Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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Erster Teil

Erstes Kapitel

Ein Mädchen aus guter Familie

1

Ein sonniger Frühling verklärte die alte mitteldeutsche Stadt an dem breiten, glänzenden Flusse in dem Jahre, als Mely Sanders vierzehn Jahre alt geworden war. Welch ein Entzücken erfüllte die Morgengänge nach der Schule durch die zartbegrünten Straßen und Promenaden! Noch fröstelte sie in der Frühe etwas im Freien, ihre weißen, mageren Fingerchen, die aus den Halbhandschuhen hervorkamen, waren kalt und etwas starr, während sie die Schulbücher umfaßten; die Schauer, die manchmal den dünnen, doch schon knospenden Mädchenkörper in dem Sommerkleid erfüllten, mischten sich aus den Empfindungen des Frierens und der Freude darüber, daß es jetzt von Minute zu Minute immer wärmer wurde. Auf dem Weg zur Schule schlossen sich ihr andere Mädchen, manchmal auch Buben, an, und plötzlich sah sie auf der großen Turmuhr, die ernst wie das Schicksal über die heitere Stadt ragte, daß sie sich beeilen mußte. Wie oft hatte sie den goldenen Zeiger auf dem schwarzen Zifferblatt befragt, und sie wußte genau, daß sie, wenn er mehr als fünf Minuten vor sieben stand, bequem Zeit hatte, um recht zum Unterricht zu kommen. Zeigte er nur eine halbe Minute später, so mußte man eilen. Dann schlugen die Kinder einen Laufschritt an, und als sie vor das große Schulhaus kamen, schien alle Morgenkühle verschwunden; es war ihnen so heiß, daß die Gänge mit dem etwas dumpfen Geruch eine angenehme Erfrischung boten. Die Mädchen stürzten in die Klasse, und noch klopfte Mely das Herz, wenn der Lehrer zur ersten Stunde hereintrat.

Die im leisen Maiwinde rauschenden Platanenkronen des Schulhofes hingen fast in die offenen Fenster des Raums, in dem etwa dreißig Mädchen von vierzehn Jahren in hellen Kleidern ungeduldig flüsterten, kicherten, auf den Sitzen hin und her rückten, sich stießen, hie und da ein Wort hinkritzelten, heimlich sich Gegenstände zuschoben oder auch Süßigkeiten kauten. Einige starrten wie geistesabwesend auf den Lehrer, einen bieder aussehenden Herrn von noch nicht dreißig. Seine knochige Männlichkeit, der aufgebürstete, braune Schnurrbart, ein vernarbter Schmiß über der Wange, die viereckige, etwas plumpe Stirn, alles das erschien schwerfällig, ja manchmal hilflos gegenüber dem unruhig prickelnden Element, das er zu beherrschen hatte. Es ist schwer zu sagen, was ihn mehr in Verlegenheit brachte, das unbotmäßige Schwatzen und die nicht zu besiegende Unaufmerksamkeit der einen Hälfte oder das verhimmelnde Anschmachten der anderen.

»Also bitte, die Jugenddramen Schillers in der Reihenfolge ihrer Entstehung,« sagte Dr. Brieskorn mit einer gewissen Energie, und fast schien es, als fühle er selbst, daß diese Frage, eines lichten Frühlingsmorgens an einen summenden Haufen vierzehnjähriger Mädchen gestellt, etwas Lächerliches hatte.

Niemand meldete sich, kaum hatte jemand hingehört. Er rief Mely Sanders auf. Ein Haufe wirren, blonden Haars, das über einer Tischplatte lag, erhob sich, darunter ein keckes, helles Gesichtchen mit graublauen Augen, die weit aufgerissen schienen und ein Gemisch von kindlichem Staunen und Aengstlichkeit vor etwas Unbestimmtem, nicht Gegenwärtigem ausdrückten. Dies wurde noch dadurch verstärkt, daß sich über diesen Augen die nicht sehr starken Brauen in auffallend runden Bogen wölbten. Die Unterlippe war etwas stärker entwickelt als die obere, und das gab der Miene immer etwas leise Unzufriedenes, Fragendes, ja hie und da Spöttisches, so daß man ganz und gar nicht daraus klug werden konnte, ob Mely ernst oder lustig war und wie sie die Dinge meinte, die sie im Augenblick sagte. Aber so wenig man auch darüber wissen konnte, so sicher wurde man von diesem noch vollkommen unbeherrschten Mienenspiel, dessen Stimmung wechselte wie ein Apriltag, unendlich angezogen. Als Mely von Dr. Brieskorn aufgerufen war, zappelte sie mit den Händen und stieß mit den Füßen gegen ihre Umgebung. Man sollte ihr vorsagen. Sie hatte die Frage gar nicht gehört. Da beugte sich ihre Nachbarin, ein fuchsrotes sommersprossiges Dirnchen, über Melys Pult und platzte in lautes Lachen heraus.

»Was ist denn da los?« fragte Dr. Brieskorn in einem Anflug von Strenge; mit einer vor Lachen erstickten Stimme rief die Fuchsrote patzig:

»Sie hat ein F in die Platte geschnitten.«

Dieses Wort entfesselte allen Uebermut, den ein Rest von Ehrfurcht bisher noch in den Mädchen niedergehalten hatte. Gelächter, Zurufe erfüllten die Klasse.

Dr. Brieskorn war feuerrot geworden, denn dieses F bedeutete den Anfangsbuchstaben im Vornamen seines Kollegen und Rivalen Friedrich Pulvermacher, für den die Mädchen schwärmten, welche mehr auf zierliche Hübschheit, als auf robuste Männlichkeit sahen. Dr. Brieskorn war, wie man sagt, eine gediegene Erscheinung. Er kleidete sich solid und hatte eine gewisse militärische Straffheit, deren er sich bewußt zu sein schien. Friedrich Pulvermacher dagegen oder der Fritz, wie er allgemein in der Schule genannt wurde, trug im Sommer oft Waschanzüge, hatte ein blondes Schnurrbärtchen und krauses Haar und liebte es, sich lässig hinzusetzen, das linke Bein über das rechte zu legen und bei der Gelegenheit zwischen dem gelben Schuh und der scharfgebügelten Hose eine gestickte Socke sehen zu lassen, über die seine gepflegte Hand mit dem Brillantring strich. Die Frage wurde allgemein erörtert, ob sein Haar natürlich oder künstlich gewellt war, und ob an dem Gerücht etwas Wahres sei, daß er Fräulein Mordtmann, die herzige Naive des Stadttheaters, wirklich persönlich kenne. Das Bild seines eleganteren Rivalen mußte plötzlich vor dem braven Dr. Brieskorn auftauchen, als die kecke Rothaarige ihm zurief, daß Mely ein F in die Tischplatte gegraben hatte. Die frühreife Schar dieser jungen Großstädterinnen weidete sich an seiner Verwirrung, und es war wohl keine unter ihnen, die nicht aus der ganzen Tiefe der instinktiven Weiblichkeit heraus genau zu fühlen glaubte, was Dr. Brieskorn in diesem Augenblicke »litt«. Die einen weideten sich an dem Gedanken, wie sehr er, der Kleinstädter in seinen schweren Schuhen und breiten Röcken, diesen bezaubernden Fritz hassen mußte. Die anderen aber empfanden, daß der ernsthafte, männliche Dr. Brieskorn es doch wirklich nicht nötig habe, sich hinter so einem Modegecken zu verkriechen. Seine Anhängerinnen jauchzten daher innerlich, als sich Dr. Brieskorn aufraffte und, zwar rot im Gesicht und mit unruhigen Augen, energisch rief:

»Dummes Zeug! Ich will Antwort auf meine Frage haben.«

»Wie grob er wird,« hörte man eine zierliche schwarze Jüdin flüstern.

»Was habe ich überhaupt gefragt?« rief der Lehrer.

Niemand wußte es, auch seine Anhängerinnen nicht, denn obgleich sie mit den Blicken an ihm hingen und alle seine Bewegungen und jedes Fältchen seiner Gesichtshaut verfolgten, so kümmerten sie sich doch recht wenig um die den Unterricht betreffenden Fragen.

»Ich werde dir einmal einen Tadel einschreiben,« fuhr Dr. Brieskorn, zu Mely gewandt, fort, »damit du aufpassen lernst.«

Mit erstaunlicher Plötzlichkeit brach Mely in ein lautes, markerschütterndes Schluchzen aus. Dr. Brieskorn richtete seine Frage an eine andere und erhielt einige notdürftige Antworten; aber der Unterricht konnte zunächst nicht fortgesetzt werden, da Mely ihr herzzerreißendes Schluchzen nicht einzustellen gedachte.

»Ach, verzeihen Sie ihr doch noch einmal, Herr Doktor,« rief Melys rothaarige Nachbarin und streichelte den Haufen blondes Haar, der wieder über der Tischplatte lag.

»Ueberhaupt, das geht gar nicht so, Herr Doktor,« rief die kleine Jüdin, »zuerst gibt es immer einen schlechten Strich, und drei schlechte Striche machen erst einen Tadel.«

»Ja, das ist überhaupt wahr,« stimmten einige bei.

Dr. Brieskorn war ratlos. In diesem Augenblick läutete es. Die Stunde war zu Ende. Alle dreißig Mädchen verließen ihre Plätze, umströmten den Lehrer, und einige baten:

»Ach, Herr Doktor, seien Sie doch nicht so bös, sie hat es ja nicht so schlimm gemeint.«

Andere schwiegen und standen dicht bei dem Lehrer, als wollten sie ihn verteidigen, aber sie sagten nichts, denn soviel Klassengeist war in ihnen, daß sie den Lehrer, wenn es ernst wurde, nicht gegen eine Mitschülerin aufzuhetzen versuchten. Mely Sanders lag, weiter brüllend, mit dem Oberkörper über ihrem Pult, und das war gewiß das Klügste, was sie tun konnte, denn Dr. Brieskorn nahm ärgerlich den Hut, man brachte ihm bereitwillig seinen Stock, und er verließ die Klasse, ohne den Tadel eingeschrieben zu haben. Man tanzte nun vor Freude umher, zog Mely, die sofort unter Tränen ihr Lachen wiederfand, aus der Bank, und alle wollten nun natürlich das F sehen. Die Anhängerinnen des Dr. Brieskorn verließen mit Protest den Raum. In der Tür begegnete ihnen der Fritz. Mit Erobererlächeln blickte er auf die Mädchenschar.

»Ach, der Fritz, der Fritz!« riefen einige keck.

Dieser tat zwar, als ob er es nicht höre, war aber von der Vertraulichkeit offenbar angenehm berührt. Die Anhängerinnen des Dr. Brieskorn blickten ihn mit schnippischem Lächeln von oben bis unten an, und eine blasse Blonde sagte halblaut, indem sie ihm auf die Füße sah, halb keck, halb schmachtend:

»Lila gestreifte Socken, das ist gewiß jetzt das Neueste!« –

Auf dem Heimweg von der Schule trennten sich die Mädchen voneinander. Bei Mely war nur Therese Berger geblieben, ein hochaufgeschossenes, bleiches Wesen mit unreiner Gesichtshaut, Rändern um die stechenden Augen, einer starken Nase, langen, knochigen Händen mit Knotengelenken und unsauberen Nägeln. Im Gegensatz zu dem süß-albernen, fast ganz unbewußten Ding, das Mely noch war, sah sie trotz ihrer vierzehn Jahre weder kindlich noch jung, höchstens minderjährig aus. Sie hatte Melys Arm untergefaßt, und beide lachten und stießen sich, gingen im Zickzack, rannten auch manchmal an Vorübergehende an. Mely tat das aus reinem Uebermut; sie wußte, daß es ungezogen war, aber sie hatte offenbar keine Ahnung davon, wie sie wirkte, wie sie aussah, was die Leute von ihr denken mochten. Therese war selber viel weniger ausgelassen, ihre Augen blickten aufmerksam umher, sie beobachtete bewußt die Mienen der Vorübergehenden und tat so, als versuche sie, Melys Uebermut zu bändigen, um die Verantwortung dafür von sich abzuwälzen. Dabei aber freute sie sich heimlich, wenn Mely ungezogene Dinge tat. Oh, ihr konnte man nichts nachsagen, sie hatte der Mely in einem fort zugeflüstert: »Aber Mely, sieh doch, wie die Leute schauen,« und dergleichen, aber Mely hatte es durchaus nicht hören wollen.

Die Mädchen bogen in eine grüne Straße ein, vor deren Häusern Vorgärten lagen. An einem offenen Fenster im ersten Stock stand ein bartloser Mensch mit verwittertem Milchgesicht und aschblonden Löckchen, Arthur Idali, der erste Liebhaber am Schauspielhaus. Er war in Hemdärmeln und spiegelte sich in der Scheibe, während er sich eine mattgrüne Krawatte umband.

»Ach, wie süß!« rief Mely in einem plötzlichen Anfall von Uebermut, wie sie es dem Fritz gegenüber gewohnt war.

Dann genierte sie sich auf einmal sehr und wollte fortrennen, aber Therese hielt sie fest.

»Weißt du schon, die Mordtmann hat den Fritz hinausgeschmissen, jetzt hat sie den Idali.«

Mely blickte Therese fragend an.

»Die haben doch ein Verhältnis zusammen,« sagte diese, »du, denk' dir bloß, mein Bruder hat auch schon eins gehabt. Er sagt, wenn es ein Kind gibt, dann geht er ins Wasser. Er will auch Elektrotechniker werden und nach Amerika gehen, weil dort alles so frei ist.«

Thereses Worte wirkten auf Mely wie ein plötzlicher Donnerschlag an einem Frühlingstage. Sie fühlte einen Stich durch ihr ganzes Innere, sie zitterte und glaubte, sie müsse umfallen.

»Du, sei doch still,« sagte sie fast flehend und voll Angst, als die andere weitererzählen wollte. Sie verstand eigentlich gar nicht, was diese meinte, aber sie wußte genau, daß Therese eben mit frevelhafter Hand an eine Welt des Grauens, der Sünde, des Unheils gerührt hatte, von der sie ihre sonnige Jugend in der Ferne umgrenzt fühlte. Therese letzte sich an ihrer Verwirrung.

»Du, du weißt wohl noch nicht, woher die kleinen Kinder kommen?« fragte sie weiter.

Mely riß sich nun plötzlich von ihr los und rannte, so schnell sie konnte, davon.

»Dumme Gans,« flüsterte Therese beleidigt.

Mely bog in eine stille, alte Straße ein. Dort stand das Haus Sanders im Herzen der Stadt. Es unterschied sich von den anderen Giebelhäusern durch die roten Sandsteinumfassungen der Tür und der Fenster: ein behaglicher Bau aus dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts mit übereinandergeschobenen Stockwerken. Mely betrat durch die breite Tür das einfache Patrizierhaus, in dem sie geboren war und bis jetzt gelebt hatte. Im Erdgeschoß lagen hinter bauschig vergitterten Barockfenstern Kontore. Eine etwas ausgetretene Sandsteintreppe mit geschnitztem, durchbrochenem Holzgeländer führte zu dem von der Familie bewohnten Stockwerk. An den Wänden des Treppenhauses hingen alte Stiche von Festungen und Kirchen. Mely, die sonst gewohnt war, bei ihrer Ankunft die Bücher in eine Ecke zu werfen, durch die Zimmer zu toben, um zu sehen, wer zu Hause war, und alle Neuigkeiten des Vormittags zu erzählen, ging heute still in ihr kleines, bunt geblümtes Zimmer mit den weißen Vorhängen, das an die Schlafstube der Mutter grenzte, setzte sich auf eine Stuhlkante vor den tintebeklecksten Tisch, an dem sie sonst ihre Schulaufgaben machte, und stützte sinnend den Kopf in die heißen Hände.

Nach einiger Zeit kam Frau Friederike Sanders herein, Melys Mutter, eine zierliche, einfache Frau von etwa fünfundvierzig Jahren mit altmodisch glattgescheiteltem Haar über einem liebenswürdigen Gesicht von großer Bescheidenheit des Ausdruckes und mit fast kindlichen, hellgrauen, auch etwas verdutzt in die Welt blickenden Augen. Sie war kaum größer als Mely, und wenn man sie beide nebeneinander sah, so verriet der erste Blick, daß Melys lachende, aufrechte Art nicht von der Mutter stammen konnte, daß sie dieser vielmehr schon jetzt über den Kopf gewachsen war.

Frau Sanders war die Witwe des früh verstorbenen Sanitätsrats Dr. Clemens Sanders. Sie entstammte einer angesehenen Familie der Stadt, war nach den dort herrschenden Begriffen gut erzogen, hatte aber niemals durch Beziehungen zu anderen als den gewohnten Lebenskreisen ihren Gesichtskreis erweitern können. Sie war ganz in ihrem Gatten aufgegangen, der durch Bedeutung im Beruf, wie durch eine gewisse weltmännische Art über seine Mitbürger etwas hervorgeragt hatte. Nach seinem Tode war Frau Sanders zu viel mit ihren Kindern beschäftigt gewesen, als daß sie über sich hätte nachdenken können. So verwuchs sie immer mehr mit dem Hause, in dem sie wohnte, und sah altmodisch aus, wie die Kommoden und Truhen, die rings in den etwas weinähnlich nach trockenen Rosen duftenden Zimmern standen. Ja, der lebendig erregten Mely gegenüber wirkte sie selbst fast wie ein Stück altes Gerät, das an dem Platze stand, wohin es einmal vor vielen Jahren gestellt worden war.

»Mely, du bist da?« sagte die Mutter erstaunt und besorgt. »Ich habe mich schon geängstigt, wo du steckst, und nun sitzest du hier, man hört dich ja heute gar nicht. Was ist denn mit dir?«

Mely war noch unfähig, ein Wort zu sprechen. In ihrer Verlegenheit legte sie den Arm um den Hals der Mutter, küßte sie auf ihre trockene magere Wange und schmiegte sich an ihre Brust. Die stets besorgte, selbst hilfsbedürftige Mutter gab Mely immer schnell die verlorene Sicherheit zurück.

»Ach, Mama, denke nur, eben habe ich geglaubt, ich könnte dich gar nicht mehr liebhaben und überhaupt niemand mehr auf der Welt,« erwiderte Mely noch unter Tränen, aber schon wieder beruhigt.

Mely küßte ihre Mutter, die es verständnislos geschehen ließ.

In diesem Augenblick sprang die Zimmertür auf. Hermann Sanders, ein fünfzehnjähriger Bub mit ebenso blondem, wirrem Haar wie Mely kam lärmend in seinem braunen Schulanzug herein.

Auch er hatte die grauen unentschlossenen Augen der Mutter und darüber wölbten sich wie bei Mely dünne Brauen, welche die Augen verwundert aufgerissen erscheinen ließen.

»Heute haben wir die Volksschüler aber vermöbelt,« rief er, »denkt euch, der Kofler hat ein wirkliches Rehhorn zum Boxen gehabt, aber wir haben ihn entwaffnet. Jetzt ist nur Waffenstillstand, heute nachmittag findet die Entscheidungsschlacht am Domplatz statt.«

»Aber Hermann,« sagte die Mutter, »wie siehst du denn aus?«

Sie nahm seine blasse, beschmutzte Hand, die aus einem langen Riß blutete. Mit Stolz zeigte er seine Wunden.

Mely vergaß plötzlich all ihren Schmerz, sie hüpfte vor Freude.

»Oh, Hermann, da muß ich dabei sein! Nach der Schule am Domplatz, nicht?«

»Aber, Mely, schäm' dich doch, ein Mädchen!« sagte die Mutter.

»Und jetzt werden auch Torpedos angekauft,« rief Hermann, von Melys Teilnahme angefeuert, »aber das ist noch ein Geheimnis.«

Auch in seinem Gesichte bemerkte man die etwas vorstehende Unterlippe wie bei Mely, aber während sie bei dieser mehr eine spielerische Schnippigkeit verriet, war sie bei ihm trotzig, fast herausfordernd.

Das alte Lenchen trat ein, ein mageres, verhutzeltes Geschöpf, das die Geburt der beiden Kinder im Hause miterlebt hatte. Ihre Anhänglichkeit wurde freilich seit einiger Zeit erkauft durch einen unaufhörlichen Wechsel der Köchinnen, da keine allzulange Lenes Gewaltherrschaft aushielt.

»Die Suppe ist auf dem Tisch,« rief sie kurz in eine Ecke, als mißbillige sie etwas.

Frau Sanders ging mit ihren beiden Kindern in das Eßzimmer, einen großen, etwas niedrigen Raum mit altertümlicher Stuckdecke und tiefen Fensternischen. Die Möbel und das Gerät verrieten einen soliden, seit Geschlechtern vererbten Wohlstand. Ueber dem eingelegten Schreibtisch aus hellem Birnbaumholz hing ein großes mattes Oelbild, das in etwas steifer Feierlichkeit einen Mann mit hellen, offenen Augen, etwas selbstbewußtem, breitem Mund und viereckigem, blondem Vollbart darstellte. Die Auffassung war konventionell: ein schöner würdevoller Vertreter seines Geschlechtes, dem Kaiser Friedrich nicht unähnlich; die rechte Hand hielt er gewichtig im Brustausschnitt seines Gehrocks. Es war das Bildnis des vor einem Jahrzehnt infolge einer Erkältung, die er sich auf der Jagd geholt hatte, plötzlich verstorbenen Sanitätsrats Clemens Sanders, des Vaters von Mely und Hermann. Die beiden Kinder entsannen sich seiner kaum mehr.

»Du, wie ist denn das mit den Torpedos?« fragte Mely bei Tisch.

»Sehr einfach,« erklärte Hermann überlegen, »die Obersekunda hat Geld zusammengelegt und beim Antiquar Hosp eine alte Ausgabe von Meyers Konversationslexikon gekauft; das sind zwölf Bände Munition, die benutzen wir als Torpedos, d. h. wir binden sie an Riemen und schmeißen sie auf den Feind.«

So sehr Mely auch an diesen Taten Anteil nahm, sie konnte nicht ganz über das Unbehagen hinauskommen, das sie doch in der Tiefe empfand, sobald sie heute an die Schule dachte. Sonst ging es nach ihrem Geschmack dort höchst vergnüglich zu, selbst der Unterricht war ihr nur ein angenehmes Gesellschaftsspiel, aber heute schien ihr der Gedanke unerträglich, Therese Berger wiederzusehen, vor der sie eine wahre Angst fühlte. Warum? Sie wußte es nicht. Vielleicht fürchtete sie heimlich, dieses Mädchen würde nun immer wieder von dem bewußten Thema unaufgefordert beginnen. Sie konnte sich nicht dagegen schützen, und sie wollte doch nichts davon hören, denn das, was sie heute morgen so plötzlich erfahren, war schon mehr, als ihre Kinderseele auf einmal vertragen konnte. Nach Tisch sagte sie darum halb verlegen zu Hermann:

»Du, hol mich doch heute von der Schule ab.« »Aber du weißt doch, ich kann nicht,« erwiderte er, »ich muß eine ganze Kompagnie zum Domplatz führen. Komm lieber allein hin.«

Mely gelang es am Nachmittag, Therese auszuweichen. Kaum war die letzte Stund« geschlossen, als sie voll Angst ihre Bücher ergriff und, so schnell sie konnte, durch die Straßen davonrannte. Sie eilte durch Gassen, die sie kaum kannte, aus deren Kellerlöchern kühle, etwas muffige Gerüche emporstiegen und rannte zum Domplatz. Dort standen schon die Gymnasiasten. Als sie plötzlich der vielen Buben ansichtig wurde, blieb sie stehen. Sie genierte sich. Die Jungen machten einen ungeheuren Lärm. Manche standen in Reih' und Glied, wie in der Turnstunde. Sie hatten ihre Bücher an Riemen gebunden, so daß sie sie als Schleuder benutzen konnten. Mehrere liefen lebhaft vor der Front hin und her. Eine Anzahl blasser, bebrillter Obersekundaner hielt wirklich die beim Antiquar gekauften Torpedos unter den Armen. Die Mannschaften sahen aber mehr aus, wie Kandidaten zu einem Examen, als wie einer Schlacht gewärtige Helden. Nach einiger Zeit hörte man einen gellenden Pfiff aus der Seitengasse. Die Volksschüler, meist in dunkle Strickanzüge gehüllt, brachen hervor wie eine Schar von Hunnen, viel wildere und furchtbarer aussehende Kerle als die Gymnasiasten. Sie schwangen ihre Ranzen und zerstörten im Nu die geordnete Schlachtreihe. Es entstand ein wildes Handgemenge, aber schon mischten sich Vorübergehende ein, packten einige Jungen am Kragen und trieben sie auseinander. Ein Haufe Gassenbuben hatte sich eingefunden – Franktireurs, mit denen man kurzen Prozeß machen müsse, nannte sie Hermann –, auch ein Schutzmann mit Notizblock ließ sich blicken, die Volksschüler wurden zerstreut, die Gymnasiasten hoben ihre auf dem Platze liegenden Torpedos auf und schlugen den Weg zur Schwimmanstalt ein.

Mely hatte mit Entzücken zugesehen und gedacht: bei den Buben geht's doch anders zu, als bei den dummen Gänsen in der Mädchenschule. Hermann kam nach der Schlacht auf sie zu, vollkommen zerzaust und mit verbogenem Strohhut, das Torpedo »Astrachan bis Beulenpest« unterm Arm. Erwin Dorn war bei ihm, ein großer, etwas stiller Junge, der für einen Sonderling galt, weil er sich nur wenig an den Schlachten beteiligte, aber gerade in dem trotzigen Hermann stets einen Verteidiger fand. Sein brünettes Gesicht mit den starken Backenknochen gab ihm etwas Fremdartiges. Er war Primaner, so daß sein Verkehr, der sich auf den gemeinsamen Schulweg beschränkte, dem jüngeren Hermann sehr schmeichelte. Der Flaum auf seiner Oberlippe ließ sich, wenn er sich einige Mühe gab, an den Enden bereits ein ganz klein wenig in die Höhe zwirbeln. Obwohl auch in seinem Blick noch etwas Kindliches lag, schienen seine Augen doch schon in Geheimnisse zu dringen, die den anderen noch verborgen blieben. Er war auch sorgfältiger gekleidet als jene. Mely wurde in seiner Gegenwart stets etwas befangen. Als sie ihn heute sah, mußte sie einen Augenblick an das denken, was ihr Therese Berger zugeraunt hatte, aber plötzlich schüttelte sie es gewissermaßen von sich ab. Nein, damit hatte der Dorn nichts zu tun.

Erwin hatte viel gelesen, und davon ließ sich Hermann gern erzählen, obwohl er sich nie dazu entschlossen hätte, selber einmal ein Buch zu öffnen; auch Mely hörte ihm gern zu, besonders wenn er über fremde Länder sprach, als sei er selbst dort gewesen. Während die meisten Klassengenossen Hermanns eine sichtliche Verachtung für das weibliche Geschlecht zur Schau trugen, hatte Erwin Mely manchmal Veilchensträußchen geschenkt und ihr auf dem Schulwege die Bücher getragen. Sie fand das bald komisch, bald aber auch sehr nett. Jedenfalls freute sie sich immer, wenn sie ihn sah, und sie fühlte sich von einer Art Huldigung, die er ihr zukommen ließ, geschmeichelt. Niemand behandelte sie so sehr als Erwachsene wie er.

Hermann, Erwin und Mely gingen nun hinter den anderen her. Hermann sprach die ganze Zeit von den Möglichkeiten im weiteren Verlauf des Krieges mit den Volksschülern. Am Flußufer verabschiedete er sich, er wollte mit den anderen schwimmen gehen. Dies war auch anfangs die Absicht Erwins gewesen, nun aber wurde er unsicher und schwankte in seinem Entschluß. Er geriet etwas in Verlegenheit, als er Hermann sagte, er würde heute lieber nicht schwimmen. Dann begleitete er Mely allein nach Hause. Er sprach zunächst fast gar nicht. Auf einmal sagte er:

»Soll ich dir vielleicht das >Buch der Lieder< leihen?«

»Was ist das?«

»Gedichte.«

»Ach, Gedichte,« sagte Mely wegwerfend, »von wem denn?«

»Von meinem Lieblingsdichter Heinrich Heine.«

»Von dem? Den haben wir ja selbst im Bücherschrank, den brauchst du mir nicht zu leihen.«

Mely war enttäuscht, daß sie das so bequem zu Hause haben konnte. Sie hoffte immer, Erwin würde ihr einmal etwas ganz anderes sagen, etwas, was überhaupt gar niemand sonst wußte, als er. Sie waren an dem alten Hause angekommen. Erwin verabschiedete sich, wobei er Schwierigkeiten hatte, den Hut mit der linken Hand zu fassen, da er unter dem Arm seine Schulbücher trug. Den rechten Arm aber mußte er frei haben, denn er hatte sich schon die ganze Zeit darauf gefreut, Melys kindliche, etwas gebräunte Hand, die jetzt entblößt war, zu fassen. Er hielt sie ein wenig lange in der seinen. Mely kämpfte heimlich mit dem Lachen. Auf der Treppe dachte sie: was mögen das für Gedichte sein? Sie wollte gleich an den Bücherschrank gehen, aber dann dachte sie: nein, nicht gleich, soviel liegt mir überhaupt gar nicht daran.

Oben wartete das Lenchen mit dem Kaffee. Frau Sanders war ausgegangen. Mely erzählte der alten Dienerin die Heldentaten, denen sie eben beigewohnt hatte, aber von dem »Buch der Lieder« sagte sie nichts. Die neuen Eindrücke gaben ihr das Gleichgewicht wieder, das sie durch Therese Bergers Worte einen Augenblick verloren hatte. Es war für sie ein ereignisreicher Tag gewesen. Mit Entzücken sah sie den nachmittäglichen Sonnenstrahlen zu, die durch die nicht ganz schließenden, grünen Läden in das Zimmer drangen und auf dem Kaffeetisch das Geschirr und das Silber blitzen ließen.

»Weißt du, Lene,« rief sie plötzlich, »heut war es wirklich schön, und nun wird es immer schöner.«

Dabei sprang sie auf, fiel der alten Lene um den Hals und zog die erstaunt Widerstrebende ein paarmal um den Tisch herum.


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