Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12

Im Anfang des Winters kehrte Amélie in die Stadt zurück. Die Malstunden begannen wieder. Amélie widmete sich ihnen nun mit einem Eifer, den sie bisher nicht gezeigt hatte. Ihre Flatterhaftigkeit schien tatsächlich verschwunden zu sein, das Gefühl, etwas Ernstes erreichen zu wollen, gewann in ihr die Oberhand. Sie war nun viel ruhiger und gesetzter, aber die ausgesprochene Liebenswürdigkeit ihres Gesichts und die Grazie ihrer Bewegungen hinderten doch, daß sie nur annähernd etwas von der abweisenden Herbheit Leas bekam. Freilich hatte auch sie nun ihre »eigenen« Ideen und trug auch ein Reformkleid. Lea hatte sie überzeugt, daß dies die Tracht des modernen, um seine neuen Ideale kämpfenden Weibes sei. Frau Sanders hatte nichts dagegen, denn in jener Zeit hatten gerade mehrere Mädchen aus guten Häusern diese Tracht vorübergehend angenommen. Man mußte auch zugeben, daß die schlanke, zierliche Amélie in dem etwas schleppenden, aber sorgfältig gearbeiteten Kleide nicht schlecht aussah. Es legte sich in dunklen Falten um ihre kaum erblühten Formen, sie erinnerte an eine Märchenprinzessin, ja selbst die Großmutter konnte ihr Entzücken nicht verhehlen, und nannte ihre kleine Mely eine Tausendkünstlerin, die sogar in einem solchen Gewand hübsch auszusehen verstünde.

Das war Amélie gar nicht recht. Sie hatte auf Widerspruch gehofft, denn sie wünschte in einem Reformkleid nicht so sehr hübsch auszusehen, als vielmehr die Zugehörigkeit zu der neuen Weltanschauung zu zeigen.

In dieser Zeit erfaßte Amélie oft eine sie geradezu verzehrende Begeisterung dafür, an der Reform der Welt, an der Ausrottung der Vorurteile mitzuarbeiten, und diese Gefühle gaben ihr eine Befriedigung, die ihr ihre verlorene Liebe zu ersetzen schien. Ihr war, als hätte sie dadurch schon eine wirkliche Leistung hinter sich. Ihre modernen Ueberzeugungen galten ihr als kein kleines Verdienst; dieses Bewußtsein machte sie stolz und abweisend; sie beugte sich allein vor Lea und verachtete alle, die von deren Lehren nichts verstanden, als ausgemachte Idioten. Dabei ahnte sie nicht, daß sie durch ihre zwei kleinen Erlebnisse viel mehr vom Leben erfahren hatte, als die gescheite Freundin.

Als Amélie eines Spätnachmittags durch den Schnee nach Hause gehen wollte, trat ein Herr mit aufgeschlagenem Pelzkragen leise an sie heran.

»Amélie, kennen Sie mich nicht mehr?« fragte er mit so trauriger Stimme, daß sie selber etwas wie einen körperlichen Schmerz spürte. Es war Erich Wietersheim. Sie wollte weitergehen, ohne zu antworten.

»Oh, wenn Sie wüßten«, sagte er, »was ich um Ihretwillen durchgemacht habe.«

Sie antwortete nicht. Er sprach immer weiter.

»Ich bin am Abgrund gestanden, meine Situation schien vernichtet. Fast hätte ich meine Stellung verloren. Nur die ganz schwache Hoffnung, Sie noch einmal wiederzusehen, hat mich aufrechterhalten. Amélie, ich bin krank vor Sehnsucht nach Ihnen, antworten Sie mir doch! Was habe ich Ihnen denn getan? Ihr letzter Brief war doch noch voll von Liebe, Sie wollten mit mir fliehen. Dann kam Ihre Nachricht, Sie seien von Spionen umgeben, ich solle nicht mehr schreiben. Jetzt sind Sie wieder hier und ich höre nichts von Ihnen. Was ist denn inzwischen geschehen? Amelie, sprechen Sie doch!«

»So etwas können Sie fragen, Sie falscher Mensch, Sie Betrüger!« preßte Amélie heraus. Die ganze kindliche Empörung einer zum erstenmal betrogenen Seele wurde wieder in ihr wach.

»Betrüger nennen Sie mich? mich, Amélie?« rief er mit verzweifeltem Lachen, »ich habe Sie betrogen? Wer hat Ihnen denn das gesagt?«

»Können Sie es vielleicht leugnen? Sie sind gesehen worden, jede Nacht.«

»Ach die Geschichte,« rief er in unheimlicher Lustigkeit, »das hat man Ihnen erzählt und das nennen Sie Betrug?«

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander. Amelie erregte es aufs äußerste, daß er sich gar nicht zu rechtfertigen versuchte, und in dem Augenblick, da er sich krank vor Liebe nannte, über die Ungeheuerlichkeit seiner Nächte mit der Brettelsängerin wie über ein Nichts sprach. Was lag da für ein Geheimnis verborgen? Sie näherten sich Amelies Wohnung. Er fühlte, daß er die Zeit ausnützen müsse. Als sie über einen einsamen, verschneiten Platz schritten, den eine trübe Laterne kärglich erhellte, faßte er ihre Hand und sagte:

»Amelie, Sie sind zu rein, zu kindlich, um eine so gequälte Seele, wie die meine, ganz zu begreifen. Ich habe Sie nicht betrogen. Ich war nur so ganz von Ihnen erfüllt, daß ich nicht mehr ich war, als Sie mir entrissen wurden. Ich weiß nicht, was damals in mir vorging, ich war nicht mehr ich, wie ich Ihnen sagte; ich glaube, ich habe getrunken und gespielt, ich war in schlechter Gesellschaft, ja, das ist wohl möglich, aber ich habe doch Sie nicht betrogen. Ja, ich war am Verzweifeln, am Zugrundegehen. Ich hätte stärker sein, hoffen sollen, um Sie doch noch zu erringen, aber was hätte es mir genützt? Wenn ich es nicht ohnehin gewußt hätte, jetzt sehe ich, daß es doch umsonst gewesen wäre. Das bißchen Hoffnung, das in mir war, das haben Sie jetzt auch noch zertreten mit Ihrer Abweisung, mit Ihrer Lieblosigkeit! Bisher konnte ich glauben, Sie handelten unter dem Zwang Ihrer Familie, aber nein, Sie wollen mich vernichten. Nun, diesmal soll es Ihnen gelingen. Ich gehe. Baron Erich geht,« flüsterte er mit tränenerstickter Stimme, »niemand wird nach ihm fragen. Ach, das war der, welcher einmal in Amelie Sanders verliebt war, wird es heißen. Er ist verschwunden wie ein Meteor.«

Aber er verschwand nicht. Amelie war erschüttert, wie noch niemals in ihrem Leben. In was für ein tiefes »Elend blickte sie da, und sie selbst war nicht unschuldig daran.

»Verzeihen Sie mir,« flüsterte sie, »ich wußte ja nicht« – und ihre kindliche Seele tastete durch ein grauenvolles Dunkel, in dem es keinen Weg und keinen Steg für sie gab.

»Amelie,« rief er hingerissen, »alles, alles sei verziehen und vergessen, wenn Sie mich noch ein bißchen lieben!«

Amelie war wütend auf sich selbst; sie mußte in diesem Augenblick tiefster, echtester Rührung plötzlich an den Dackel denken, der bei Erichs erster Liebeserklärung anwesend war.

Er umschlang und küßte sie. Wieder fühlte sie: Oh, wenn er mich jetzt weit, weit forttrüge! Aber er mußte sie nach Hause bringen.

Sie saß abends bei Tisch wieder der Mutter gegenüber, ohne ein Wort zu sprechen. Sie ging früh zu Bett, erschüttert, erschreckt von Ungewißheit und durchschauert von Seligkeit. Zwar verstand sie gar nichts von alledem, was er gesagt hatte; noch war es ihr immer unbegreiflich, wie er sie so betrügen konnte, den« das hatte er doch getan, aber sie sagte sich: »Ach, es ist ja alles gleich. Ich liebe ihn so rasend, daß ich überhaupt nicht nachdenken will. Und wenn er mich auch noch liebt, dann hat er mich eben nicht betrogen, ich will nichts weiter wissen.«

Von jetzt ab erschien Erich wieder täglich auf ihrem Weg. Unter dem Schutz des Winterabends brachte er sie auf Umwegen nach Hause. Sie müßten ausharren, sagte er immer wieder, der Tag ihrer Vereinigung könne nicht ausbleiben. Er war von seinem Volontärdienst in eine karg besoldete Stelle aufgerückt, und es schien, daß er im Hinblick auf den Preis, nämlich Amelies Hand, wirklich ernstlicher zu arbeiten begann. Hier und da stellt« er auf Umwegen geschickte Fragen an Amelie, die Vermögensverhältnisse ihrer Familie betreffend. Bald forschte er nach der Höhe von Hermanns Studentenwechsel, dann tat er sehr um Amelies Zukunft besorgt, er wollte wissen, ob ihre Mutter von einer Lebensrente oder den Zinsen eines Vermögens lebte und dergleichen. Aber Amelie wußte von allen diesen Dingen nichts, sie meinte nur immer:

»Ich glaube, Erich, wir haben ganz viel Geld. Wenn Mama wollte oder vielmehr Großmama, dann könnten wir ganz gut heiraten.«

»Nie würde ich unter solchen Verhältnissen darauf eingehen,« erwiderte Erich mit Nachdruck.

Der Winter ging hin. Die Nachmittage wurden länger, und immer größer erschien die Gefahr, daß Amelies tägliche Zusammenkünfte mit Erich entdeckt würden. Ihre einzige Vertraute war nun Lea. Sie hatte ihr gebeichtet, daß sie Erich wieder traf und nicht von ihm lassen wolle. Auf was für schwanken Grund er ihre Gefühle lockte, daß sie ihn selber immer mehr für einen leichtsinnigen Menschen hielt, und daß sie nur seine Küsse wollte, und nichts sonst, das verschwieg sie der strengen, logischen Lea. Diese war Erich nicht angenehm, er nannte sie ein unschickes Frauenzimmer, er schwärmte für Eleganz. Auch Lea war mit ihm nicht einverstanden, er erschien ihr zu gesellschaftlich, zu konventionell, sie wollte nicht gnädiges Fräulein genannt sein. Nein, sie war nicht gnädig. Sie war ein Mensch wie er und nichts sonst. Nichtsdestoweniger schlug Lea aus eigenem Antrieb Amelie vor, sie könne mit Erich in ihrem Atelier zusammentreffen. Lea hatte seit einigen Monaten den Unterricht bei Professor Stettner aufgegeben und arbeitete nun allein. Da sie bei ihrer Familie wohnte, verließ sie ihr Atelier, das sie nun zu dieser Stunde dem Liebespaar zur Verfügung stellte, bei beginnender Dämmerung. Weder Gefälligkeit, noch Lüsternheit, noch gedankenlose Gleichgültigkeit veranlaßt«« sie dazu. Sie glaubte vielmehr an eine Art Brüderschaft der freien Geister, die, zerstreut in die Pferche der wohlanständigen Gesellschaft, diese überlisten, sich über ihre Hemmungen hinwegsetzen und sie untergraben müßten, um neuen Idealen Platz zu machen. Sie selbst hatte niemals eine solche Verwirrung gespürt, wie die, in der sich Amelie nun befand, und die Dinge, denen sie jetzt Vorschub leistete, kannte sie nur als Begriffe in der Erörterung, aber indem sie dem jungen Paare Kuppeldienste leistete, glaubte sie den Weg der neuen Menschheit vorzubereiten.


 << zurück weiter >>