kruges, den Tabak, den scharfen Käse, und alles dies, was hier und in dieser Viertelstunde Leben ist.«

Zu Hermanns größtem Erstaunen beherrschte der Fürst, der das Hochdeutsche mit slawischem Tonfall sprach, die oberbayrische Mundart vollkommen und konnte auf viele Merkwürdigkeiten dieser Sprache aufmerksam machen, zugleich mit der Gelehrsamkeit eines Philologen und der Lebendigkeit eines Menschen, der überall nur das Weben des Daseins fühlt und nichts Totes und Langweiliges in sich hat. Aus Worten und Redensarten spürte er Erinnerungen an alte Bräuche und geheime Gefühlsweisen. Die Sprache war ihm so lebendig wie eine nervige, auf dem Tische liegende Hand, und er schmeckte sie wie das Bier im Krug oder den Tabak in der Pfeife, die er an solchen Orten unter dem Radmantel hervorzog.

Einmal sagte der Fürst zu Hermann auf dem Heimweg in einer sternenklaren, mondlosen Nacht, während sie an einer glitzernden, gefrorenen Wiese des Englischen Gartens entlang gingen:

»Fühlen Sie jene Atmosphäre, die aufsteigt aus allem, was täglich geschieht; sie entsteht durch ein Phosphoreszieren der Substanz. Sie fühlen sie in alten Städten, unter steinernen Bögen, unter den Brücken am Strome, in zerbröckelnden Häusern, in alten Schänken, in Dirnengassen, überall, wo seit alters das tägliche Leben webt, ungeachtet aller Moral und Weltanschauung. Dieser Reiz der Verwitterung heftet sich an alles Veraltende, Verworfene, Scheiternde, solange es noch nicht tot ist. Es braut wie ein Nebel über der Wasserscheide von Werden und Vergehen, wo irgendein individuell menschlicher Auftrieb – ein prometheisches Ich-betonen – wieder den Gesetzen der Vergänglichkeit im Schoße des Alls unterliegt; denn das All verneint das Individuum, bejaht nur – oder vielmehr ist – das Leben überhaupt. Nicht auf den Menschen, auf das einzelne Tier oder den einzelnen Baum kommt es dem Leben an, sondern auf alles Werden und Vergehen, und daran haben Würmer und Schmarotzer ebenso ihr Teil, wie das Wesen, das sie zerfressen. Ueberall aber, wo leise das Sterben menschliche Einzelanstrengung angreift, da dampft jene Mystik in einer besonderen Lebensintensität. Auch die neuesten Erfindungen, Automobile und Luftschiffe, die heute noch nackt und reizlos im Strome jenes mystischen Lebens ragen, sie werden demselben Reiz unterliegen, sobald sie lange im Gebrauch stehen, vielleicht überholt und halb verworfen sind, und ihre heute noch zu keck schreienden Formen wieder dem dämmernden Erdenschicksal des Zerfalls anheimfallen. Haben Sie bemerkt, wie jener Reiz auch in unterbrochenen Werken, etwa in stehengelassenen Neubauten knistert? Hier wollte der Mensch die Ortsgeister, die am Stoffe haften, durch ein Werk verdrängen, aber durch eine Katastrophe wurde die Herrschaft der Vernunft wieder besiegt, ehe sie sich noch ganz befestigte, und nun kommen die vertriebenen Geister um so begieriger an die alten Stätten zurück und nisten in Kellerlöchern und leeren Fensterrahmen.

Darüber aber spannt sich eine zweite, kosmische Welt der tiefsten Naturschauer, und heute ist in dieser Welt ein Fest: Die klare Sternennacht ohne den (zum Kreis der Erde gehörigen) Mond, das ist die zweite Sphäre, in die wir mystisch untertauchen können, wenn wir uns aus der warmen Umarmung jener phosphoreszierenden Substanz befreit haben. Soll ich es Ihnen in einem Bilde zeigen? Denken Sie sich, an einer Landstraße steht eine Schänke mit einer alten Türklinke aus Messing, die zahllose Einlaß suchende Handwerksburschen abgegriffen haben. Hier haftet der Schweiß von Dieben und Bütteln, von Liebenden und Dirnen, von Jugend und Krankheit, das ist die stoffliche Welt. Auf diese Klinke strömt das klare, starre Sternenlicht. Das ist das kosmische Sein, das seine reinen Strahlen über die phosphoreszierende Erde fließen läßt.

Im Inneren der Sahara gibt es eine Sekte des Islam, d.h. nur scheinbar gehört sie dem Islam an; was sie wirklich verehrt, sind uralte Ueberlieferungen, die wohl aus alten Kulten stammen. Ihr Herr lebt in einer Erdhöhle, tief mit seinen Weibern verkauert; nur in mondlosen, aber sternenklaren Nächten tritt er hervor, und da wartet auf ihn ein Schlitten mit zwölf weißen Gazellen, auf dem er durch die lichte Wüste jagt. Mond und Sonne flieht er; für ihn gibt es nur das Dunkel des Erdschoßes und die unerbittliche Klarheit des gestirnten Himmels.«

Hermann war der Wirklichkeit entrückt, während er sich plötzlich von dem Mantel des Fürsten eingehüllt fühlte.

»Hast du mich verstanden?« fragte dieser.

Hermann vermochte nicht zu antworten.

»Laß ab von den leeren Worten, in denen du bis jetzt gelebt hast, du bist es wert, daraus befreit zu sein. Stürze dich in alle Abgründe. Den Mutigen wirft derselbe Abgrund immer wieder hinauf, und nachher bist du um so fähiger, in die Höhe der kosmischen Welt emporzuschnellen. Halte dein Leben angespannt wie einen Bogen, und schieße den Pfeil nur ab, wenn die höchste Spannung erreicht ist. Dann spanne die Sehne wieder für lange ab, ehe du von neuem beginnst. Sei zeitweise enthaltsam, um dadurch intensiver zu werden, pflege deinen Lebenshunger durch Fasten. Tue das Aeußerste selten und dann so glühend wie möglich, und komme nie der Begierde durch zu frühe Sättigung zuvor. Mache dich frei von allem, was dich zu tief in die Welt der nützlichen und moralischen Werte verflicht. Zahle ihr ruhig den Tribut deines individuellen Lebens, sei dort fleißig, geschickt, zuverlässig, wohlhabend. Dann stört sie dich am wenigsten. Aber vergiß dort die wahren Lebenssubstanzen nicht. Dort ist der ewige Tod, aber hier braut das alte, heidnische Leben. Gib vor allem das Grübeln über dialektische, eingebildete Gegensätze auf, in denen sich die Gedanken der heutigen Gebildeten bewegen.«

»Aber wie denken Sie selbst über alle die Leute, die ins »Tirol« kommen?« fragte Hermann.

»Vergessen Sie nicht, daß ich das Leben lieb habe, und darum auch den Mückentanz irrender Menschen, der Tag und Nacht mein Haus durchzieht. Was sie reden, ist mir gleichgültig.«

Hermann kam nach solchen Nächten in rauschhafter Gehobenheit nach Hause. Die Lehren des Dr. Mück in seiner Heimatstadt – Sozialismus und Monismus – erschienen ihm nun wie ein abgestandener Trunk, den man seinem lechzenden Gaumen geboten hatte.


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