Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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Drittes Kapitel

Das Dionysosfest

17

Im Vorzimmer einer Münchener Kunstschule warteten mehrere junge Damen. Sie wollten bei dem Leiter Hans von Luckow ihren Eintritt anmelden. Amélie saß in Trauerkleidung, die zu ihrer Blondheit trefflich stand, unter ihnen. Sie war darauf gefaßt, daß es hier nicht so gemütlich zugehen würde, wie beim Prof. Stettner zu Hause. Als sie zu dem gefürchteten künftigen Lehrer ins Zimmer trat, erstaunte sie, einen verhältnismäßig jungen Mann zu sehen. Hans von Luckow war kaum über dreißig und verriet durch seine schlanke, kräftige Gestalt, das auffallend blonde Haar und die offenen, blauen Augen den Mann von der Wasserkante. Ohne den starken, etwas herabhängenden Schnurrbart und das wirre Haupthaar hätte man ihn leicht für einen preußischen Gardeoffizier in Zivil halten können. Amelie blieb in ihrer schüchternen Verwirrung an der Türklinke hängen. Luckow sprang sofort auf sie zu, machte sie los und blickte sie mit lustigen Augen an. Sie konnte nicht verstehen, daß dieser, ihr kavaliermäßig entgegentretende noch junge Mann ihr Lehrer sein sollte. Gleichzeitig merkte sie schnell, daß sie ihm gefiel.

»Na, also Sie wollen Künstlerin werden, gnädiges Fräulein?« fragte er lächelnd, als sie Platz genommen hatte, »wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?«

Amélie glaubte, er wolle scherzen, aber ihre Schüchternheit war noch nicht so weit überwunden, daß sie auf seinen Ton hätte eingehen können.

»Ganz im Ernst,« fuhr er fort, »das müssen Sie mir sagen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Künstlerin zu werden? Ich muß diese Frage an alle jungen Damen richten, die sich an mich wenden.«

Amélie wurde immer verlegener. Darüber hatte sie doch noch nie nachgedacht. Sie wollte Malerin werden, wie man eben etwas tut, das einem gefällt. Am Ende machte er sich über sie lustig. Dabei sah er sie stets mit seinen vergnügten blauen Augen an und lächelte ein wenig. Manchmal steckte er ein Schnurrbartende in den Mund und Amelie hatte den Verdacht, er täte das, um zu verbergen, wie er über sie lächelte.

»Na, also sagen Sie mir zunächst, treiben Sie die Kunst zum Vergnügen, oder müssen Sie Geld verdienen?«

»Oh, ich will Geld verdienen,« antwortete Amelie eifrig.

»Ich meine, ob Sie es müssen?« betonte Luckow.

»Ach ... nein ... das heißt ... ja doch –« stammelte sie unsicher.

Luckow lachte und ließ den Schnurrbart los.

»Also ich weiß schon. Sie haben sich zu Hause mit Ihrer Familie nicht vertragen, und nun wollen Sie hier Ihr Glück suchen. Sie träumen von Selbständigkeit und Unabhängigkeit Ihrer Familie gegenüber. Wenn Ihnen das aber mißglückt, so können Sie jederzeit nach Hause zurückkehren und finden ein warmes Eckchen. Ist es so?« fragte er scheinbar triumphierend.

»Ach, ich kann das nicht so schnell erklären,« antwortet« Amélie, ängstlich ausweichend. Woher er das alles nur so genau wußte? Sollte ihm Kurt geschrieben haben? Aber der ahnte ja nicht, daß sie in die Luckowschule gehen wollte.

»Ihre Sachen, die Sie mir zur Probe geschickt haben, habe ich angesehen,« fuhr Luckow ernster fort, »da heißt es fleißig sein, vor allem Zeichnen lernen.«

»Glauben Sie, daß ich Talent habe?« wagte Amélie schüchtern zu fragen.

»Talent!« sagte Luckow geringschätzig, »das haben alle. Wenn es das allein wäre! Es gibt kaum ein junges Mädchen, das nicht irgendein Talent besitzt, etwas nachzumachen, was man ihr ein paarmal vorgemacht hat, mag das nun Kunst, Krankenpflege, Unterricht oder Kochen sein. Auch Sie, mein liebes Fräulein, haben sicher zu allen diesen Dingen Talent, nicht nur für Malerei. Sie unterschätzen sich, wenn Sie diese Einschränkung machen. Aber Sie überschätzen sich, wenn Sie glauben, diese Talente seien irgend etwas Wesentliches und Besonderes. Die Frage ist nur, ob Sie Fleiß, Ernst und die Fähigkeit besitzen, sich wirklich zu sammeln und zu vertiefen. Na, das werden wir ja in den nächsten Wochen sehen.«

»Meine Arbeiten sind wohl sehr schlecht?« fragte Amélie entmutigt.

»Aber ganz und gar nicht, nicht schlechter als die der anderen.«

»Würden Sie mir nicht zum Künstlerberuf geraten haben?« fuhr Amélie fort, indem sie die Tränen bekämpfte.

»Nein, ich rate niemals einer Frau dazu, im Gegenteil, ich möchte allen abraten, aber da Sie sich es einmal in den Kopf gesetzt haben, dann versuchen Sie es nur. Falls Sie zufällig zu den wenigen gehören, welche die Eigenschaften besitzen, die ich eben nannte, können Sie es zu achtbaren Leistungen bringen, die man auch wirtschaftlich einigermaßen verwerten kann. Ich werde Sie zuerst Ornamente aus Pflanzenformen entwickeln lassen.«

Amelie brach in Weinen aus. Luckow schien das gewöhnt zu sein, er nahm wieder ein Schnurrbartende in den Mund.

»Ich weiß, ich habe Sie entmutigt, aber das ist meine Pflicht, liebes Fräulein. Seit zehn Jahren kommen junge Damen aus Nord- und Mitteldeutschland hierher und wollen dasselbe wie Sie, und nur sehr wenige erreichen etwas Bemerkenswertes. Es ist meine Pflicht, Ihnen das vorher zu sagen. Ich kann nur noch hinzufügen: halten Sie sich im Verkehr an die, welche am meisten arbeiten und am wenigsten schwatzen, vergessen Sie Ihre gute Erziehung nicht, bleiben Sie eine junge Dame, machen Sie sich keine Illusionen vom Münchener Künstlerleben, und gehen Sie der Bohème aus dem Wege. Wenn Sie dann auch nicht malen lernen, so haben Sie nichts verloren, Sie erweitern Ihre Erfahrungen, und das ist für jede Frau nützlich. Wenn der Mann, den Sie wahrscheinlich in nicht zu ferner Zeit heiraten werden, nicht gerade ein Dummkopf ist, dann wird ihm ein kluges Mädel lieber sein, als ein dummes.«

Er reichte ihr fast kameradschaftlich die Hand und lachte sie wieder vergnügt an.

»Oh, Sie denken ganz falsch von mir,« flüsterte Amélie, der noch die Tränen in den Augen hingen.

»Ich weiß,« erwiderte er, »Sie denken gar nicht an Heiraten. Na, nun gehen Sie nach Hause, oder schauen Sie sich München ein wenig an, und kommen Sie morgen gut ausgeschlafen zum Unterricht.«

Amélie ging nachdenklich in ihre Pension zurück. So hatte noch kein Mensch mit ihr gesprochen. Manchmal wollten in ihr Gedanken aufkommen wie: »Der Philister ... was weiß denn der! Ich gehe in eine andere Schule.« Aber seine Person hatte sie doch gefangengenommen. Sie konnte sich dem Reiz seines überlegen wohlwollenden Tones, der sich mit seiner jugendlich kavaliermäßigen Art verband, nicht entziehen. Außerdem hatte sie große Hochachtung vor seiner Gescheitheit.

Amélie saß von jetzt ab an einem breiten Zeichentisch in der Luckowschen Schule. Neben ihr befanden sich junge Mädchen und Herren, die wie sie nach frischen und trockenen Blättern und Früchten Ornamente zeichneten. Sie fand diese Tätigkeit sehr reizvoll: Sie verschaffte den Genuß des eigenen Erfindens, verbunden mit der Sicherheit, welche die Vorlage gab. In ihrer Umgebung fühlte sie sich sehr fremd. Einige junge Mädchen saßen meist still bei der Arbeit und sprachen wenig, andere rannten viel umher, einzelne duzten sich mit den jungen Herren, was Amélie sehr auffiel. Die Mädchen erinnerten sie stark an Lea Knapp, nur waren sie etwas ungepflegter, manche aber auch hübscher. Die meisten trugen fußfreie Reformkleider über teils schlanken, aber häufiger über plumpen, formlosen Körpern; unter schlecht frisiertem Haar sah man einige Gesichter von fesselndem Ausdruck, aber öfter von gouvernantenhafter Ueberlegenheit oder dienstmädchenhafter Derbheit. Amélies natürlicher, in ihrer weiblichen Koketterie wurzelnder Geschmack erlebte große Ueberraschungen. Hatte ein Mädchen eine recht grob gewölbte Bauernstirn, so trug sie gewiß einen Madonnenscheitel, der ein liebliches Gesicht voraussetzt. Eine besaß eine besonders häßliche, formlose, große Nase. Als wolle sie sie recht zeigen, trug sie die Haare in breiten Strähnen so tief über die Stirn gelegt, daß die Nase wie unter zwei Vorhängen heraushing. Hatte eine plumpe Hände, so trug sie lange Aermel, so daß die Wurstfinger unvermittelt hervortraten, besaß sie aber für eine Frau zu muskulöse Arme, dann konnte man sicher sein, daß sie sie entblößte. Das Auffälligste aber war dies: je nötiger eine ein Mieder brauchte, ob sie nun von weiblichen Formen zuviel oder zuwenig hatte, um so sicherer trug sie keins. Eine solche Orgie von Ungeschmack hatte Amélie bisher nie für möglich gehalten; das ging doch noch viel weiter als Leas »persönlicher Stil«, und da ihr Instinkt immer noch stärker war als die neuen Lehren, die sie sich einverleibt hatte, so fragte sie sich harmlos: »Sind das wirklich Künstlerinnen, die ihr Leben dem Schönen gewidmet haben?« Dann erinnerte sie sich aber schnell, daß es diesen Frauen ja nicht auf das Schöne, sondern auf das »Charakteristische« und »Eigenartige« ankam. Dies wollten sie ausdrücken, und auch der Feind mußte zugeben, daß ihnen das gut gelang.

Der Ton der Herren in der Malschule beunruhigte sie aufs äußerste. Ihr Benehmen hatte nichts von der wohlerzogenen, wenn auch gemütlichen Kurmacherei, die sie von ihrer Vaterstadt her gewöhnt war, noch weniger von Erichs weltmännischer Freiheit. Die meisten trugen lange Künstlermähnen, fußfreie Hosen und waren nicht besonders gut gewaschen, manche faßten die Damen unbekümmert an. Mehrere trugen eine finstere Gekränktheit im Gesicht, die Amelie im stillen für den Ausdruck innerer Bedeutung hielt. Immer waren sie über irgend etwas – offenbar besonders über die gegenwärtige Weltordnung – empört und stets zu Streit und Widerspruch geneigt, noch ehe der andere etwas Bestimmtes gesagt hatte. Andere waren derbe, gemütliche Kerle ohne Belang.

Amélie hütete sich, trotz mancher instinktiven Abneigung, dieses Leben ernstlich zu verurteilen, sie wollte sich nicht gern zugestehen, wie unangenehm es sie im Grunde berührte. Das waren doch Künstler, die über den Durchschnitt der Menschen emporragten, ihr eigenes Leben führten und ihre eigenen Formen hatten. Ja, sie kam sich selbst gering vor, und fühlte sich wieder als die kleine Mely von einst, weil sie so wenig dahinein paßte.

Es fügte sich, daß sie einen dauernden Platz neben einer Dame fand, die etwas über fünfundzwanzig sein konnte. Ihr brünettes, ovales Gesicht, über dem sie eine sorgfältige, zu den lieblichen Linien passende glatte Frisur trug, war stets mit Aufmerksamkeit über das Zeichenblatt geneigt, auf dem ihre kräftigen Hände eifrig beschäftigt waren. Sie sprach sehr wenig. Hier und da aber ergab das Nebeneinanderarbeiten dieser Dame und Amélies kurze Gespräche. Amélie fühlte sich von der stillen Frau Dr. Thea Oesterot angezogen. Ihr war, als gewähre ihr die Nähe dieser überlegenen Frau eine Art Halt gegenüber der Umgebung. Frau Oesterot, die bemerkte, daß Amélie schüchtern war und sich fremd fühlte, dehnte nun hier und da die Gespräche mit ihr aus, ließ sich von ihr erzählen und lobte es, daß Amélie, obwohl sie wirtschaftlich nicht dazu gezwungen war, einen Beruf ergriff. Das tat Amélie wohl nach der Enttäuschung, die in ihr die Unterredung mit Hans von Luckow bewirkt hatte. Dieser kam häufig zur Korrektur und schien es zu billigen, daß Amélie bei Frau Oesterot saß.

»Sie haben in dem armen Fräulein Sanders etwas Schönes angerichtet,« sagte diese eines Tages zu ihm, als er ihre und Amélies Arbeiten verbesserte, »Sie besitzen ja ein wahres Talent, Frauen von der Kunst zu entmutigen.«

»Es freut mich, daß Sie das anerkennen,« erwiderte Luckow lachend. »Wenn eine junge Dame das verträgt und dann wiederkommt, so ist das schon eine kleine Probe für ihren Ernst. Na, Fräulein Sanders ist ja wiedergekommen; und was Sie da gemacht haben,« wendete er sich zu ihr, »ist ganz nett; nur so weiter.«

Dann ging er zu anderen.

»Er ist famos, nicht?« sagte Frau Oesterot.

»Ach ja,« erwiderte Amélie, »man weiß nur nie, ob er es ernst meint oder Spaß macht.«

In diesem Augenblick hörte man am anderen Ende des Saales Luckows Stimme in lebhafter Erregung. Er stand einer Gruppe von Schülerinnen gegenüber.

»Na, da sitzen Sie nun hier und quatschen,« rief er, »und bilden sich Wunder ein, was Sie sind, weil Sie so ein paar dumme Bücherphrasen von Individualismus und Emanzipation aufgeschnappt haben, und was Sie hier leisten, ist gleich Null. Jedesmal kann ich Ihnen dasselbe sagen und klarmachen, aber die elementarsten Begriffe gehen ja nicht in Ihre Schädel hinein. Fast hätte ich gesagt, Sie sollten heimgehen und Kochen lernen, aber das würden Sie gar nicht fertigbringen, denn auch dazu gehört Liebe.«

Luckow ging geärgert hinaus, einen wahren Aufruhr zurücklassend.

»Er hat ganz recht,« flüsterte Thea Oesterot.

Amélie zitterte.

»Mir ist der Schrecken in die Glieder gefahren,« sagte sie, »wenn er mir einmal so etwas sagen würde ...«

»Dazu werden Sie es wohl nicht kommen lassen,« erwiderte Thea; »wenn Sie bei uns ein halbes Jahr gearbeitet haben, werden Sie begreifen, daß hier einem Mann manchmal der Geduldsfaden abreißen kann. Luckow ist nämlich ein wirklicher Künstler, aber um seine Familie zu ernähren, muß er sich den ganzen Tag hier mit den Fratzen herumplagen, von denen es ihm doch nicht gedankt wird.«

Inzwischen wollte die von Luckow so schroff angeredete Schar in der Ecke nicht zur Ruhe kommen.

»Das sagt er aus reiner Bosheit,« rief eine wilde Person mit kurzgeschnittenem Haar, »er weiß, daß es mich giftet; außerdem ist es nicht wahr.«

Man wollte wissen, was er denn gesagt habe.

»Bitte, sehen Sie doch selbst,« rief die Wilde. »Er sagt, das sei eine brave Arbeit. Nein, ich mache keine braven Arbeiten. Meinetwegen soll er sagen, es sei schlecht. Tadel kann ich vertragen, aber brav, nein, brav ist meine Kunst nicht.«

Man drängte sich um die Zeichnung, die eine Schlange mit zwei weiblichen Köpfen in dekorativer Stilisierung darstellte.

»Immer führt er solche absprechende Redensarten im Mund,« sagte eine blasse, ältliche Person vom Gouvernantentypus; »als meine Schwester neulich fallen ließ, sie würde wohl das Malen aufgeben, um Tänzerin zu werden, sagte er in seiner untrüglichen Weisheit, er glaube, meine Schwester hätte dazu nicht die nötige Sinnlichkeit.«

»Unverschämtheit,« rief die Wilde.

»Ich bitte Sie, woher weiß er denn das so genau? Sie kennen doch meine Schwester; ich versichere Sie, sie ist äußerst sinnlich.«

Amélies andere Nachbarin, eine junge Berlinerin, hielt sich auch von den übrigen fern. Fräulein Käthe Göhring machte Amélie Eindruck in der Art, wie einst Lea Knapp, nur daß sie ihr geistig noch turmhoch über jener zu stehen schien. Sie war die Tochter eines bekannten Berliner Universitätsprofessors und Geheimrats und hatte ein paar Semester Kunstgeschichte studiert; nun wollte sie ein wenig praktisch arbeiten. Sie besaß ein ungewöhnlich hübsches, zartes Gesicht, schlanke Formen und sehr sichere Bewegungen. Durch das viele Studium war ihre Gesichtsfarbe blaß geworden, und das ließ die zarten Lippen wie zwei Rosenblätter wirken. Aber diese Lippen vermochten sich zu sehr scharfem Spott zu kräuseln. Auch drückten sie leicht Ekelgefühle und Gereiztheit aus. Fräulein Göhring ging sehr vieles auf die Nerven, besonders Uneleganz und Ungepflegtheit. Sie selbst war sehr geschmackvoll gekleidet, damenhaft, dabei unauffällig. Oft war sie sehr matt. Dann legte sie ihr müdes, von kastanienbraunem Haar umflochtenes Köpfchen in die Hände und starrte ins Leere. Man nannte sie in der Schule »die entwurzelte Lotosblume«, und dieser Spottname beleidigte sie keineswegs. In München fehlte ihr vor allem der »Komfort«, dieses Wort sprach sie französisch aus. Sie erzählte einmal Frau Oesterot und Amélie mit sehr müder Stimme in sachlichem Ton und leiser Selbstironie, wie sie sich entwickelt hatte:

»Ich war doch schon mit vierzehn Jahren so rasend intelligent, daß wir zu Hause gar nicht wußten, was wir mit mir anfangen sollten. Ich kam aufs Gymnasium und nahm den Weg aller Berliner jungen Mädchen vom Kurfürstendamm zum five o'clock bei Wölfflin. Ach so, Sie wissen nicht. Das ist das kunstgeschichtliche Fünfuhrkolleg. Gott, es klingt gefährlicher, als es ist. Es wird dunkel gemacht wegen des Skioptikons, und da sitzt man denn im Schummrigen, links ein blonder Siegfried und rechts ein tief brünetter Makkabäer.«

Während Fräulein Göhring dies erzählte, hatte sich um die »Damenecke« – so nannte man den Platz, wo Thea, Amélie und Käthe saßen – ein kleiner Kreis gebildet. Nun folgte lautes Gelächter der Männer. Ein spitziges Frauenzimmer sagte:

»Und in eine solche Situation haben Sie sich begeben, Fräulein Göhring, das wundert mich eigentlich. Sie sind doch sonst so korrekt.«

»Denken Sie bloß,« erwiderte Käthe schlagfertig, »jeden Montag und Donnerstag habe ich mich hineinbegeben. Aber es war wirklich ein ungefährliches Herrenpublikum: die einen neunzehnjährige frisch gewaschene Aestheten, und die anderen mit Kragen von einem Zentimeter Höhe. Na, die waren zum Flirten zu schmutzig, und die Aestheten zu schwächlich.«

Einige Herren griffen bei dieser Schilderung unwillkürlich nach ihren Kragen. Manche wandten sich achselzuckend weg.

Noch niemals hatte Amelie ein junges Mädchen so sicher sprechen hören. Käthe war gewiß auch eine Persönlichkeit, und dabei verletzte sie dennoch nicht im geringsten den guten Geschmack. Im Gegenteil, wie sie sich kleidete, das war besonders bewundernswert. Durch ein Stückchen alte Spitze oder ein ausgefallenes Schmuckstück wußte sie ihre sonst einfachen, aber gut geschnittenen Kleider zu heben, ohne dadurch die Blicke herauszufordern. Und wie sie es verstand, den anderen zu antworten! Auch hatte sie ein leises, aber doch verwirrendes Parfüm, das ganz anders roch als Rose, Maiglöckchen oder Flieder.

»Ich glaube, von Fräulein Göhring kann man etwas lernen,« sagte Amelie einmal zu Frau Oesterot, »sie ist eine sehr eigenartige Persönlichkeit.«

Diese lächelte:

»Sagen Sie ihr das einmal, das will sie nicht hören.«

Am anderen Tag rief Frau Thea lachend Käthe zu:

»Sehen Sie, Käthe, es hilft Ihnen nichts. Auch Fräulein Sanders hat bereits entdeckt, daß Sie eine eigenartige Persönlichkeit sind.«

»Fatal,« erwiderte Käthe schmerzlich, »und ich bin doch so reaktionär. Nach meiner Meinung gehören die Frauen in den Harem.«

»Wie das wohl wieder zu verstehen ist!« dachte Amelie verwirrt.


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