Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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24

Hermann und Amélie saßen in dem kleinen Pensionszimmer unter der künstlichen Palme. Er las: Stirner, »Der Einzige und sein Eigentum«, sie einen Band der Ellen Key, aus dem sie entnahm, daß Mädchen, die sich ohne eheliches Band Männern hingeben, nicht nur entschuldbar seien, sondern oft viel höher stünden, als die, welche sich zu verheiraten wünschten. Wenn jene auch heute noch bisweilen die Acht der Gesellschaft zu tragen hätten, so seien sie dafür reichlich entschädigt durch das Bewußtsein, Märtyrerinnen und Vorläuferinnen einer neuen, helleren Zukunft der Menschheit zu sein, – ein sicher erhebendes Bewußtsein. Amélie, die auf diese Lehren durch Lea Knapp hinreichend vorbereitet war, fühlte sich mit alledem durchaus einverstanden. Das klang so überzeugend und war so einfach zu verstehen, sie zweifelte gar nicht daran, daß sie sich gegebenenfalls danach richten würde. Das Entsetzen vor jenen ihr einst durch Therese Berger gezeigten, noch während der Beziehungen zu Erich gefürchteten Abgründen war in München langsam geschwunden wie der Nebel eines kindischen Aberglaubens. »Ist denn die Mutterschaft nicht heilig?« dachte sie, »warum also sie fürchten?« Oh, jetzt würde sie vor nichts mehr Angst haben!

Diese kühnen Meinungen ließen sie immer wieder die Unzufriedenheit vergessen, die sich im Grunde ihrer Natur wieder leise meldete. Nachdem sie eine halbe Stunde aufmerksam gelesen hatte, blätterte sie zerstreut zwischen den Seiten umher. Schließlich warf sie das Buch beiseite und seufzte:

»Ach, ich bin so schrecklich unzufrieden ... mit mir und mit allem – zu dumm, daß Oesterots so schnell abgereist sind. Ich hatte noch wichtiges mit ihm zu sprechen.«

»Was denn?« fragte Hermann, über sein Buch gebeugt.

»Ach, du weißt ja. Er meinte doch, ich solle Schauspielerin werden. Ich glaube wirklich, ich habe mehr Talent dazu, als zur Malerei. Aber seit dem Fest habe ich weder ihn noch sie sprechen können. Es hieß immer, die Kinder seien krank, und nun sind sie in Norderney.«

»Woher weißt du denn das?«

»Sie haben mir doch geschrieben. Einen sehr netten Brief übrigens; hier ist er.«

Hermann las, schüttelte den Kopf und sagte:

»So furchtbar nett finde ich den Brief nicht. Ziemlich kühl. Aber du kannst dich beruhigen: kein Mensch hat sie nach dem Feste mehr zu sehen bekommen, da geht irgend etwas vor; es scheint, sie wollen sich überhaupt etwas zurückziehen. Cornelius meint das auch.«

»Hast du ihn gesprochen?« fragte Amélie eifrig.

»Ja, ich habe ihn im Kaffeehaus gesehen. Er hat so in seiner bekannten Art gescheit geredet; du weißt ja.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Oesterots hätten es eingesehen, daß man in der Richtung, wie sie bisher gelebt, nicht weitergehen könne, das Fest sei ein schöner Abschluß gewesen, und die Reise gebe eine bequeme Gelegenheit, abzubrechen. Na, mir ist es recht.«

»Wie schade« es ist doch so schön gewesen! Gerade, wenn wir kommen, hört es auf! Was sollen wir nun tun? In vierzehn Tagen fangen die Ferien an. Hast du dir schon einmal überlegt, wie das dann zu Hause gehen soll?«

»Ach, es geht halt, wie's geht.«

Amélie antwortete nicht. Sie dachte mit Unbehagen an ihr Wiedersehen mit Erich, dessen häufige zärtliche Briefe sie nervös machten und das Gegenteil des beabsichtigten Zwecks bei ihr erreichten.

»Es ist doch alles nichts,« fuhr sie nach einer Weile fort, »und auch an dir habe ich keinen Halt. Wenn ich mich einmal mit dir aussprechen will, dann liest du.«

»Was soll man sich da viel aussprechen? Das ganze Leben ist halt ein Dreck.«

»Weißt du, wenn ich das glauben könnte, dann möchte ich überhaupt keine Stunde mehr da sein.«

Hermann las weiter. Amélie begann plötzlich zu schluchzen.

»Aber Mely,« sagte er zärtlich, stand auf und streichelte sie, »was soll denn das nun wieder?«

»Ach, laß mich! Lies nur weiter und laß mich ein bißchen heulen.«

Hermann tat, wie sie sagte.


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