Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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Zweites Kapitel

Flirt oder Erlebnis?

6

Mely begann eine junge Dame zu werden. In der Klasse wurden die Mädchen jetzt mit Sie angeredet.

Im Winter fingen die Tanzstunden an. Die jungen Herren sagten sogar gnädiges Fräulein. Mme. Françoise, die Tanzlehrerin, eine stattliche Dame von etwa fünfunddreißig Jahren in schwarzem Seidenkleid, stand in der Mitte des Raums, starr wie eine Bildsäule. Nur die überaus schlanken Füße bewegten sich. Ihr gegenüber hüpfte wie ein exotischer Vogel ihr dreizehnjähriges Schwesterchen Blanchon in kurzem Samtkleidchen mit unsagbar dünnen langen Beinen in schwarzen Strümpfen. Unter den Klängen eines langsamen Walzers machten ihre zarten Füßchen, die nichts von Materie zu haben schienen, die Schritte vor, und während die Altstimme der pomphaften Mme. Françoise in gebrochenem Deutsch kommandierte, versuchten die noch ungeübten Gliedmaßen der kichernden Mädchen und komisch-ernsten Buben die Figuren auszuführen. Die Tänzer in steifen, schwarzen Anzügen waren meist Schulfreunde Hermanns, manchmal kamen auch ältere Brüder und Vettern. Der Unterricht fand abwechselnd in den Wohnungen der Schüler und Schülerinnen statt. Mely bemerkte sehr bald, daß man sie besonders bevorzugte. Zu jedem Tanze meldeten sich mehrere auf einmal. Das machte sie übermütig, doch sie hütete sich selbst wohl, Konflikte zu schlichten und freute sich heimlich, wenn drei junge Herren heftig gestikulierend in einer Ecke standen und darüber stritten, wer das Anrecht auf den nächsten Tanz mit ihr habe. Die Altersgenossen Hermanns waren noch mehr oder weniger schüchtern und zurückhaltend in ihren Aeußerungen, aber von den älteren Gästen sagten ihr manche, daß sie reizend sei und dergleichen; es war indes Sitte, in solchem Falle zu antworten, man fände Komplimente »fad«. Mely amüsierte sich, wie sie sagte, himmlisch, und war erstaunt, bisweilen von jenen älteren Tänzern zu hören, daß es eigentlich zu steif zuginge. Sie hörte von München sprechen, vom Künstlerleben. Das sei erst das Richtige. Das Blatt »Jugend« kam bisweilen in ihre Hände. Man sprach davon, wie von etwas eigentlich Verbotenem, das aber doch jeder tat. Hier und da sagten Mütter lächelnd, die »Jugend« sei eigentlich keine Lektüre für junge Mädchen, aber dennoch lasen sie alle darin. Da war von Liebe die Rede und von Küssen, da standen Witze über Leute, die das verbieten wollten oder sich dumm dabei anstellten, und immer handelte es sich wieder um Künstler, um Maler und Dichter, die das Lieben gewiß ganz besonders gut verstanden. Manchmal wurden sie dann zwar auch wieder lächerlich gemacht, aber alles das war so furchtbar interessant. Sie begann jetzt zu begreifen, warum manche das Leben in der Stadt steif nannten. München, das war offenbar das wahre Leben. Die Herren, die es kannten, mußten immer wieder davon erzählen, von den Künstlercafés, wo auch junge Mädchen aus guten Familien allein hingingen, von Atelierfesten und Tänzen im Grünen bis zum grauenden Morgen, und immer die jungen Leute allein, ohne Mütter und Tanten. Oh, wer das einmal mitmachen könnte! Mely wünschte sich oft, ein künstlerisches Talent zu haben, um nach München gehen zu können und zu studieren, aber sie hatte ja keines. Der Gedanke kam ihr noch nicht, daß man das bißchen Zeichnen, das ihr von Kindheit an immer Spaß gemacht hatte, zu einem wirklichen Talent proklamieren könne. Sie dachte noch sehr bescheiden von sich selbst und neigte dazu, sich immer nur als Publikum für die Leistungen anderer zu betrachten; ihr einziger Ehrgeiz war, dabei sein zu dürfen, wo es nett und lustig zuging. Ach, wie schade, klagte sie manchmal, daß mit ihr so gar nichts los war.

Gegen Ende des Winters beschlossen die Teilnehmer der Tanzstunde, zu einem Schlußkränzchen ein Theaterstück einzustudieren. Es unterlag keinem Zweifel, daß Mely eine Hauptrolle haben müsse. Sie sollte Theater spielen? Ja, aber das konnte sie doch gar nicht. Sie könnte es gewiß, meinte man, alles käme auf einen Versuch an. Da die anderen auch größtenteils noch nie gespielt hatten, ging sie schließlich zögernd an ihre Rolle heran. Dr. Merzbacher, ein junger Arzt und Theaterfreund, der Bruder eines der Gymnasiasten, übernahm die Einstudierung. Er war ein kaum dreißigjähriger, aber schon ziemlich fetter, behäbiger Herr mit Glatze und dunklem Spitzbart, und ging mit einer ungewöhnlichen Ruhe und Selbstsicherheit ans Werk. Er schien beständig zu fühlen: »Ich bin zwar Arzt, aber wenn ich wollte, könnte ich ebensogut Regisseur oder Theaterdirektor sein. Man muß eben bei jeder Sache nur den Witz heraus haben.«

»Na, passen Sie einmal auf, mein liebes Fräulein,« sagte er zu den Mädchen und nahm sie bei der Hand oder, wenn möglich, bei dem entblößten Unterarm. »Sie müssen sich vorstellen, Sie wären . . .,« oder »Sie hätten . . .,« oder »Sie könnten . . .« usw.

Dann machte er ihnen vor, wie sie sprechen sollten. Alle kicherten, weil er sich so gut »verstellen« konnte und machten es nach.

»Na, sehen Sie,« rief er dann, »es geht ja ausgezeichnet. Schauspielkunst ist für Damen überhaupt keine Kunst, sondern es ist ihre Natur. Sprechen Sie, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist, und Sie sind eine vorzügliche Schauspielerin.«

Das fand nun Mely unbedingt falsch. Zwar machte sie ihre Sache ganz zu Dr. Merzbachers Zufriedenheit, aber in ihrem Inneren sagte sie sich, daß sie gerade das Gegenteil tue von dem, was er nannte: reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Sie fühlte sehr wohl, daß sie sich zierte, aber das schien gerade das Richtige. Im Theater beobachtete sie nun auch, daß fast alle Schauspieler sich zierten und irgend etwas machten, was sie sonst als ein Getu empfand, und nun kam sie plötzlich auf die Idee, daß dies Getu offenbar die Schauspielkunst sei; sie war glückselig, in sich die Gabe dazu zu finden. Oh, sie konnte das so gut wie jede andere. »Nur komisch,« dachte sie manchmal, »daß der schlaue Dr. Merzbacher das nicht merkt und es für natürlich hält.«

Der Ballabend fand in dem großen gemieteten Saal einer Freimaurerloge statt. Auf den Stühlen im Zuschauerraum keuchten und fächelten sich eng verschnürte Ballmütter, und beleibte alte Herren in altmodischen Fräcken wischten sich den Schweiß von der Stirn. Dazwischen saßen ungeduldig wie für einen Augenblick auf Blätter niedergeflogene Schmetterlinge die jungen Mädchen auf den Kanten der Stühle. Ihre halbwüchsigen Kavaliere beugten sich über die Lehnen und flüsterten schüchterne und kecke Worte. Von einer kleinen Bühne wurde das Stück flott heruntergespielt. Das Publikum war sehr dankbar. Mely hatte den Haupterfolg. Schwerfällige Lakaien reichten Blumen auf die Bühne. Sie mußte sich mehrmals vor dem Publikum verbeugen. Als sie später durch das Gedränge des Saales ging, hörte sie sagen, sie sei eine Künstlerin, den ganzen Abend wurde sie besonders ausgezeichnet, und alte Papas zogen sie sogar an ihren Tisch, um mit ihr anzustoßen. Sie sah reizend aus. Ihr blondes Haar hatte sich nun endlich daran gewöhnt, sich in zwei dichte Wellen zu scheiteln. Die großen, offenen Kinderaugen unter den allzu gewölbten Brauen waren unentschlossen und fragend geblieben, sie schienen noch immer ein bißchen zu erstaunt ins Leben zu starren, aber das lockte gerade, sich diesem Mädchen zu nähern, gewissermaßen als wolle man die Zweifel lösen, die sich in ihren fragenden Blicken aussprachen. Eine kleine, feine Nase, der zart geschnittene, vielleicht ein wenig zu lange Mund mit der etwas starken, irgendeine dunkle Unzufriedenheit ausdrückenden Unterlippe über dem spitz zulaufenden Kinn gaben ihr eine Mischung von Süßigkeit und Herbheit, die schwer unbeachtet bleiben konnte. Mely war an diesem Abend ganz glückselig. Sie fühlte sich fortgesetzt in gehobener Stimmung, und sie merkte, wie, ohne daß sie es geradezu wollte, ihre Sprache etwas Gehobenes von der Bühne behielt, und daß das außerordentlichen Erfolg hatte. Sie war ganz erstaunt, wie leicht es war, Eindruck auf die Menschen zu machen, und nun beschloß sie, diese Gehobenheit als dauernde Stimmung in sich aufrechtzuerhalten, wenigstens, wenn sie unter Menschen ging. An allen Tischen wollte man sie haben, und je mehr der Morgen nahte, desto verrückter wurden auch die alten Herren. Manche begannen sogar mit ihr zu tanzen, was sie seit zwanzig Jahren, wie sie versicherten, nicht getan hatten. Sie wurde gedrückt, gestreift, von Blicken umworben, sie schwamm wie eine leichte Nußschale auf dem wogenden Meer, und sie wiegte sich entzückt auf den Wellen. Ganz im geheimen war sie sich wohl bewußt, daß sie bei alledem ziemlich viel »Getu« machte, wie auf der Bühne, aber da es so vielen Erfolg hatte, wurde sie darin immer mehr bestärkt. Sie hörte, nachdem sie einmal etwas ganz Gleichgültiges behauptet hatte, wie einer dem anderen zuflüsterte: »Wie entzückend sie das wieder gesagt hat«; und sie merkte sich die Gelegenheit, um in der nächsten Viertelstunde wieder einmal etwas so Entzückendes zu äußern, vielleicht das schon in einem Kreis mit Erfolg Vorgebrachte in einem anderen zu wiederholen. Auch fand sie an diesem Abend heraus, daß man sehr gut über Dinge reden konnte, die man kaum kannte, weil die anderen nämlich auch nicht viel wußten.

»Haben Sie schon Reif-Reiflingen genossen, gnädiges Fräulein?« fragte ein etwas blasiertes Herrchen mit ganz dünnem Schnurrbärtchen und einem Einglas im Auge.

Nun hatte Mely nicht die mindeste Ahnung, was Reif-Reiflingen war, aber sie hob sehr sicher das schmale Kinn und sagte:

»Wie kommen Sie darauf?«

Das junge Herrchen war ziemlich verblüfft, hatte das Gefühl, einen Fehltritt gemacht zu haben und entschuldigte sich:

»Nun, ich denke, Reif-Reiflingen ist doch ein Stück, in das viele junge Mädchen gehen.«

Nun wußte Mely, daß es sich um ein Theaterstück handelte. Auch konnte sie aus der Art der Entschuldigung schließen, daß es eines von den neueren, ihr noch unbekannten Stücken war, und sie antwortete sehr sicher:

»Nein, wir gehen nur in klassische Stücke.«

Das junge Herrchen hatte den Eindruck, als ob Mely sich durchaus auf dem Laufenden befand. Sie empfand ein solches Verhalten keineswegs als einen lustigen Schwindel, mit dem man kecke junge Leute überlisten könne, im Gegenteil, sie nahm das ernst und bildete sich die Meinung, so, wie die Schauspielkunst ein erregendes »Getu« sei, so beruhe eine Unterhaltung über ernste Gegenstände auf nichts anderem, als dem Streben, klug und unterrichtet zu erscheinen, wobei man durch einige kleine Künste nachhelfen müsse, wenn das eigene Wissen versagte. Alles dies war ihr nicht so bewußt, daß sie es etwa einem anderen Mädchen hätte erklären können; nur mit dem Instinkt fühlte sie den »Witz« der Geselligkeit heraus, wie Dr. Merzbacher sagte. So gewann sie, durch ihre Erfolge gehoben, nachdem sie gestern noch ein in der Gesellschaft vollkommen fremdes Kind gewesen war, in dieser Nacht ein Wissen, das man eine unbewußte Technik nennen könnte, ein Verfahren, das sie zwar in den nächsten Jahren noch vervollkommnete, ohne es aber wesentlich zu verändern. Diese eine Ballnacht hatte eine moderne junge Dame aus ihr gemacht, und zwar keine durchschnittliche, sondern eine von allen Seiten verehrte, die ihre Stellung wohl zu wahren wußte.

Mely war überzeugt, daß es die Kunst war, nur die Kunst, die ihr die Entzückungen dieser Nacht beschert hatte, und sie wußte: die Kunst ist das Edle, das Schöne, das Ideale. Vielleicht war sie nun doch eine Künstlerin. Sie erlangte von der Mutter die Erlaubnis, jetzt öfters ins Theater zu gehen. Meist ging sie mit Hermann, der ihre Bühnenschwärmerei teilte. Er entdeckte in sich das Talent, die Schauspieler nachzuahmen. Bald kannten die Geschwister alle bei Namen und waren entzückt, wenn sie sie auf der Straße erkannten, den Idali mit dem Milchgesicht und den »süßen« Krawatten, die Mordtmann mit dem Madonnenscheitel, die Sarto mit der Amazonengestalt und den riesigen Federhüten und die dicke, gepuderte Albinus, welche immer hochgestellte Persönlichkeiten spielte, die aber gerade in diesen Stücken zufällig nicht viel zu sagen hatten. Oft gingen die Geschwister nach der Vorstellung noch an den Bühnenausgang und warteten begierig, um den Romeo in einem braunen Straßenanzug mit bunter Halsbinde herauskommen zu sehen, oder um zu beobachten, wie die Thekla in einem flüchtig übergeworfenen Abendmantel in einen Wagen sprang.

Alles dies hatte in den beiden Geschwistern die Erkenntnis zur Folge, daß es außerhalb der Alltagswelt der Schule, des Hauses, der Pflichten eine andere Welt gab, wo es bunt zuging, wo man lachte, sich fabelhaft amüsierte, und wo man alle die Rücksichten jener engeren Welt nicht zu kennen schien. Diese höhere Welt aber, die mit allem Edlen, Großen und Leidenschaftlichen der Menschennatur verknüpft schien, das war nichts anderes, als die Welt der Kunst: Künstlerkreise. Davon wann beide Geschwister nun überzeugt.

Als Mely die letzte Klasse der Schule hinter sich hatte, erhob sich die Frage, was nun mit ihr geschehen solle. Manche Mädchen kamen in Pensionen am Genfer See, aber um keinen Preis hätte sich Frau Sanders von Mely getrennt. Was sollte sie auch in einer Pension? Französisch konnte sie ja durch die Großmutter seit ihrer Kindheit. Sie bekam also noch allerlei Unterrichtsstunden, meist zusammen mit Freundinnen: Kunstgeschichte von einem jungen Gymnasiallehrer, Literaturgeschichte und Aesthetik von einem alten Fräulein, Italienisch von einem Signor Mancinelli, der eigentlich Tanzlehrer war. Vormittags besuchte sie eine Kochschule. Mit einigen Freundinnen aus der Schulzeit unterhielt sie ein Kränzchen. Im Herbst wurde sie dann in die »richtige« Gesellschaft eingeführt, d. h. Frau Sanders nahm alte Beziehungen wieder auf, indem sie am Anfang des Winters eine Anzahl Besuche mit Mely machte. Es folgten Abendgesellschaften, Tänze, Liebhaberaufführungen. Mely fand alles sehr nett, die Kunstgeschichte sowohl, wie den italienischen Tanzlehrer und die Einladungen. Nichts drückte sie eigentlich, sie lernte leicht, und wenn sie etwas nicht lernte, war es auch kein Unglück. Sie bekam nun von Leutnants und Assessoren den Hof gemacht. Die Triumphe der Tanzstunde setzten sich fort. Mit Blumen beladen kam sie von den Gesellschaften heim, ihre Tanzkarten waren stets dreifach überzeichnet. Sie gewöhnte sich an das Gefühl, ein Ausnahmegeschöpf zu sein, ohne sich aber noch ganz bewußt davon Rechenschaft zu geben. Es war ihr vielmehr selbstverständlich, daß man sie zu Tennispartien abholte, daß immer mindestens drei Herren sie nach Hause begleiteten. Mama Sanders wurde aus ihrem ruhigen Dasein aufgerüttelt und mußte sich der Tochter zuliebe wieder an die seit dem Tode ihres Gatten aufgegebene Geselligkeit gewöhnen. Mit lächelnder Geduld, die der Stolz auf Melys Triumphe belohnte, konnte sie stundenlang sitzen und gegen den Schlaf ankämpfen, während unermüdlich tanzende Paare an ihr vorbeiwirbelten. Bald hatte sie Melys Fächer, bald ihr Blumenlager in Verwahrung zu nehmen, dann wurde ihr ein Herr vorgestellt, zu dem sie liebenswürdig sein mußte, oder man entriß ihr die Einwilligung, daß Mely bei einem Bazar oder Wohltätigkeitsfeste mitwirken dürfe. Aber überall konnte sie nicht dabei sein. Die Tochter war tagsüber auf dem Eis oder beim Tennis viel mit Herren allein, doch dadurch, daß immer drei oder vier sich um sie bemühten, entstand eine Art Aufsicht, die Mely davor schützte, daß jemand mit ihr in engere als gesellschaftliche Beziehungen kommen konnte.

Bei alledem vermißte Mely nur eines, aber nicht allzu schmerzlich, denn gerade das Fehlen dieses einen wurde für sie auch wieder zu einer Quelle ganz bestimmter Genüsse. Sie merkt« sehr wohl, daß die Gesellschaft, in der sie sich bewegte, nicht jene künstlerisch verklärte war, von der sie träumte, und die sie in München verwirklicht glaubte. Unter allen den Herren, die ihr den Hof machten, befand sich nicht einer, der auch nur eine Ahnung hatte von jener anderen Welt, vielmehr waren sie brave Durchschnittsmenschen, die alles bewunderten, was Mely sagte oder tat, und sofort bereit waren, sich in den großen Fragen der Kunst und jenes Münchener Lebens für nicht maßgebend zu erklären. Da es nun von Anfang an als durchaus unwahrscheinlich, ja unmöglich geschienen hatte, daß Mely jemals diese Münchner Welt selbst kennenlernen würde, so verursachte ihr dieses Ausgeschlossensein keine eigentlichen Schmerzen, vielmehr gab ihr die Sehnsucht danach schon eine gewisse Überlegenheit über di« Assessoren und Leutnants, an der sie sich selber weidete. Vorläufig machte ihr Tanzen, Gesellschaft, Kurmachen und dergleichen noch so viel Freude, daß sie von dem einzelnen gar nichts Besonderes verlangte, vielmehr zufrieden war mit der Gegenwart, gehoben durch die Kenntnis, es gäbe doch noch etwas Besseres.

Nachdem ein zweites Jahr in dieser Art fast vergangen war, begann Mely gegen Ende des Winters etwas zu husten. Am Morgen nach einem Balle erwachte sie mit einer schweren Grippe und Lungenentzündung. Nun lag sie mehrere Wochen, häufig stark fiebernd, zu Bett in ihrem weißen, verdunkelten Schlafzimmerchen. Frau Sanders saß Tag und Nacht bei ihr mit derselben Ausdauer und Geduld, mit der sie die Ballnächte durchwacht hatte. Hermann, der dicht vor der Abgangsprüfung stand, holte sich bisweilen seine Bücher ins Krankenzimmer und veranlaßte die Mutter, solange er arbeitete, auf dem Liegestuhl zu ruhen. Das waren die traurigsten Wochen, deren er sich zu Hause entsann. Melys Jugend siegte indessen über die Krankheit, und als eines Tages Hermann um Mittag heimkam, war die Schwester aufgestanden. Er sah sie in einem Sessel hinter dem großen, sonnigen Balkonfenster sitzen und dem Spiel der in den Pfützen des Gartens badenden Spatzen zuschauen. Die kahlen Bäume reckten ihre schwarzen Zweige in die Februarhelle. Mely sah in ihrem dunkelgrünen Morgenkleid so blaß, so rührend gebrechlich aus, daß Hermann unwillkürlich vor ihr kniete, ihre nun ganz weißen, dünnen Hände nahm und sie küßte. Sie faßte ihm in sein blondes Haar und sprach mit einer stillen Güte, was ihn stark befremdete an der Schwester, die er seit langem nicht anders als quecksilberhaft bewegt, von einem Vergnügen zum anderen eilend, von einem Kleid ins andere fahrend, gesehen hatte. Für ihn, den büffelnden Prüfling, hatte sie überhaupt zuletzt wenig Zeit gehabt.

»Denk' dir, Hermann, jetzt werde ich wieder gesund, und der Doktor hat gesagt, wir müßten ein paar Wochen an die Riviera.«

»Nein, ist das wahr?« rief Hermann ungläubig, »die Riviera, das ist ja Italien.«

»Und wer seine Prüfung gut bestanden hat,« rief Frau Sanders aus dem Nebenzimmer, »darf auch mit.«

Hermann brach in ein lautes Geschrei aus und tobte im Zimmer umher. Das konnte er kaum fassen. Erst die Rücksicht auf die genesende Schwester brachte ihn langsam wieder zur Ruhe.

Die Wochen des Vorfrühlings gingen hin mit viel erregender Sonne und noch mehr schweren, düsteren Wolken. Oft ging Mely in der Mittagswärme im Garten auf und ab, und ihr war, als sei sie schon dicht am blauen Meer, die kleinen Tannenbäume konnten geradesogut Zypressen sein, und die Säulen eines Balkons ein Stück von einem italienischen Palast. Dann kamen wieder Nachmittage, die nicht enden wollten, an denen sie glaubte, sie würde nie gesund, so beklommen war sie, so schmerzte ihr der Kopf, und so langsam gingen die Stunden dahin, besonders im März, wenn die Tage immer länger wurden, ohne daß es draußen Frühling werden wollte.


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