Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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47

Hermann ging Tag für Tag in den abgelegenen Vierteln der Stadt umher, wo er sicher war, keine Bekannten zu treffen. Stundenlang schlenderte er vor den Läden mit billigem Kram, besonders in den Gassen der Althändler und Tändler herum. Einmal sah er vor einem solchen Laden, wie eine runzlige Hand mit schwarzen Nägeln aus dem Inneren einen Schlagring in das Schaufenster legte. Die Hand war wie eine Tierpfote, die in der Erde gewühlt hatte. Wo hatte doch noch kürzlich ein Schlagring eine Rolle gespielt? Vielleicht in seinen Träumen? Ja, in der Schenke des Schwarzen Wirtes lag immer einer auf dem Tisch. Hermann ging in den Laden, fragte schroff und kurz nach dem Preis und ließ das kühle, eiserne Ding in die Tasche gleiten.

Oft saß er, wenn es wärmer war, auf den Bänken in den Anlagen, hier und da sprachen ihn fremde Menschen an. Meist kam es darauf hinaus, daß einer von ihm verlangte, er möchte ihm ein Bier bezahlen, Hermann tat es gern und lauschte verworren und verwundert der Gesprächigkeit seines Partners. Einmal ging ihm ein Kind um ein Fünferl an, er gab es ihm, und nun kam die Mutter dazu, eine breite Person, dankte und erzählte ihm die ganze Geschichte ihrer Familie, besonders von ihrem Mann, der ein Trinker sei und sie verlassen habe, und dergleichen mehr. Hermann sah in allen diesen Dingen mehr als das einmalige, augenblickliche Erlebnis, er fühlte sich in dem Zustand, von dem der Fürst einmal gesagt hatte, man sähe darin alle Dinge mystisch umrändert, als ob die Umrißlinie jedes Menschen und jedes Gegenstandes seltsam strahlte. So ließ sich Hermann weitertreiben, ohne sich Rechenschaft über die Eindrücke zu geben, und nachts fiel er todmüde ins Bett.

Einmal erzählte ihm ein Mensch mit dünnem, graublondem Bart auf einer Bank an der Isar von seinen gescheiterten Hoffnungen. Er war ein verbummelter Student. An all seinem Unglück sei »sein Mensch« schuld. Sie war anfangs seine Wirtin.

»Damals war sie ein patentes Weib, sag' ich Ihnen.«

Erst war's ihm nicht recht gewesen, daß sie auf die Gasse ging, nun aber, wo sie ihn zugrund gerichtet hatte, konnte sie ihn auch ernähren. Er verlangte ja so nicht viel. Was aß er denn? Eine Suppe und etwas Wurst. Kam das überhaupt in Betracht?

Diesen Mann traf nun Hermann öfters auf der Bank. Es zog ihn zu ihm und er ging mit der Absicht hin, ihn zu sehen und vor allem ihm zuzuhören. Er selber sagte fast gar nichts. Einmal deutete der Mann auf einen Hund und sagte:

»Sehn Sie, was der Hund da macht? Das glauben Sie nicht, daß einer kommt und das aufhebt. Und doch ist's so. Der Weißgerber, der braucht den Dreck. Ich weiß wohl, ›mein Mensch‹ ist auch nur ein Stück Dreck, und keiner rührt sie mehr an, kaum, daß sie noch einmal eine Mark mit heimbringt. Aber ich bin wie der Weißgerber, ich heb' das Stück Dreck auf und kann's nicht loslassen. Das verstehen Sie nicht, wie?«

Der Mann lachte und zeigte seine verdorbenen Zähne unter dem schmutzigen Bart.

»Kommen Sie mit, heut ist sie bei ihrer Tant' in Höllriegelskreuth, wir spielen Karten,« fuhr er fort.

Hermann folgte ihm auf seine dringenden Bitten vier Stiegen hoch in ein feuchtes Vorstadthaus. Er saß mit ihm zusammen bis in die Nacht, sie tranken Bier, das Hermann von einem struppigen Mädel aus dem Haus in einer Wirtschaft holen ließ, und spielten Karten. Plötzlich fragte ihn der Unbekannte:

»Halten Sie Selbstmord für eine Sünde?«

Hermann meinte: Nein, man habe ein Recht, ein Ende zu machen mit einem Leben, das einem doch nichts gibt.

»Das ist auch meine Meinung,« sagte der Fremde, brachte Hermann wieder die Treppe hinunter und sagte ihm noch den Weg, auf dem er zu einer der bekannteren Straßen kam.

Unter dem Einfluß des Bieres gewann Hermann immer mehr die Fähigkeit, sich von allen Hemmungen des bewußten Lebens zu befreien. Lockte ihn eine Farbe, ein Schatten, ein Geräusch, ein Geruch, so folgte er, ohne zu fragen, wohin er geriet.

Einmal trat er an einem trüben föhnigen Nachmittag in einen Hof. Er öffnete wie im Traum eine Holztür nach einem dunklen Verschlag. Dort saß auf einem niedrigen Lager eine ältliche Person, ihre Kiefern schienen zu beben.

»Sie woll'n g'wiß zur Hoagerin?« fragte sie.

»Ja,« antwortete Hermann aufs Geratewohl.

»Die Mutter is oben,« erwiderte die Frau. »Komm'n S' nur mit.«

Hermann folgte ihr über eine enge Holzstiege. Oben lag in einem helleren Zimmer eine tote Greisin.

»Sie is jo noch ganz scheen,« sagte die Frau und führte Hermann ans Bett. Sie hob ein wenig die Röcke der Toten.

»Schaun S', mir ham's fein herg'richt.« Hermann sah, daß die Leiche dicke weiße Wollstrümpfe anhatte.

»Der Herr is g'wiß von der Totenbeschau?«

»Ich komme später wieder,« antwortete Hermann und ging, innerlich völlig erstarrt.

Oft lockten ihn auch Dirnen in ihre Behausungen, aber nur selten folgte er ihnen, und wenn er auch wirklich durch ihre Tür getreten war, so warf er nach einigen Minuten ein Geldstück hin und verließ sie wieder.

Einmal an einem Regennachmittag rief ihm jemand etwas aus einer Droschke zu; das Fuhrwerk hielt, und eine Frau beugte sich heraus. Sie winkte ihn herbei, und ehe er sich's versah, saß er bei ihr im Wagen. Sie sah merkwürdig heruntergekommen aus und war verschlissen gekleidet. Unter einem Schal trug sie einen großen Gegenstand eingewickelt. Da erkannte Hermann plötzlich Bettina Selch. Mit weinerlicher Stimme, und einen etwas alkoholisch riechenden Atem von sich gebend, sagte sie:

»Ja, mein Bubi, so is', wie geht's dann dir? Auch net so beriehmt, wie's scheint?«

Und nun erzählte sie ihm, daß sie ihr ganzes Geld in Monte verspielt habe, und daß an allem der Maxl schuld war, der an ausgeschamter Hallodri sei, an ausgeschamter, und sie nun zwinge, nachts auf die Straße zu gehen. Sie wohne mit ihm in einer Dachwohnung, im Augenblick ginge sie eine kleine Pendule versetzen, die ihr als letzter Rest einer großartigen Einrichtung geblieben war.

»Davon darf aber der Maxl nix wissen; seit drei Dag sitzt er wegen nächtlicher Ruhestörung, aber nächste Wochen kommt er frei, und da geht das alte Elend wieder a!«

Als sie bei der Pfandleiherin ankamen, bat Bettina Hermann, er möchte einen Augenblick im Wagen sitzenbleiben, dann käme sie zurück und sie wollten weiter zusammen plauschen. Es sei so schön, einmal jemand aus der früheren guten Zeit wiederzusehen, wo sie noch die Bettina war, jetzt heiße sie halt wieder Betty. Hermann wartete eine Viertelstunde nachdenklich in dem Wagen, ja, er wartete mit einer gewissen Ungeduld. Als sie wieder zu ihm kam, lag in ihrem Gesicht etwas von ihrer früheren Ausgelassenheit; sie rief:

»Jetz' hab' i wieder a Göld, jetz' kenne ma a paar Dag' lustig sein, bis der elendige Maxi wieder heimkommt. Kein Pfenning darf er dann mehr finden, denn sonst nimmt er mir's und versauft's. Jetz' erzähl' emal, Bubi, wie geht's dann dir?«

Hermann wollte nicht mit der Sprache herausrücken, aber Bettina merkte doch, daß es ihm schlecht ging, und sie fragte:

»Bist auch in Geldschwulitäten?«

»Ach nein, das nicht.«

»So, das ist die Hauptsach'.«

Der Wagen hielt vor einer Mietskaserne, Bettina zahlte den Kutscher, zog dann Hermann durch einen trüben, unsauberen Hof und führte ihn im Hinterhaus über übelriechende, düstere Stiegen. Im obersten Stock schloß sie eine braune Holztür auf und schob ihn in eine schräge Mansarde, wo ein Eisenbett mit buntem Bezug in der Ecke stand, und auf einem Kochofen sich allerlei Töpfe befanden. Einige Reste der früheren Herrlichkeit waren freilich in dem kümmerlichen Raum zu sehen. Da hing neben einem zerbrochenen Spiegel ein etwas zerrissenes Spitzenpeignoir, auf dem Waschtisch standen noch ein paar Bakkaratflakons. An der Tür hing eine gemslederne Hose, ein grüner Männerhut und eine kurze Pfeife mit buntem Porzellankopf; ein paar schwere, genagelte Schuhe standen am Boden.

»Das ist dem Maxi sei' G'lump,« sagte sie voll Haß, »aber jetz' laß uns nimmer dra' denken. Du bleibst halt bei mir und treest' mi a bissel über mei' Elend.«

Und so blieb Hermann die Nacht und den folgenden Tag und noch den nächsten Abend bis Mitternacht.

Zuerst hatte ihm Bettinas Gesprächigkeit wohlgetan. Es war etwas Herzliches in ihr, und all das Groteske von einst war in den Hintergrund getreten, seitdem es ihr schlecht ging und sie in einer Dachkammer wohnte. Sie mußte wirklich viel durchgemacht haben, und Hermann hatte Mitleid mit ihr. Von dem Maxl erzählte sie die ärgsten Roheiten, wie er sie schlug und einfach ihr Zuhälter war. Als sie erfuhr, daß Hermann noch Geld hatte, sagte sie:

»Woast, i bin net mehr anspruchsvoll, wie frieher; i wär' scho' zufrieden, wenn mich oaner als Haushälterin nehma wollt' und a biss'l gern haben obendrein. Wie wär's, wenn's mir zwoa z'sammen probierat'n?«

Der Gedanke, so ganz aus seiner früheren Welt zu sinken und mit ihr irgendwo am Ende der Stadt ein dumpfes Dachsleben zu führen, reizte Hermann, und er sagte, er wolle sich's überlegen. Er ging nach Hause. Als er abends wieder zu Bettina kam, sagte sie ihm zwischen ihren Küssen, er müsse sich jetzt bald entscheiden, denn der Maxl käme übermorgen zurück; da wär's schon besser, wenn er das Nest überhaupt leer fände. So mußte er versprechen, sie morgen mit ihren Habseligkeiten abzuholen und mit ihr irgendwo ein Zimmer in einer anderen Gegend zu beziehen. Bettina war glückselig, beide gingen hinunter und kauften so viele Flaschen Bier, als sie überhaupt tragen konnten, und nun folgte in dem kleinen Dachzimmer eine Orgie im Bierrausch.

Gegen vier Uhr früh erwachte Hermann. Er zündete ein Licht an, da lag neben ihm die betrunkene Person mit dem wirren Haar und den unsauberen Händen, aus ihrem zerknitterten Hemd ragte das weiße Fleisch. Hermann fühlte vom vielen Trinken Uebelkeit; stöhnend erhob er sich und zog sich an. Nicht eine Minute länger wollte er in diesem Raum bleiben; während er schon nach der Tür tastete, erwachte Bettina und fragte:

»Bubi, Bubi, wo gehst dann hin?«

Er sagte:

»Ich muß ein bißchen an die Luft gehen, ich halt's hier oben nimmer aus,« und ehe sie noch aufgestanden war, eilte er hinaus.

In einer Art Halbtraum, unterbrochen von ganz klaren Vorstellungen, eilte Hermann durch die Straßen; er merkte, daß er an dem Tiefpunkt seines Zustandes angekommen war. Er hatte ein Grauen vor allem Geschehenen; dann wurde er plötzlich weich und dachte an Amélie und an reine Frauen, die ihn aus alledem hätten herausreißen können. Aber die hatte er sich verscherzt, sein Leben war vernichtet, verdreckt. Vor der Welt der Bettina Selch graute ihm, das andere aber, das war ihm nun verschlossen für immer.

Er kam an die Isar, aus einer Schenke mit roten Vorhängen ertönte ein erstickter Lärm. Er dachte an den Schwarzen Wirt, schlich vorbei und hörte mit einem gewissen Schauer eine bekannte Melodie, die aus dem Raume klang. Dann kam er auf die Brücke und beugte sich hinab, noch immer dumpf von dem vielen Bier, das er in der Nacht getrunken hatte; da fiel ihm plötzlich der Unbekannte ein, mit dem er in der Wohnung Karten gespielt und der gefragt hatte: »Halten Sie Selbstmord für eine Sünde?« Nein, es war keine Sünde, wiederholte er sich; es war die einzige Lösung aus einem Zustand wie dem seinigen, und ihm war, als ob die Dumpfheit, die, soweit er sich bis in seine früheste Kindheit entsinnen konnte, über ihm gelastet hatte, plötzlich einer unbekannten Klarheit Platz machte. Er sah auf einmal alle Dinge durchsichtig und rein und ihm kam vor, als ob er zum erstenmal in seinem Leben etwas ohne Trotz, sondern in Hingebung tun würde, wenn er jetzt ein Ende machte; ohne viel zu überlegen stürzte er sich über das Geländer der Brücke hinab.


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