Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

29

Kurz vor Weihnachten wurde die Korrespondenz der Geschwister mit der Großmutter etwas lebhafter als sonst. Diese erwartete, ihre Enkel zum Feste zu Hause zu sehen. Ein zärtlicher Brief Erichs an Amélie verriet denselben Wunsch. Hermann und Amélie saßen im »Tirol« allein beim Frühstück, als die Briefe ankamen. Amélie schaute Hermann an und fragte:

»Wirst du reisen? Ich habe nämlich gar keine Lust.«

»Ich auch nicht,« erwidert« Hermann. »Was sollen wir daheim? Dort finden wir doch kein Verständnis.«

Amélie schwieg eine Zeitlang, dann fühlte sie plötzlich in sich die Tränen aufsteigen, sie legte den Kopf über die Arme auf den Tisch und sagte:

»Ist das nicht eigentlich schrecklich, Hermann, Weihnachten in der Fremde zu verbringen?«

»Dann fahr doch heim,« sagte Hermann unwirsch.

»Wie häßlich du heute wieder bist, du weißt doch, daß das nicht geht.«

»Gott, schließlich ginge es ja, du kannst doch ohne mich reisen.«

»Dann fragen sie mich nach allem möglichen aus und die Geschichte mit Erich fängt wieder an; ich bin froh, wenn ich nichts davon höre. Was soll ich ihnen denn sagen? Hier ist ja auch in der letzten Zeit gar nichts mehr los gewesen. Im Sommer konnte man doch allerlei erzählen und dadurch über die leeren Stunden hinauskommen. Aber jetzt? Jetzt gibt's auch das nicht mehr.«

Diese Unentschiedenheit wurde bald dadurch gelöst, daß die Geschwister aufgefordert wurden, an einem kleinen Weihnachtsausflug ins Gebirge teilzunehmen, den einige der Gäste, die ins »Tirol« kamen, veranstalteten. Sofort stand nun in beiden der Entschluß fest, mit großer Entschiedenheit die Einladung nach Hause abzulehnen. Hermann schrieb der Großmutter, ihre künstlerische Entwicklung erlaube ihnen in diesem Augenblick keine Unterbrechung; Amélie teilte Erich mit, sie sei gerade in einem Uebergangszustand, in dem sie allerlei innerlich auszukämpfen habe, das würde durch ein Wiedersehen nur gestört. Und dabei blieb es.

Es war eine Schar von fünf oder sechs jungen Leuten, die am Mittag des vierundzwanzigsten Dezember ins Gebirge zog, darunter die Geschwister und Anne-Marie Hösgen. Sie fuhren bis Kufstein, das sie, unter dem dunkelblauen Sternenhimmel wie eingefroren in harten Schnee, erreichten. In der warmen Wirtsstube war es abends sehr behaglich. Neben dem burgartigen Kachelofen stand ein riesiger Weihnachtsbaum, dessen Lichter um neun Uhr angezündet wurden. Ein Orchestrion spielte: »Stille Nacht, heilige Nacht...« Man trank Punsch, und einige erhabene Bemerkungen über die Abgebrauchtheit der alten Weihnachtssentimentalität und die Familienduselei, die an diesem Feste Orgien feiere, fielen von Anne-Maries Lippen. Auch Hermann war groß im Vertreten dieses Standpunktes. Amélie saß dabei und zwang sich zur Heiterkeit. In ihrem Innern jedoch tönten Stimmen, die sie beunruhigten. Sie dachte an die früheren Weihnachtsfeste. Noch vor einem Jahr hatte sie den heiligen Abend mit der Mama gefeiert; jetzt aber saß sie in einem Wirtshaus, und von nun an würde sie das Fest wohl immer unter fremden Menschen verbringen. Aber je mehr sie die Wirkung des Punsches fühlte und das laute Reden um sich her vernahm, desto sicherer wurde in ihr wieder das Gefühl, daß diese fremden Menschen ja freie Menschen seien und sie hoch über die Stufe erhöben, auf der sie sich noch vor einem Jahr befunden hatte. Man legte sich um elf Uhr zu Bett, um am anderen Morgen früh aufbrechen zu können.

Einer der Teilnehmer war am vierundzwanzigsten nicht mitgefahren. Er wurde erst am nächsten Morgen mit dem Frühzug erwartet, der gegen fünf Uhr München verließ, aber rechtzeitig in Kufstein ankam, so daß man noch am Vormittag die Brünnsteinbesteigung unternehmen konnte. Moritz Behrent, der Radierer, hatte darum diesen Frühzug genommen, weil er das Nachtlager in Kufstein sparen wollte. Dies gab er wenigstens als Grund an, und niemand konnte ihm widersprechen, wenn man auch im Inneren etwas erstaunt war, daß der tüchtige und seit einiger Zeit erfolgreiche Künstler die zwei Mark für ein Nachtquartier nicht aufbringen konnte und sich der Unannehmlichkeit unterzog, am Tage einer Bergwanderung unausgeschlafen ein paar Stunden durch die dunkle Weihnachtsfrühe zu fahren.

Die Gesellschaft saß bereits am Frühstückstisch, als Moritz Behrent ankam. Er war ein großer und schlanker Mensch, aber von jener Fahrigkeit in den Bewegungen, welche die sogenannte »Schlacksigkeit« hervorbringt. Ein brauner, ungepflegter Vollbart lag um den scharf geschnittenen Mund, dessen Winkel häufig in einer Art hämischen Lächelns ein gelbes Pferdegebiß weit entblößten. Die Nase war gut geformt; er hatte knochige und behaarte Hände mit schaufelartigen Nägeln. Die Augen schienen mit durchdringender Schärfe jede Einzelheit zu sehen. Manchmal blieb sein Blick starr an etwas hängen, an einer spielenden Katze oder einem keifenden Weib, und dann lag plötzlich ein Ausdruck heiterer Befriedigung über dem sonst harten Gesicht. »Seh'n Se doch bloß...« sagte er dann, wenn man zu ihm sprach, und wollte nichts hören. Der andere aber blickte verwundert in dieselbe Richtung, ohne etwas Besonderes zu bemerken. Von einer Bergwanderung schien sich Behrent eine falsche Vorstellung zu machen, denn er trug seine Nachtsachen in Zeitungspapier eingewickelt, das schon an manchen Stellen riß. Mit übelgelauntem Gruß setzte er sich zu den anderen, die ihn erfreut bewillkommneten, da er der einzige unter ihnen war, der schon auf anerkannte Leistungen zurückblicken konnte.

»Ist das Ihr Gepäck, Behrent?« fragte ein junger Mensch, »warum haben Sie denn keinen Rucksack mitgebracht?«

»Ick werd' doch keenen Rucksack schleppen,« erwiderte er wegwerfend und man hörte, daß er Berliner war.

»Na, so können Sie Ihr Gepäck unmöglich tragen, das wird Sie zu sehr belästigen.«

»Nehmen Sie's doch in Ihren Rucksack,« erwiderte Behrent mürrisch.

Der andere erklärte sich dazu bereit. Man brach auf. Es stellte sich heraus, daß Behrent keinen Bergstock bei sich hatte. Man machte ihn auf die Notwendigkeit dieses Gerätes aufmerksam, aber er bestand darauf, seinen krummen Wanderstab, der ihm im Erzgebirge gute Dienste getan hatte, auch hier zu benutzen.

Man schlug anfangs in der frischen, sonnigen Morgenluft einen ziemlich lebhaften Schritt an. Behrent war einer der letzten und belästigte gelegentlich den Herrn, der seine Sachen im Rucksack hatte, damit, daß er seinen Pack plötzlich verlangte, weil irgend etwas darin sei, was er jetzt gerade brauche. Dann gab er nach unnötigem Aufenthalt das Bündel zurück und ging hinter den anderen her. Nach einiger Zeit gewöhnte er sich an die Lage und seine neckische Gemütsart kam zum Vorschein. Den Mädchen, die, mit besten Vorsätzen erfüllt, sich recht tapfer zeigten und mit ihren Bergstöcken mutig durch die Wintersonne schritten, warf er hie und da frischen Schnee in den Hals. Zugleich bereitete er einstweilen darauf vor, daß er wahrscheinlich nicht bis auf die Spitze kommen würde, da er keine genagelten Schuhe anhabe und an Schwindel leide. Er sei überhaupt kein Bergsteiger, habe dies auch gar nicht nötig, da er anderwärts etwas leiste. Dieses schließe sogar gewissermaßen jenes aus. Man hörte ihm ruhig zu.

Je höher man kam, desto mehr schwand, besonders von den Mädchen, alle Nervosität und Schwächlichkeit der Stadt, wenn man sich auch heimlich eine gewisse Müdigkeit nicht verhehlen konnte und sich auf den Augenblick des Frühstücks freute. Behrent blieb murrend immer weiter zurück und schien mit seinem Schöpfer über die kosmische Unnötigkeit von Gebirgen zu rechten.

Auf einem einsamen Gehöft war frische Milch zu bekommen. Eine Bäuerin brachte einen hölzernen Kübel voll herbei und stellte ihn mitten auf den Tisch. Jeder bekam einen Löffel und tauchte ihn in die Milch. Diese Art der Ernährung mißfiel Moritz Behrent. Er verschmähte den rauhen Zinnlöffel der Bäuerin, holte aus dem Grunde seiner Hosentasche einen mißfarbigen Lederbecher hervor, an dem allerlei Krümel hingen und tauchte ihn in die Milch, um zu schöpfen. Dieser Becher sah wie das vertrocknete Euter einer alten Ziege aus und erweckte bei den anderen einen solchen Ekel, daß man Behrent nun den Milchtopf allein überließ, den er zu sich schob. Während er seinen Bart hineinhängte, erzählte er den anderen die bekannte Geschichte jenes Mannes, der in sein Glas gespuckt hatte, damit kein anderer daraus trinken möchte.

Amélie konnte sich eines heimlichen Lächelns nicht enthalten. Während inzwischen einige an die Rucksäcke gingen, um irgend etwas herauszunehmen, entdeckte man, daß sich Steine von nicht geringem Gewicht darin befanden. Moritz Behrent weidete sich an dem allgemeinen Erstaunen, während er noch mit seinem Becher die Milch auslöffelte, und es stellte sich heraus, daß er unterwegs den anderen heimlich die Steine in die Rucksäcke gesteckt hatte, wenn sie einmal auf den Zurückbleibenden gewartet hatten, um mit ihm auszuruhen.

»Wenn ick nich det Verjniejen jehabt hätte,« sagte er phlegmatisch, »wär' ick überhaupt nich bis hier rauf jekommen.«

Das fand Amélie so komisch, daß sie laut herauslachen mußte. Behrent war über diesen Erfolg sehr zufrieden und sagte, als er seine Milch getrunken hatte, zu Amélie:

»Sie sind die einzige hier, die Humor hat.«

Während man weiterstieg, blieb er an ihrer Seite.

Unterwegs erzählte er ihr von seiner Kunst und fragte sie, ob sie auch schon radiert habe? Die Radierkunst, das sei das einzig Richtige.

»Schwarz auf weiß,« sagte er, »dat is was Jenaues; die janze Farbenschmiererei is ja nischt dajejen.«

Für die Luckowsche Malschule hatte er nur Hohn. Das sei für Dilettanten, für kleine Mädels, die eigentlich in Mutters gute Stube gehören und nur ein bißchen mit Malkunst prahlen wollen.

Das machte Amélie tiefen Eindruck, denn gerade das war es ja, was sie unbedingt hatte vermeiden wollen.

»Ach, es ist doch furchtbar schwer, den rechten Weg zu finden,« sagte sie, »jeder rät etwas anderes; man weiß wirklich gar nicht, was man tun soll.«

»Kommen Se doch mal zu mir in mein Atelier,« erwiderte Behrent lebhaft, »kucken Se sich mal meine Sachen an, dann wird Ihnen vielleicht ein Licht aufjehn. Ich nehme auch Schüler; Schülerinnen hab' ich ja bis jetzt keine jehabt, weil die meisten Frauenzimmer nicht den richtigen Ernst bei der Sache haben; aber mit Ihnen würd' ich's schon mal probieren. An Ihnen is noch nischt verdorben, Sie sind ja erst en halbes Jahr hier.«

Amélie war stark gefesselt. Vielleicht hatte er recht. Sie blickte ihn einen Augenblick kurz an, während seine scharfen Augen ihre schlanke Figur, die von der Bergluft geröteten Wangen und das unter dem Pelzmützchen herausquellende blonde Haar mit einem unangenehmen Ausdruck prüften.

»Wer weiß,« dachte sie, »er wäre vielleicht der richtige Lehrer.«

Seinen Namen kannte sie schon lange, und die Bildnisse, die sie von ihm gesehen, hatten sie durch ihren zwingenden Ausdruck stark gefesselt.

Am frühen Nachmittag, während noch die Sonne am Himmel stand, erreichte man das unter einem wolkenlosen Himmel liegende, von weißen Firnen umgebene Berghaus, wo übernachtet werden sollte. Während das Mittagessen bereitet wurde, hielten sich die jungen Leute in der Wirtsstube auf, dem einzigen geheizten Räume, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich dort etwas herzurichten. In den Zimmern, die erst abends geheizt werden sollten, war das Wasser gefroren. Es wurden ein paar Waschschüsseln in die Wirtsstube gebracht, die Mädchen ordneten sich vor einem kleinen Spiegel an der Wand das Haar. Draußen standen vor den Fenstern ein paar Burschen, Jäger und junge Bauern, die neugierig hereinschauten und bewundernd die gepflegten schwarzen, braunen und blonden Haarflechten anstarrten, die sich ihren Blicken boten. So etwas sahen sie bei ihren Mädeln nicht leicht.

Während sich die Herren indessen etwas abseits von den Mädchen hielten, machte sich Behrent immer wieder um Amélie zu schaffen. Er blickte neugierig in ihren Rucksack, der offen auf dem Tisch lag, betrachtete ein kleines Kristallfläschchen, befühlte eine Nagelfeile aus Perlmutter und beroch ein elfenbeinernes Döschen. Auf seinem Gesicht lag ein sonderbares Lächeln der Unentschiedenheit. Es war, als warte er noch darauf, ob er diese ihm ungewohnten Sächelchen bewundern oder verachten sollte. Das schien davon abzuhängen, was er für Aussichten bei der Besitzerin haben würde.

Kurz nach vier Uhr war das Essen bereit; es entstand eine sehr heitere Stimmung. Man trank herben Rotwein, während ein Bursche am Ofen Harmonika spielte. Eines der Mädchen kam auf den Gedanken, zu tanzen. Behrent widersprach. Er fragte vielmehr, ob hier ein Dambrett zu haben sei, aber man lachte ihn aus. Es war allgemein bekannt, daß Behrents einzige Leidenschaft neben seiner Kunst das Mühlenspiel war. Er rühmte sich, in dieser Kunst noch nie besiegt worden zu sein. Wie in früherer Zeit die Lehrlinge zuerst einmal einige häusliche Fertigkeiten, wie das Bewachen und Waschen der Kinder erlernen mußten, ehe sie die Kunstgriffe ihres Handwerks erfuhren, so verlangte Behrent von seinen Schülern, daß sie Mühle spielten; natürlich besiegte er sie immer, wobei er mit hämischem Lachen sein Zahnfleisch entblößte. Dagegen verachtete Behrent das Schachspiel, das sei gut für unbeschäftigte Müßiggänger, die nach einer Anstrengung lechzten. Nie konnte er unter Menschen sein, ohne sich versucht zu fühlen, seine Überlegenheit im Mühlenspiel zu zeigen, aber an diesem Abend in der Hütte fand er keinen Partner. Bald drehten sich alle Paare, die Bauernburschen mit nackten Knien und gemsledernen Hosen trauten sich an die Stadtmadeln heran, und eine allgemeine Lustigkeit entstand.

Moritz Behrent, der ja anderwärts etwas leistete, verstand die Kunst des Tanzens nicht und suchte Amélie, die vor Tanzlust glühte, das Vergnügen zu verderben.

»Was haben Se nur davon, daß Se sich da wie verrückt herumdrehen? Setzen Se sich doch noch 'n bißchen zu mir.«

Amélie ruhte ganz gern einmal eine Viertelstunde aus; nun versuchte er, sie von neuem für seine Kunst und seine Pläne einzunehmen. Ernst müsse ein Mensch sein, das sei die Hauptsache; nur der Mangel an Ernst sei es, warum die jungen Mädchen so selten etwas leisteten. In Amélie sei gewiß ein guter Kern, sie solle sich ihm nur einmal anvertrauen, er würde das schon entwickeln.

Wiederum war Amélie von ihm gefangen, so unangenehm ihr auch vieles an ihm war; aber in der letzten Zeit hatten sich ihre inneren Widerstände gegen Unerzogenheit und schlechte Formen doch erheblich geschwächt. Moritz Behrent war wirklich einer, der was konnte, das wußte sie, und nun wollte er sich gar ihrer annehmen. Während sie mit ihm sprach, wurde ihr erst ganz klar, wie tot die letzten Wochen eigentlich gewesen waren, und sie gestand ihm offen ein, daß sie allerdings auch glaube, in der Luckowschen Schule nichts Rechtes zu lernen.

Während sie ihm zuhörte, kam gerade einer der Burschen vom Ofen und holte sie zum Tanz. Behrent schnitt ein Gesicht. Als sie zurückkam, sagte er:

»Is doch 'ne Frechheit von so 'nem Bauernlümmel, Sie einfach wegzuholen.«

»Ach, wieso?« entschuldigte Amélie, »die Leute sind ja so harmlos und meinen es gar nicht bös.«

»Na, na,« spottete Behrent, und Amélie fand seinen Ton sehr häßlich.

Es gelang ihm immer wieder, sie in eine Unterhaltung zu verwickeln und sie am Tanzen zu hindern.

»Sie haben wohl höllisch viel Geld?« fragte er einmal ganz plötzlich.

Das brachte Amélie in Verlegenheit.

»Nein, gar nicht,« sagte sie, »ich stehe mit meiner Familie nicht gut.«

»Aber Ihre Familie hat doch Knöppe?« fuhr Behrent fort.

Amélie antwortete nicht.

»Haben Sie denn noch Eltern?«

»Nein, nur meine Großmutter lebt noch.«

»Na, die läßt Sie doch wohl hier nich auf'm Trocknen sitzen?«

»Doch,« sagte Amélie, »ich nehme keinen Pfennig von ihr. Was ich habe, ist mein eigenes mütterliches Erbteil.«

»So, 'n Erbteil haben Se? Na, dann sind Se ja fein 'raus.«

In diesem Augenblick wollte einer von den Bekannten Amélie zum Tanz holen, aber Behrent sagte dem jungen Mann:

»Nu lassen Se mal Fräulein Sanders ausruhen; sie hat jetzt jenug jetanzt.«

Das fand Amélie doch ein wenig stark; was hatte er denn für ein Recht, sie so zu bevormunden? Sie ärgerte sich, daß der junge Mann so wenig Entschlossenheit hatte und Behrent gegenüber nicht schneidiger auftrat; vielmehr verbeugte er sich entschuldigend vor dem Meister und ging weiter. Hätte er nur die geringste Anstrengung gemacht, sie doch zum Tanz zu bewegen, sie wäre ihm sofort gefolgt. Gegen Behrent aber faßte sie eine stille Wut.

»Was haben Sie nur gegen das Tanzen?« erwiderte sie.

»Is doch Mumpitz,« meinte Behrent, »wenn erwachsene Menschen so herumspringen.«

Am anderen Vormittag wurde gerodelt. Behrent machte wieder den Versuch, Amélie davon abzuhalten, da er das Rodeln auch für einen Mumpitz hielt. Diesmal aber traten die anderen dazwischen und zogen sie mit; ihr war das recht. Behrent blieb knurrend in der Wirtsstube zurück. Als man gegen Mittag zurückkam, fand man ihn mit einem der Burschen zusammensitzend, dem er das Mühlenspiel beigebracht hatte. Triumphierend stellte er fest, daß er ihn schon fünfmal »eklig 'reingelegt« habe.

Man aß früh zu Mittag und begann dann den Abstieg nach Kufstein. Behrent drängte etwas, da er noch den Abendzug nach München erreichen wolle. Wozu sollte er in Kufstein das Nachtquartier bezahlen, wo er doch sein Bett in München hatte?

»Sogar en sehr feines, jlauben Se das nich?«

Man kam etwa zwei Stunden vor Kufstein an einer kleinen, fast ganz in Schnee eingehüllten Hütte vorbei, aus deren Fensterchen ein uralter Mann mit langem, weißem Bart blickte, eine große Pfeife im Mund. Es war ein Einsiedler, der dort lebte und für die Wanderer ein paar Erfrischungen bereit hielt. Er grüßte die jungen Leute freundlich und bat sie, bei ihm einzutreten. Behrent erhob Widerspruch, er könne dann seinen Zug nicht mehr erreichen; was sie denn auch dadrin bei dem alten Quasselkopp wollten? Aber die Mehrheit entschied gegen ihn, und Anne-Marie rief keck, er solle sich doch nicht stören lassen und allein vorausgehen, damit er seinen Zug nicht versäume. Dieser Vorschlag fand bei den anderen Beifall. Behrent zögerte einen Augenblick, schaute Amélie an und dann Hermann. Zu diesem sagte er:

»Kommen Se doch mit Ihrer Schwester mit hinunter; was haben Se hier bei dem ollen Onkel verloren?«

»Oh, das ist doch auch künstlerisch sehr interessant,« meinte Hermann.

»Was an dem Bruder künstlerisch interessant is, dat hab ick schon im Jeist skizziert,« erwiderte Behrent, und wenn man sein scharfes, durchdringendes Auge ansah, so konnte man ihm das glauben.

»Ich möchte aber hier etwas ausruhen,« rief Amélie.

Behrent sah auf die Uhr; es war allerdings Zeit für ihn, wenn er den Zug erreichen wollte; er verlangte sein Bündel, wendete sich dann mürrisch, kaum grüßend weg und ging nach Kufstein hinunter.

Als ob man von einem lang getragenen Alp befreit sei, entstand plötzlich eine fast kindische Fröhlichkeit unter den jungen Leuten. Der alte Einsiedler lachte vergnügt dazu und führte sie in das ganz niedrige, einzige Zimmer seines Häuschens. Man stieß mit dem Kopf fast an die Decke; mit der Hand konnte man sie leicht berühren. Ein kleines Fenster gab dem engen Räume Licht, in den die letzten Schimmer des Tages fielen. Es war sehr warm in der Stube, in der behagliches altes Holzgerät stand. Ein etwas dumpfiger, süßer Geruch lag in der Luft. Der Alte öffnete ein Wandschränkchen und holte einen Krug hervor, aus dem er Enzian in kleine Gläser goß, die er anbot. Dazu reichte er ein süßes Gebäck, das nach Honig und Mandeln schmeckte. Den jungen Leuten mundete das alles vortrefflich, und sie machten keinen Hehl daraus. Der Alte schaute lachend zu:

»Schmeckt's?« fragte er mehrmals; »des is net der Enzian, den S' vielleicht scho kenna, des is derselbe Enzian, den friher die Klosterbrider g'macht hab'n. I hab' noch das alte Rezept.«

Hermann sagte:

»Jetzt müßte Dr. Cornelius hier sein; der würde seine Ansichten über die bayrische Verpflegung etwas ändern. Er behauptet doch immer: wenn man im Gebirg wandert, kann man es überall schmecken, ob man in Bayern oder in Oesterreich ist.«

»Da hat der Herr auch ganz recht,« erwiderte der Einsiedler, der halb verstanden hatte, »hier san S' nämli in Estreich; da missen S' finf Minuten gehn, bis S' an die Grenz' kommen, dann san S' wieder in Bayern.«

Allgemeines Gelächter erfolgte.

»Uebrigens der Cornelius soll ja nach Neujahr wieder von Paris zurückkommen,« sagte jemand.

»Wirklich?« rief Amélie voll Freude aus, »das ist aber nett.«

Alle schauten sie lachend an. Sie wurde feuerrot.

Es war schon ganz dunkel geworden, als man aufbrach und nach dem Städtchen zuging, das unten im graublauen Tale mit seinen zahlreichen Lichtern lag. Die Bergluft hatte Amélies Lebensgeister in überraschender Weise erfrischt. Sie fühlte sich glücklich wie lange nicht und mußte immer wieder an Cornelius' Rückkehr denken. Auch die anderen waren diesen Abend in der Wirtsstube in Kufstein von einer harmlosen kindlichen Lustigkeit, zu der sie in der Stadt nicht fähig gewesen wären. Am nächsten Tag kehrte man nach München zurück.


 << zurück weiter >>