Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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45

Hermann mietete ein Zimmer in der Altstadt in der Nähe des Sendlinger Tors. Das erklärte er damit, daß er während des Prozesses fern von Schwabing sein und nicht von allen Leuten ausgefragt werden wollte. In Wirklichkeit war es ein dumpfer Drang, der ihn wieder in die alten Viertel trieb, wo er einst mit dem Fürsten gewandelt war. Er wollte ganz hinaus aus der Welt, in der er so unglücklich gewesen, und einmal versuchen, vollkommen in den Stimmungen zu leben, die er in den vom Volk bewohnten Stadtteilen fand. Er hoffte zu vergessen, daß er Hermann Sanders war und bestimmte Lebenspläne gehabt hatte, indem er ohne Berührung mit Bekannten den Eingebungen des Augenblicks nachgab.

Kaum hatte er die saubere, altväterisch möblierte Stube mit dem breiten Wachstuchsofa im dritten Stock bei einer zahnlosen, freundlich »mümmelnden« Wirtin bezogen, da war ihm zumute, als ob die Gespräche mit Amélie und Lina weit zurücklagen; er fühlte etwas wie eine Erlösung in sich. Abends ging er hinunter. Es war herbstlich, ein rauchiger Duft lag in der Stadt. Bald saß er einsam in einer kleinen Wirtschaft zwischen Leuten aus dem Volk und trank ein paar Glas Bier, die ihn müde machten und die Nacht tief und fest verschlafen ließen. Am anderen Tag dachte er nicht daran, zum Rechtsanwalt zu gehen; vielmehr trieb es ihn hinaus in den nebeligen Stadtmorgen; so streifte er durch die Straßen, schlich in die Höfe der Durchhäuser, blickte hie und da ein Mädchen an und aß wieder in einer kleinen dumpfigen Wirtschaft; er trank ziemlich viel Bier, und das vermehrte noch die Dumpfheit, in der er war; so fand er Vergessen. Dann saß er stundenlang in einem dämmerigen Kaffeehaus und sah Fremden beim Kartenspiel zu. Sie benutzten bunte deutsche Karten mit Schellen und Eicheln darauf und, wenn einer ein paar Stiche hintereinander machte, schlug er jedesmal mit der harten Hand auf den Holztisch, daß er dröhnte.

In solchen Umgebungen lebte Hermann mehrere Tage, als er eines Morgens den Brief eines Rechtsanwalts erhielt, der ihm mitteilte, daß seine Ehefrau gegen ihn wegen Scheidung Klage erhebe, da er sich seinen ehelichen Pflichten gegen sie entzogen habe. Er möge sich wegen der Alimentierung seiner Gattin dem Rechtsanwalt gegenüber äußern.

Hermann verstand das nicht. Er hatte doch mit Lina alles ausgemacht. Er schrieb daher sofort zurück, er habe sich über diesen Punkt bereits mit seiner Frau geeinigt, die Höhe der Summe sei noch nicht bestimmt, er sehe vorher einer Mitteilung seiner Frau über ihre Bedürfnisse entgegen. Darauf erhielt er die Antwort, daß er sich in einem Rechtsirrtum befinde. Von einer Summe zur beruflichen Ausbildung seiner Frau könne gar keine Rede sein, vielmehr sei er als der an der Scheidung allein schuldige Teil dauernd zum standesgemäßen Unterhalt seiner Frau verpflichtet und man könne nur darüber verhandeln, ob er dieser Pflicht in Gestalt einer monatlichen Rente oder einer einmaligen Abfindungssumme nachzukommen habe. Die durch die Ehe mit ihm zerrüttete Gesundheit seiner Frau erlaube ihr vorläufig nicht, einen Beruf zu ergreifen. Auch sei es in dem sozialen Stande, dem er angehöre und den seine Gemahlin teile, ja nicht Sitte, daß die Frauen selbst für ihren Unterhalt sorgten.

Hermann wurde daraus noch weniger klug; zwar ahnte er eine Feindseligkeit, ja eine Niedertracht, aber er war doch zu harmlos, um Lina, deren »Weltanschauung« er zu kennen glaubte, dazu ernstlich für fähig zu halten. Er ging daher zu Amélie, der er den Brief zeigte. Diese war infolge ihrer eigenen Scheidung in der Frage etwas mehr bewandert und sagte, nachdem sie den Brief gelesen hatte:

»Das hätte ich ihr nie zugetraut.«

Amélie war derartig empört, daß sie aus der gleichgültigen Stumpfheit, in der sie in der letzten Zeit gelebt hatte, aufgerüttelt wurde. Mit einem Anflug von Energie rief sie:

»Da muß ich dahinterkommen! Ich werde heute selbst noch mit ihr sprechen.«

Amélie traf Lina in der Pension. Sie hatte sich ein kleines Zimmerchen geben lassen, in dem es nicht gerade sauber und nicht ganz ordentlich war. Aus den zugepreßten Schubladen schaute hie und da etwas eingeklemmtes Zeug hervor, ein Kamm, in dem Haare hingen, lag in einem Buch auf dem Tisch.

»Ich danke dir wirklich für deine Vermittlung,« sagte Lina. »Nun ist ja alles sehr schön im Gang, und wir brauchen uns selber nicht mehr darum zu kümmern. So ein Rechtsanwalt ist eine wundervolle Einrichtung. Alles Ekelhafte und Peinliche nimmt er einem ab. Ich habe gar nicht gewußt, daß das alles so einfach geht.«

Amélie war betroffen. Beide Frauen saßen sich am Tisch gegenüber.

»Aber Lina, weißt du denn nicht, was dein Anwalt an Hermann geschrieben hat?«

»So? Hat er schon geschrieben?«

»Ja, lies doch einmal diesen Brief.«

Lina las. Hie und da mußte sie lächeln, und dann sagte sie:

»Nun, das ist doch sehr gut so.«

»Aber Lina, du kannst doch nicht von ihm verlangen, daß er nun dein ganzes Leben lang für dich sorgt.«

»Doch, der Anwalt hat gesagt, es wäre so üblich.«

»Ja, wenn er eine Schuld begangen hätte; aber ihr kommt doch gemeinsam überein, daß ihr euch scheiden lassen wollt.«

»Der Anwalt hat gesagt, die Verweigerung der ehelichen Pflicht sei vor dem Gesetz eine Schuld.«

»Das mag ja sein, aber so etwas nutzt man doch nicht aus.«

Lina sagte unsicher:

»Meinst du? Gott, ich weiß ja von gar nichts.«

Sie kam in Verlegenheit und wurde über und über rot. Außerdem bemerkte sie gerade jetzt auch den Kamm, der als Lesezeichen in dem Buch lag.

»Was willst du denn nun tun?« fragte Amélie nach einer auch ihr peinlichen Pause.

»Ja, ich kann gar nichts tun, das macht doch alles der Anwalt.« Sie hatte das Buch mit dem Kamm genommen und hinter sich aufs Bett geworfen.

»Aber der Anwalt tut doch nur, was du ihm sagst oder wenigstens, was du ihn tun läßt. Du mußt ihm mitteilen, daß ihr im Grunde einig seid und euch schon persönlich ausgesprochen habt.«

»Das habe ich ihm ja schon gesagt,« erwiderte Lina gereizt, »aber er meint, das wäre alles Unsinn, so würde das nicht gemacht. Und dann ist es doch auch wahr: als Hermann mich heiratete, hat er die Verpflichtung auf sich genommen, mich zu versorgen, und nun muß er das auch tun.«

Amélie war von dieser Auffassung verblüfft.

»Weißt du, Lina, das hätte ich von dir nicht gedacht, man macht doch aus so etwas kein Geschäft,« sagte sie wie ein noch aufrichtiges Kind, das auf einmal merkt, daß sein Gespiele lügt.

»Er ist doch der schuldige Teil,« versetzte Lina ärgerlich, »da muß er auch für mich sorgen.«

»Wieso denn schuldig?« fragte Ameli«. »Vielleicht für die Paragraphenmenschen, aber von dem modernen Standpunkt aus ... ihr paßt einfach nicht zusammen, so wie Paul und ich.«

»Ach, du hast gut reden, du hast ja Geld. Ihr Leute mit Geld haltet natürlich immer zusammen.«

Nun war endlich heraus, was sie auf dem Herzen hatte. Sie fühlte sich plötzlich wieder ganz sicher, zumal als sie erkannte, welchen Eindruck sie damit auf Amélie machte. Auf ihrem verwaschenen Gesicht lag jenes dumm-überlegene Lächeln, das sie auch gehabt hatte, wenn sie Uneingeweihten Oesterotsche Theorien vorsetzte.

Amélie ging mit kühlem Abschied. In ihren Beziehungen zum anderen Geschlecht hatte die Geldfrage nie eine Rolle gespielt, und so war sie in diesen Dingen noch so rein, wie in der Zeit, als sie zum Pastor Nothaft in die Konfirmandenstunde ging. Zum erstenmal in ihrem Leben befand sich das, was sie Lina gegenüber den modernen Standpunkt nannte, in vollem Einklang mit ihren wirklichen Instinkten. Sie war ehrlich empört über Linas Verhalten.

Auf dem Heimweg erschrak sie plötzlich über die Notwendigkeit, dies nun Hermann mitteilen zu müssen. Am Abend nach dem Essen, als sie wieder in ihr Zimmer trat, saß er schon da und döste vor sich hin. Nun mußte sie es ihm mitteilen. Er nahm es verhältnismäßig ruhig auf und ging sehr bald weg, indem er sagte:

»Mir ist alles Wurst, sie soll tun und lassen, was sie will.« Dann ging er wieder in eine der Bierwirtschaften der Altstadt, trank ziemlich viel und legte sich, schwer und dumpf, schlafen.


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