Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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15

Am folgenden Tage kamen die Brüder. Kurt lebte als Referendar in Berlin, er pflegte nur noch in den Ferien, die er zu größeren Reisen benutzte, die Heimat zu berühren. Hermann studierte Kunstgeschichte in Leipzig und schrieb schon seit längerer Zeit an seiner Doktorarbeit. Beide Brüder hatten denselben Nachtzug benutzt, sich aber erst in der Frühe auf einer Station getroffen. Hermann saß brütend bei einem Milchkaffee und tunkte ein Brötchen hinein, als Kurt in einem Ulster und einer Art Automobilmütze gerade in den Wartesaal trat, in dem noch die Gasflammen brannten, während durch die großen Fenster von draußen das erste bläuliche Morgenlicht hereindrang. Fröstelnd ging er an das Büfett und bestellte sich ein Frühstück. Hermann hatte ihn längst erkannt, aber in seinem alten Trotz wollte er ihn nicht zuerst begrüßen. Da sah ihn Kurt, und seine erste, unabwehrbare Wahrnehmung war, daß Hermann noch immer solche braune Anzüge trug, wie auf der Schule. Hatte er ihn überhaupt je anders als in einem braunen Anzuge gesehen?

Er setzte sich zu ihm.

»Du hast auch ein Telegramm bekommen?« fragte er.

»Ja, was glaubst du, wie es steht?«

»Ich bin aufs Schlimmste gefaßt.«

»So,« sagte Hermann nachdenklich, als sei es ihm unbequem, sich ganz klar über die Lage zu werden.

Beiden Brüdern war dieses Zusammentreffen peinlich. Sie kannten sich nicht mehr genug und waren zu sehr von der Erinnerung an ihren früheren Gegensatz erfüllt, um frei über das zu sprechen, was sie hier zusammenführte. Das Abfahrtszeichen ertönte. Jeder mußte eilig seinen Platz aufsuchen, der Zug war so überfüllt, daß an ein Zusammensitzen nicht zu denken war.

Bei der Ankunft trafen sie sich wieder. Kurt war nicht sehr verändert, obwohl seine Straffheit und Kürze lässiger und sein Ton herzlicher geworden war. In seinen Formen lag die Freundlichkeit eines Menschen, der mit sich ins reine zu kommen beginnt und darum aufhört, sich gegenüber der Umwelt besonders zu betonen. Trotzdem ließ ihn ein spöttischer Zug um den Mund mit dem gestutzten Schnurrbart als einen sehr überlegenen Herrn erscheinen, der für Menschen, die sich einer gewissen wirren Träumerei hinzugeben lieben, nicht immer eine behagliche Gesellschaft ist. Hermann dagegen war noch immer ziemlich still und schwerfällig, ja, diese Schwerfälligkeit hatte sich noch vermehrt, da er für sein Alter ein wenig zu fett war. Seine Ausdrucksweise war schroff und oft undeutlich, als läge ihm nicht viel daran, ob der andere ihn verstand. Ein Reiferer aber erkannte leicht, daß dies Maske war, daß er sich sogar sehr um die anderen kümmerte, gegen die er sich in einer Art dauernden Widerstandes befand. Sein ziemlich langes, reiches Haar hatte nicht mehr die ausgesprochene Gelbblondheit, wie Amélies Flechten, es war vielmehr graublond. Dieser unbestimmte Ton über dem blassen, unscharfen Gesicht mit den etwas verwaschenen Zügen gab ihm den Ausdruck träumerischer Unentschiedenheit. Seine blaugrauen Augen starrten unter den runden Brauen manchmal traumverloren ins Leere, konnten aber hie und da auch eine fast schlaue Schärfe verraten. Die stark vorgeschobene Sanderssche Unterlippe verriet eine dauernde Unzufriedenheit sehr zäher Art. Diese entlud sich gleich gegen den Dienstmann, der sein Gepäck nehmen sollte.

»Nehmen Sie das doch,« sagte er gereizt, »warum nehmen Sie es denn nicht? Nein, das nicht, das trage ich selbst, das könnte Ihnen passen, meine Malutensilien.«

»Und dazu diese unglückselige Kleidung,« dachte Kurt, während er Hermanns offenbar nach eigenen Angaben hergestellten, einem Kutschermantel ähnelnden Paletot musterte.

Der Platz vor dem Bahnhof lag in blasser, nebliger Morgendämmerung. Ein Lenker in dickem Pelz öffnete einen Kraftwagen.

»Na, steig ein,« sagte Kurt.

»Die Frau läßt mich ja nicht durch,« erwiderte Hermann in trüber Entsagung.

Eine Frau, die mit einem Knaben einen jämmerlichen Schließkorb trug, hatte, um etwas auszuruhen, das Gepäckstück gerade vor die Füße des unglückseligen Hermann gesetzt. Dieser stützte sich gelassen auf seinen Schirm und blickte nach einer anderen Richtung, wie jemand, der weiß, daß man im Leben hie und da auf Hindernisse stößt, gegen die man sich mit Geduld wappnen müsse.

»Geh doch drum herum,« rief Kurt.

»Dann schiebt sie ihn doch gerade weiter. Ich kenne das. Wir haben ja Zeit.«

Die Frau, die keine Ahnung hatte, zu was für einem Auftritt sie den Anlaß gab, hob inzwischen den Korb wieder auf und trug ihn mit dem Knaben davon.

»Nun ist ja alles in Ordnung,« sagte Hermann befriedigt und stieg in den Wagen.

Er sprach zunächst kein Wort, und dies hatte bei ihm etwas Quälendes, Aufreizendes, als ob er durch dieses Schweigen gerade peinigen wollte. Um die unangenehme Stille zu unterbrechen, fragte Kurt:

»Willst du eigentlich in Leipzig den Doktor machen?«

»Ich denke schon, ich habe mich an die Stadt gewöhnt.«

»Wann bist du denn so weit?«

»Ach, ich weiß noch nicht,« sagte Hermann unzufrieden, im Glauben, der ältere Bruder wolle ihn gleich auszufragen beginnen. »Vielleicht mache ich den Doktor überhaupt nicht,« fügte er herausfordernd hinzu.

Kurt, der nie ganz davon überzeugt gewesen war, warum Hermann ein damals so aussichtsloses Studium, wie Kunstgeschichte, ergreifen mußte, war überrascht, daß er auch hier wieder abschwenken wollte, aber er hielt den Augenblick für ungeeignet, es zu äußern und sagte nur nachdenklich: »So,« während er die Hände in seinen dicken Ulster vergrub.

Hermann dagegen hatte auf Widerspruch gehofft und schlug wieder in dieselbe Kerbe:

»Ich bin keine Gelehrtennatur, ich will nämlich Künstler werden.«

»Na,« sagte Kurt mit möglichster Ruhe, »darüber sprechen wir lieber ein andermal.«

Hermann sah in diesem Ausweichen einen Hinterhalt und hätte am liebsten gesagt: »Mit dir brauche ich darüber überhaupt nicht zu sprechen,« aber auch ihn hielt der Ernst des Augenblickes zurück.

In den Straßen lag dichter Morgennebel, der die Brüder nicht gleich hatte merken lassen, daß sie sich bereits vor dem alten Vaterhause befanden. Kurt klingelte unten. Auf der breiten Holztreppe begegnete ihnen Lene und die Köchin, die das Gepäck hinauftragen sollte.

»Ach, Herr Doktor,« sagte Lene, die ihr enges, schwarzes Kleid trug.

Zum erstenmal löste sich der Geschäftigen ein wahrer Tränenstrom über das Ereignis, während sie Kurt die Hand drückte. Dann begrüßte sie Hermann.

»Herzliches Beileid,« sagte die Köchin und streckte Kurt ihre rote Hand hin, dann wiederholte sie »Herzliches Beileid« zu Hermann gewandt.

»Danke,« sagte er leise und verlegen.

»Bitte, es ist gern geschehen,« erwiderte die Köchin freundlich und zufrieden, daß diese ihr von Lene vorgeschriebene Rolle nun hinter ihr lag.

Die beiden Brüder traten in das Schlafzimmer. Amélie kam ihnen bleich in ihrem schwarzen Kreppkleid entgegen. Kurt schloß sie in die Arme, dann blickte er auf die Leiche. Er brach in ein plötzliches Schluchzen aus. Amelie und Hermann, die sich bis jetzt nur schweigend die Hand gegeben hatten, schauten sich instinktiv an, als sie diesen Ausbruch des Schmerzes bei dem Bruder sahen, denn ihre alte Gemeinschaft gegen ihn war sofort wieder wie durch einen feinen Nervenstrom hergestellt, und ihre Meinung über den Bruder vertrug sich ganz und gar nicht damit, daß er jetzt so tief bewegt war und dies auch zeigte. Kurt kniete vor der Leiche und weinte bitterlich in sein Taschentuch. Hermann war in dumpfer Verlegenheit. Er fühlte nichts als eine maßlose Verwirrung. Amélie umarmte ihn und schmiegte ihren Kopf an seine Brust.

»Hermann,« flüsterte sie, »es ist furchtbar.«

Er trat einige Schritte vor und blickte auf die Tote. Sein Inneres war wie gelähmt; er fühlte nichts. Dann begrüßte er mechanisch die Großmama. Diese ging zu Kurt, der noch vor dem Bett kniete, und legte die Hand auf seinen Kopf. Auch Amélie trat hinzu. Sie sah, daß sich auf Kurts Scheitel schon eine Glatze bildete. Hermann war in peinlichster Ratlosigkeit. Da erblickte er auf dem Nachttisch ein kleines Riechfläschchen. Seine Finger umklammerten es, und ohne sich dessen bewußt zu werden, klopfte er damit beständig auf die Marmorplatte. Amélies Nerven konnten das kaum ertragen. Sie blickte sich nach ihm um.

»Hermann,« mahnte sie leise.

»Was denn?« fragte er wie aufgestört und legte das Fläschchen hin.

Lene hatte inzwischen für das Frühstück gesorgt, das schweigend eingenommen wurde. Dann begann die Last der Geschäfte ihre Erledigung zu heischen: die Sorge um das Begräbnis, der Geistliche, es mußte Geld von der Bank geholt werden, man suchte nach wichtigen Papieren. Kurt und die Großmutter nahmen alles auf sich. Amélie saß meist weinend bei der Toten, hie und da trat Kurt zu ihr, legte den Arm um sie und überließ sich einige Augenblicke seinem Schmerz. Hermann schlich in zäher Gefühllosigkeit durch das Haus. Manchmal saß Mme. Sanders wie in sich versunken in einem Sessel und wischte sich die Augen. Kamen Kurt oder Amélie zu ihr, dann ergriff sie ihre Hände und wiederholte immer wieder:

»Au moins elle n'a pas souffert.«

Am übernächsten Tage, um zehn Uhr, kamen Männer, die den Sarg schlossen. Der alte Lorrain, der einen steifen Gehrock trug, führte sie herein. Die drei Geschwister sahen die Gestalt der Mutter unter der Dämmerung des Sargdeckels verschwinden. Zahlreiche Bekannte wogten durch die Zimmer, halb vergessene Zeugen der einst heiteren Tage dieses Hauses, meist Menschen, die ihm in der letzten Zeit ferngeblieben waren, und nun noch einmal kamen, um der alten Frau Sanders die letzte Ehre zu erweisen. Amélie lag wimmernd, wie ein verletztes, zartes Tier, in Lenes Arm, als der Sarg hinausgetragen wurde.

Lorrain verhandelte mit zwei Herren mit dicken blonden Schnurrbärten und offenbar durch häufigen Alkoholgenuß geröteten Gesichtern. Sie waren Vertreter der Beerdigungsanstalt. Ihr Amt war, von morgens bis abends in fremden Häusern Worte des Beileids zu stammeln. Lorrain entband sie ihrer Pflicht und drängte sie höflich hinaus. Auf dem Vorplatz verneigten sie sich vor dem Notar Scheitelknecht und brachten sich ihm in empfehlende Erinnerung.

Mme. Sanders stand am Fenster und blickte in die altertümliche Gasse mit den Giebelhäusern hinab. Unten wartete das schwarze Gewimmel der Bekannten. Der Sarg verschwand in dem Leichenwagen mit einer alltäglichen Selbstverständlichkeit wie ein Brot im Backofen. Der Wagen setzte sich in Bewegung, Kurt und Hermann folgten in ihren schwarzen Röcken und an sie schloß sich der Zug der Begleiter. Alte Frauen, von wohltätigen Anstalten gesandt, standen noch vor dem Haus und zählten das Geld, das ihnen die Leidtragenden gegeben hatten.


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