Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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Sechstes Kapitel

Faschingsehen

34

Die Angst um Cornelius war für Amélie fast ein willkommener Vorwand, um das, was sie mit Rittmeier erlebt hatte, von sich wegzuschieben. Gegen elf Uhr ging sie mit dem Fürsten durch die trüben, wie verschlafen scheinenden Aschermittwochstraßen nach dem Krankenhaus. Sie wurden nicht vorgelassen. Ein junger Arzt in weißer Operationsschürze kam heraus. Cornelius sei im Krankenhaus wieder ganz zu sich gekommen. Man habe ihm ein harmloses Schlafmittel gegeben, worauf er fest eingeschlummert sei, und würde ihn nun ruhen lassen, solange es irgend ging. Er hatte eine Gehirnerschütterung. Gefahr bestehe nicht, nur sei Schonung angezeigt. Die Herrschaften würden vielleicht am nächsten Tag wieder nachfragen.

Amélie ging allein, wie im Traum, durch die Straßen. Trotz der beruhigenden Mitteilung des Arztes fühlte sie sich kaum erleichtert. Jetzt, wo sie für Cornelius nicht mehr zu zittern brauchte, kam ihr die Demütigung ihrer Lage wieder zum Bewußtsein. Eine tiefe, sie lähmende Traurigkeit erfüllte sie. Sie fühlte, daß in ihrem Leben alles falsch und verkehrt war, und sie sah keinen Ausweg. In dieser Dumpfheit vernahm sie eine melodische italienische Musik aus einem Hofe dringen. Sie hörte ein Saiteninstrument und zwei etwas abgesungene, aber klare Stimmen. Das tat ihr wohl, und es war, als ob ihr Geist auf den Wellen der Musik schwamm und sich freier fühlte. Dann dachte sie an Cornelius. Wie schön wäre es, wenn sie ihn heute sehen könnte! Wieviel würde er ihr gerade heute sein, wie brauchte sie ihn in diesem Augenblick! Sie ging weiter durch die Straßen und sah mechanisch in die Auslagen der Läden. Da kam sie an einem Blumengeschäft vorbei, in dem Schneeglöckchen standen. Das ließ sie ans Isartal denken, wo jetzt schon viele blühen mußten, und sie erinnerte sich, daß ihr noch vor ein paar Stunden Cornelius vorgeschlagen hatte, heute mit ihr hinauszufahren. Vor ein paar Stunden! War es nicht, als ob Tage dazwischen lägen? Und dann fühlte sie plötzlich ein ganz gewöhnliches, alltägliches Mitleid und dachte:

»Ach, der arme Cornelius, wie hübsch wäre es jetzt, mit ihm hinauszufahren.«

Sie trat in das Blumengeschäft, kaufte Schneeglöckchen, um sie Cornelius zu schicken. Die Verkäuferin fragte, ob sie eine Karte dazu schreiben wolle? Nein, dazu konnte sie sich nicht entschließen. Aber Cornelius sollte doch wissen, daß die Blumen von ihr seien, und so trug sie sie selbst nach dem Krankenhaus zurück und gab sie dort der Schwester, die für Cornelius sorgte.

»Darf ich um den werten Namen bitten?« fragte die etwas ältliche Pflegerin. Amélie antwortete verlegen:

»Es ist nicht nötig: ich war vor einer halben Stunde schon einmal da.«

Dann eilte sie schnell auf die Straße hinaus. Draußen kam es ihr vor, als ob sie sich ein bißchen dumm benommen hätte, dann aber dachte sie leichthin:

»Er wird schon wissen, von wem die Blumen sind!«

Als Amélie an das Sendlinger Tor kam, brach die Sonne durch den Nebel, und man sah, wie blaue Felder des Himmels sichtbar wurden.

»Wie schade, wie schade,« dachte sie ein über das andere Mal, »daß wir nun heute nicht ins Isartal fahren können.«

Dennoch war ihr leichter zumut, gleich als ob sie mit dem Abgeben der Schneeglöckchen das meiste, was geschehen war, wieder gutgemacht hätte. Irgend etwas hatte sich doch zum Guten gewendet, fühlte sie. Was war es nur? Sie würde nun wahrscheinlich seine Frau werden; daran schien ihr kein Zweifel möglich.

Nach Hause wollte sie jetzt nicht gehen, das würde sie wieder an all das Gräßliche der Nacht erinnern, und so beschloß sie, in dem vegetarischen Gasthaus zu essen, wo sich ein großer Teil der Schwabinger hygienisch und wohlfeil ernährte. Das ungewohnte Essen im Gasthaus hatte einen entschiedenen Reiz für Amélie, der durch die leise Traurigkeit und Dumpfheit, die noch in ihr waren, durchaus nicht beeinträchtigt wurde. Sie setzte sich in dem überfüllten Raum in eine Ecke und suchte sich mit großem Bedacht ihre Lieblingsgerichte aus, eine Artischocke und dann zwei verschiedene Mehlspeisen. Sie fühlte sich fast wohl mitten in dem Kommen und Gehen, das sie umgab, und am liebsten hätte sie sich nach Tisch eine Zigarette angezündet. Das war aber hier nicht erlaubt. So begab sie sich in den Hofgarten; die Sonne war nun ganz hervorgetreten und schien warm durch die noch kahlen Bäume, deren Schatten auf den Kiesboden fielen; man hatte bereits einige Tische und Stühle herausgerückt, die sich unbehaglich kalt anfühlten. Die Türen zu den Kaffeehäusern standen offen, Kellnerinnen eilten unter den Arkaden hin und her. Amélie ging nunmehr, an Wirtshausgepflogenheiten gewöhnt, mit Sicherheit zwischen den Tischen umher, in der Hoffnung, Freunde zu treffen. Während sie so wie ein Feldherr das Schlachtfeld überblickte, wurde sie plötzlich bei ihrem Namen gerufen; an einem kleinen Tischchen saß die Baronin Wernitz und trank Kaffee. Die Baronin fragte angelegentlich nach Dr. Cornelius; etwas verlegen und hastig gab ihr Amélie die beruhigende Auskunft, alles sei gut und gar nichts Schlimmes zu befürchten.

»Nun, das ist ja ein wahres Glück,« rief die Baronin aus, und Amélie erzählte ihr, fast belustigt, um nicht länger über Cornelius sprechen zu müssen, daß Behrent auf die Polizei gebracht worden sei. Die Baronin forderte sie auf, bei ihr Platz zu nehmen, die verflossene Nacht bot Gesprächsstoff. Ihren scharfen Blicken entging nicht, daß Amélie sich in einer ungewöhnlichen, inneren Erregung befand, die sie ungeschickt durch Lebhaftigkeit zu verbergen suchte. Die Baronin hatte während der Nacht mancherlei beobachtet, sich über Amélie allerhand Gedanken gemacht und gefunden, es sei schade für dieses nette und begabte Mädchen, daß es so verlotterte. Deshalb fragte sie:

»Was haben Sie denn nun eigentlich vor?«

»Ach, gar nichts; eigentlich hätte ich mit Dr. Cornelius ins Isartal fahren sollen, aber nun ist diese dumme Geschichte dazwischengekommen.«

Die Baronin lächelte:

»Nein, ich meinte, was Sie überhaupt für Pläne haben, wenn es nicht indiskret von einer alten Frau ist, Sie so etwas zu fragen.«

»Nein, gar nicht,« erwiderte Amélie etwas unsicher; sie fand keine Antwort, sie wußte selbst nicht, was sie vorhatte und konnte doch nicht sagen, daß sie nun wahrscheinlich Cornelius heiraten würde. Sie errötete.

»So ein Aschermittwoch ist ein böser Tag,« sagte die Baronin, »wenn Sie heute frei sind, mache ich Ihnen den Vorschlag: gehen Sie jetzt nach Hause und schlafen Sie ein bißchen und kommen Sie dann abends zu mir zum Essen.«

Amélies Augen leuchteten auf bei diesem Vorschlag, und sie rief wie ein Kind:

»Ach, das ist aber schrecklich nett von Ihnen, Frau Baronin!«

Amélie ging vergnügt die Ludwigstraße hinauf, wo unter dem scharf blauen Himmel die langen Fensterreihen in der Nachmittagssonne blitzten, und freute sich wieder ihres Lebens. Wie entzückend von der Baronin, sie einzuladen! So eine kluge und lustige alte Dame! Alles war wieder gut und Amélie trat vergnügt in das »Tirol«.

Dort saß Hermann allein in einem Sessel und sann vor sich hin. Vor ihm auf dem Tisch lagen Zigarettenstummel mit Goldmundstück zwischen zerstreuter Asche.

»Wo hast du denn über Mittag gesteckt?« fragte er.

»Ich habe in der Stadt gegessen,« erwiderte Amélie übermütig, »und dann im Hofgarten mit der Baronin Wernitz Kaffee getrunken. Denk' dir nur, sie hat mich für heute abend eingeladen; ist das nicht entzückend von ihr?«

»Das Leben ist ein Dreck, ein elender Dreck!« rief Hermann.

Amélie erschrak einen Augenblick. Es war ihr, als ob er wieder an das kaum Vergangene mit diesen Worten rührte. Sie antwortete nicht. Sie wollte in ihr Zimmer gehen. Da sagte Hermann, der grau, bleich und wie aufgeschwemmt in seinem Sessel saß:

»Also dann bist du nicht zu Hause heute abend?«

»Nein, warum fragst du?«

»Ach, ich wollte es nur wissen, die Lina Schüler kommt nämlich her. Nun, dann bin ich halt mit ihr allein. Meinst du übrigens, daß ich sie heiraten soll? Wäre das gut?«

Amélie war betroffen. Sie drehte sich plötzlich zu ihm herum, und dann mußte sie lachen, wie er so mißmutig dasaß und von heiraten sprach.

»Nein, ganz im Ernst,« sagte er, »was hältst du davon? Glaubst du, daß wir miteinander glücklich werden?«

»Du und die Lina?« fragte Amélie gedehnt, »ach ja, warum nicht? Hast du denn schon mit ihr darüber gesprochen?«

»Nein, ich bin ja auch noch gar nicht entschlossen, ich meinte nur so. Also du glaubst, wir passen zusammen?«

»Das habe ich nicht gesagt, das mußt du selber am besten wissen, da kann niemand raten. Hast du sie denn lieb?«

»Ach – lieb,« sagte Hermann skeptisch, »ich bin gegen die Liebesehen. Die Vernunftehen geraten meistens viel besser. Uebrigens ist ja alles gleich. Das Leben ist ein Dreck, so oder so.«

»Du hast einen Kater, Hermann,« erwiderte Amélie lachend, »das ist alles.«

»Möglich, ich werde ein bißchen ins Cafe gehen.«

Amélie legte sich noch ein wenig nieder.


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