Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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21

Inzwischen führte Hermann sein Leben für sich. Nachdem er Amélie beim Suchen ihrer Pension geholfen und sie ihm schriftlich ihren Eintritt in die Luckowsche Malschule mitgeteilt hatte, kümmerte er sich nur wenig um sie. Ihre Aufforderung, mit ihr in derselben Pension zu wohnen, hatte er weit von sich gewiesen. Er haßte Pensionen. Er nahm sich ein Zimmer und ging in eine Malschule, die ihm empfohlen worden war. Zuerst speiste er in einem Gasthaus für eine Mark fünfzig Pfennige, bald aber entdeckte er, daß er sein Leben einschränken müsse, da ihm die Großmutter keinen Zuschuß zu seiner Rente gewährte und sein Vermögen noch nicht flüssig gemacht war. Er ließ sich von einem Mitschüler zu einem billigen Privatmittagstisch für Künstler bringen. Das Unternehmen befand sich in einer Atelierwohnung unmittelbar unter dem Dach. Um ein Uhr strömte eine Menge junger Leute dorthin, meist schwärzlich und etwas verwahrlost: Polen, die sich das Ansehen verarmter Edelleute gaben; Russen, die beständig vom »Progreß« redeten; Rumänier, die Sonntags französisch sprachen; dazu Griechen, Serben und zwei Armenier, die sich »Durchlaucht« anreden ließen. Am Eingang war ein Schalter, wo jeder vor der Mahlzeit gegen eine Quittung sechzig Pfennige niederlegte. Kredit wurde nicht gegeben. Es herrschte ein ungeheures Geschrei in dem Atelier, wo mehrere unsaubere Tafeln gedeckt waren. Das bedienende, dicke Mädchen, Flammery genannt, war kaum seines Lebens sicher. Bisweilen riß ihr einer ein Stück Fleisch oder Pudding mit der Hand von der Platte, um es seinem Gegenüber an den Kopf zu werfen. Man spritzte sich gegenseitig mit Siphons; besonders der Nachtisch gestaltete sich lebhaft. Ausdrücke aus der Zoologie und Anatomie würzten das Gespräch, doch bestand eine Neigung, den Ton zu heben, indem jeder, der ein solches Wort aussprach, fünf Pfennige in eine gemeinsame Festkasse zu zahlen hatte. Schon waren zweihundertfünfzehn Mark fünfundsechzig Pfennige zusammen. Wenn gerade am Monatsanfang die häuslichen Geldsendungen eingelaufen waren, warf wohl mancher zu seiner inneren Befreiung eine Mark auf den Tisch, was ihm das Recht gab, zwanzig unflätige Worte hintereinander auszusprechen. Einige junge Leute, die woanders zu speisen vorzogen, kamen nur zum »Schauen« zu den Puddingschlachten her, tranken einen Kaffee mit und rauchten. Das einige ruhige Element in dem Wirrwarr war der Hausherr, der auf einem Liegerohrstuhl an der mittleren Tafel den Vorsitz führte. Er war gelähmt. Die Reste zahlloser Mahlzeiten waren in den gelbgrauen Bart geflossen, während er mit zitternder Hand die Teller an den Mund hielt, um bequemer zu essen. Unter seinem Stuhl verreckte langsam ein Hund, ohne je damit zum wirklichen Ende zu kommen.

Hermann Sanders gab sich acht Tage lang redliche Mühe, dieses Leben zu ertragen, und gegen seine von ihm verachtete Erziehung anzukämpfen, die sich dagegen wehrte. Als aber eines Tages eine armenische Durchlaucht die Apfeltorte auf einer Holzscheibe hereintrug, die sonst in einem geheimen Kabinett einer wenig geachteten, wenn auch sehr vernünftigen Bestimmung diente, da verging Hermann Sanders der Appetit; um an den letzten Tagen des Monats nicht hungern zu müssen, fand er sich bei Amélie ein und fragte sie, ob sie ihm nicht bis zum Ersten vielleicht zehn Mark leihen könne? Da sie auch nicht viel bares Geld mehr hatte, schlug sie ihm vor, am Tische der Pension zu essen, wo erst nach Ablauf des Monats die Rechnung vorgelegt werde. Er willigte ein. Amélie erzählte ihm nun viel von ihren neuen Bekannten. Sie führte ihn bei Oesterots ein.

Sie trafen Oesterots gerade bei Beratungen über ein Spiel, das bei dem antiken Feste zur Aufführung kommen sollte. Es war von Wartegg und Oesterot zusammen gedichtet worden: in Anlehnung an das platonische Gastmahl sprachen einige Philosophen über den Wert des Lebens. Während die ersten Schimmer des Morgens sich mit den letzten der verlöschenden Lampen mischten, erschien ein Jüngling, auf einen Knaben und ein Mädchen gestützt, alle drei mit Rosen bekränzt und noch halb trunken von den Freuden einer durchtobten Nacht. Der Jüngling verhöhnt die Philosophen, die sich mit dürren Theorien plagten, während ihn Küsse umglühten und Rosen umblühten, und preist die Lust des Daseins. Da tritt in der Maske des indischen Dionysos Empedokles hervor und versöhnt Erkenntnis und Lust, indem er nur die unter Schauern gewonnene Erkenntnis und die zum Erfassen des Lebens führende Lust als wertvoll, als Funken der heiligen Flamme preist. Während der Jüngling mit den Philosophen trinkt, sinken seine Begleiter, der Knabe und das Mädchen, an die Brust des Empedokles.

Als Hermann und Amélie den Oesterotschen Salon betraten, hatte der Hausherr, in ein weißes, rotbordiges Tuch gehüllt, die von ihm gedichtete Rede des Empedokles-Dionysos gesprochen. Amélie und Hermann blieben verlegen an der Tür stehen, um nicht zu stören. Da winkte Oesterot sie heran und nahm Amelie in den einen, Hermann in den anderen Arm.

»Wundervoll!« riefen die Anwesenden aus.

»Die beiden blonden Geschöpfe sind ja wie für die Rollen geschaffen,« sagte Thea.

Entzückt von diesem Einfall, trat Oesterot einige Schritte vor; die zwei verlegenen jungen Menschen noch in den Armen haltend.

»Wollen Sie die beiden Rollen spielen?« fragte er plötzlich.

»Sie müssen! Sie müssen!« riefen die Anwesenden.

Wartegg gab Amélie die Hand. Er ließ sich Hermann vorstellen, strich ihm über sein wirres, blondes Haar und sagte:

»Welch ein glücklicher Zufall hat Sie hierhergeführt!«

Ein dunkelhaariger Herr von etwa fünfundzwanzig Jahren mit sehr klugen, etwas scharfen Zügen und glattrasiertem Gesicht ließ sich mit Amélie bekannt machen – er hieß Dr. Paul Cornelius – und sie war erstaunt, in diesem traumartigen Leben auf einmal wieder »gnädiges Fräulein« angeredet zu werden. Dr. Cornelius spielte den vom Fest heimkehrenden Jüngling. Die Probe nahm ihren Fortgang. Hermann und Amélie ließen alles mit sich geschehen. Sie wurden in weiße Tücher gehüllt und bekamen Kränze aufgesetzt. Man las ihnen ihre Rollen vor, verbesserte ihre Aussprache und war im allgemeinen entzückt von ihnen. Sie saßen auch wirklich rührend beisammen, wie das Geschwisterpaar aus dem Märchen, das sich in das Feenland verirrt hat.

Cornelius begleitete sie ein Stück auf dem Heimweg. Amélie fragte Hermann, ob es bei Oesterots nicht »wonnig schön« sei. Er erwiderte, er könne so schnell kein Urteil fällen. Cornelius aber sagte:

»Oh, wenn Ihnen das noch neu ist, dann müssen Ihnen ja die Schuppen von den Augen fallen.«

»Wollen Sie damit sagen,« fragte Hermann, »daß es später der Kritik nicht mehr standhält?«

»Nun, es hat seine zwei Seiten, wie alles auf der Welt,« erwiderte Cornelius, und um seinen feingeschnittenen Mund spielte ein Lächeln, das Amélie rätselhaft und reizvoll schien.


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