Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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46

In der folgenden Zeit versank Hermann immer mehr in Einsamkeit. Stundenlang saß er brütend in seinem Stübchen, dann trieb es ihn hinaus in die Straßen. Bekannte besuchte er überhaupt nicht mehr. Es war ihm, als ob er, wenn er mit diesen zusammenkommen würde, immer an die Scheidung denken müsse, während er in seiner Einsamkeit davon fast unberührt blieb. Er gab sich ganz anderen Gedanken und Träumen hin, die aber niemals bis zu voller Vorstellungsklarheit gelangten. Nur dem Fürsten gegenüber, dem er einmal hinter dem Ostbahnhof in den windigen Feldern begegnete, äußerte er sich über diese Dinge.

»Manchmal glaube ich, ich werde wahnsinnig; was ich nachts träume, beschäftigt mich mehr als meine wichtigsten Angelegenheiten. Dabei stehe ich gerade in einer scheußlichen Geschichte, aber die ist mir ganz Wurst.«

Der Fürst ermutigte ihn, seine nächtlichen Träume, von denen er einige erzählte, aufzuzeichnen. So setzte sich Hermann hin und begann ein Tagebuch zu führen, in dem er jedoch nichts von seinen Tageserlebnissen niederschrieb:

I

»Ich befand mich in einem großen Raum im Innern eines Schlosses unter der Erde. Um mich waren Könige und andere Fürsten, darunter Friedrich Wilhelm III. und einer der letzten Landgrafen von Hessen-Homburg, ein noch junger Mann, der gerade die russische Armee verlassen hatte. Er war übermäßig zart gebaut, hatte einen slawischen, knochigen Typus mit gelblicher Tartarenhaut und einen kurzgestutzten, schwarzen Schnurrbart. Er trug einen Gehrock und war identisch mit einem zwerghaften Wesen, das viel im Saal herumsprang. Dies, so flüsterte man, sei der Hund des Schwarzen Wirtes. Ich sagte dem Landgrafen, daß ich sein Landsmann sei. Wir mußten allesamt in den Krieg. Vorher bildeten die Anwesenden, unter denen auch Damen waren, zwei Reihen, zwischen denen, wie in einer Gasse, die Kinder gruppiert wurden. Mit diesen spielte man Kriegsspiel. Sie bekamen die Aufgabe, die Reihe der Preußen zu durchbrechen. Dann waren wir alle draußen. In einer schmalen, abschüssigen Straße stieß der Feind auf uns und drängte uns zurück. Bei dieser Gelegenheit wurde Dr. Oesterot vom Felsen gestürzt und starb sofort. Einige, die sich vor dem Kriege gefürchtet und zurückgeblieben waren, wurden hinter unserem Rücken vom Feinde eingeäschert. Man brachte die völlig berußte, erstarrte Leiche des Schwarzen Wirtes herbei. Er wurde aufrecht auf den Felsen gesetzt, von dem Oesterot vorher gefallen war. Er saß wie ein buddhistischer Heiliger auf seinen übergeschlagenen Beinen. Davor war, wie ganz grob in Stein gemeißelt, sein Geschlecht sichtbar. Vor ihm lag eine Kugel, er war tot. Dann ging ich mit wenigen Ueberlebenden an einem Bergabhang entlang. Wir waren plötzlich in die Parsifalsage verwickelt und gingen dem mittelalterlichen Paris zu, das zwischen den Bergen an der nächsten Biegung des Weges sichtbar wurde. Bald stand ich in Dr. Oesterots Eßzimmer, das voll war von Bekannten. Es herrschte große Erregung über seinen Tod. Cornelius stand neben mir und erzählte, er habe bereits an Frau Thea einen Beileidsbrief nach Rom geschrieben. Ich begriff nicht, daß ich das nicht auch längst getan hatte. Dann dachte ich darüber nach, wie das Leben sich nun nach Oesterots Tod in Schwabing weiter gestalten würde, und ob Frau Thea mit ihren Kindern in München bliebe. In derselben Nacht schrie ich furchtbar auf, da mir schien, ein tierhaftes, grinsendes Wesen mit glatter Haut spränge in mein Bett. Es war der Hund des Schwarzen Wirtes.

II

Ich geriet auf eine Straße unter eine Seiltänzergesellschaft, darunter ein fettes, behaartes, gewichtetragendes Paar und ein junger, nackter Mensch mit rosa Schurz. Er spricht mich an und lehnt sich an mich. Dabei ist mir auf einmal zumute, als sei er eine Frau, und ich gerate in eine Erregung, die mich völlig erschöpft. Dann stehe ich todmüde an der Grenze von Deutschland, Rußland und Norwegen beim Kaukasus, wo ein Sieg durch Trinken von den drei Völkern gefeiert wird. Der Schwarze Wirt soll entscheiden. Man stößt über die Grenzen mit den Völkern, den neuen Brüdern an. Neben mir steht Goethe, gegenüber Knut Hamsun und Georg Brandes. Es wird regnerisch, alle gehen heim. Ich drehe mich um. An der Stelle der Grenze ist eine neue Brücke, über die zum erstenmal ein Zug läuft. Ich warte darauf, daß sie einstürzt. In der Luft schwebt aufrecht das Gespenst eines Schutzmannes mit schwarzem Knebelbart.

III

In einer Gasse blinzelt mir eine bräunliche Dirne zu, die ein Wägelchen schiebt und mich dann offenbar auslacht. Schmale Steintreppen führen in niedriger gelegene Gassen. Ich gerate in eine abschüssige Straße, links ein großes Haus voll Frauen. Abends gehe ich dorthin und treffe Damen aus Schwabing und offenbar auch aus meiner Heimatstadt. Wir trinken Tee. Die jungen Mädchen sitzen brav da, hell angezogen. Sie sehen ein bißchen wie Brettlsängerinnen aus, meist langweilig, einige sind hübsch. Nun gehe ich jeden Tag hin und bekomme immer mehr Mut. Ich suche mir sogar eine aus. Sie beginnt die Unterhaltung mit den Worten:

»Weißt du, manche geben auch hundertfünfzig Mark.«

Ich bin darüber empört, werfe sie hinaus aus dem Zimmer und verlange eine andere. Es kommt ein blutarmes, bleiches, dünnarmiges Ding mit einer schwarzen Brille auf. Ich schicke sie weg, auch eine dritte mag ich nicht und schimpfe sogar ein bißchen. Inzwischen habe ich mich aber schon entkleidet und mein Geld, nach Metallen geordnet, auf dem Tisch ausgebreitet. Gegenüber sitzt ein graubärtiger Herr, der bis dahin alles, was ich tat, lächelnd zu billigen schien. Er setzt sich zu mir an den Tisch, berührt mein Geld. Ich verbiete es ihm. Er wirft es scheinbar zum Spaß durcheinander, ich raffe auf, was ich kann, Geldstücke bleiben an seinen Fingern hängen. Der Schwarze Wirt kommt herein und verbietet mir, sein Haus je wieder zu betreten.

IV

Ich bin in einer unterirdischen Schänke. Ich steige eine Treppe nach der Straße hinauf. Es begegnet mir ein hageres Volksweib in weißem, langem Hemd. Ich entsinne mich, sie früher einmal intim gekannt zu haben. Dann komme ich auf einen promenadenartigen Platz. Unser Bootsmann, der uns im Sommer am Ammersee nachmittags immer den Kahn ablöste, hat einen ermordet und gibt mir das leicht blutige Messer. Auf einem Sockel liegen nebeneinander ein Paar ganz hohe Stulpenstiefel wie abgeschnittene Beine. Wir legen das Messer in einen der Stiefel, damit man glauben soll, ihr Besitzer sei der Mörder gewesen. Dann finde ich mich in dämmerigem Tageslicht in einem trüberleuchteten Steinraum beim Schwarzen Wirt. Ich breite auf dem Tisch ein Manuskript aus. Der Mörder sitzt nervös bei mir am Tisch, rückt dann auf der Bank weg und beteiligt sich jauchzend am Tanz einer Schar von derben Kerlen und Frauenzimmern in der Mitte des Raumes. Ich möchte mich unter die Tanzenden mengen, aber ich kann nicht, denn der Schwarze Wirt sitzt in der Ecke, und sein Blick bannt mich fest am Tische.

V

Im Englischen Garten war gestern dunstig verschleierter Mondschein. Ganz flaches, unbewegtes Wasser, gespenstische Spiegelbilder der Erlenbüsche und Ulmenbäume. Ich lief geängstigt durch die dunklen Wege. Zu Haus ging ich todmüde ins Bett. Um ein Uhr nachts stieß ich im Schlaf einen lauten Schrei aus. Ich hatte folgendes geträumt:

Ich lag draußen am Treppenabsatz, häßliche Reptile näherten sich mir, ich aber mußte sie bewegungslos gewähren lassen. Ich bewohnte irgendwo mit Amélie und Kurt ein modernes Mietshaus. Ich weiß, daß mich Bruder Kurt nun bald zum Essen rufen wird, und ich beschließe, ihn zu ärgern und zu verblüffen. Ich gehe in den Garten, wo sechs bis acht große, aufrechtgehende, gelbgraue zottige Tiere leben, die ich mir heimlich gekauft habe. Sie haben teilweise menschenähnliche Gesichter. Kurt wird sich sicher über diese Ausgabe ärgern. Eines sieht ihm sogar ähnlich. Ich nenne es Kurt. Er kommt in den Garten, und nun fragt er auch gleich, ob diese Anschaffung nicht sehr teuer gewesen sei? Ich erwidere ihm schroff, das sei ja gerade das Schöne, Liebhabereien müßten immer Geld kosten. Nun fragt er mich, woher ich das Geld nähme, da ich doch gar nicht soviel haben könne. Ich erkläre ihm, das ginge ihn gar nichts an. Dann gehe ich ins Haus hinauf. Amélie liegt im Bett, sie ist dick geworden und hat harte, scharfe Züge und ziemlich große, unschöne Hände bekommen. Auf dem Heimweg verliere ich mich im Treppenhaus, und so gerate ich auf einmal nach Italien. Man stellt mir einen jungen Kerl zur Verfügung, der mir die Nachtseiten des städtischen Lebens zeigen soll. Andere machen mir Vorwürfe, daß ich mit diesem ginge. Er sei so verdorben. Einmal berührt er mich, und ich entdecke, daß ich dadurch geschlechtskrank geworden bin. Dann befinde ich mich in einer Schulklasse, dann wieder im Kontor eines Gasthofs. Manchmal ist es Italien, manchmal Japan. Ich werde revolutionärer Umtriebe verdächtigt, in der Klasse wird ein Verhör vorgenommen, und ich muß alle meine Ansichten sagen. Noch drei Deutsche sind dort in ähnlicher Lage. Auf einmal ist es wieder Japan. Der Lehrer, ein Japaner, sagt uns, für die Japaner seien wir Europäer nichts als Holzschnittfiguren. Ich denke: wie frech doch die Japaner seit ihren Siegen geworden sind! Dann sagt der Geschäftsführer des Gasthofs, ich triebe mich mit einem Orgelspieler revolutionärer Richtung umher, neulich habe ich mich mit ihm in einem Konzert durch Blicke sofort verständigt. Ich sei auch betrunken gewesen. Ich antwortete: »Das ist unmöglich, Sie waren ja den ganzen Vormittag bei mir.«

»Ja,« erwiderte er, »betrunken vor Nervosität.«

Dann sprachen wir etwas italienisch zusammen. Ein anderer sagt mir, wenn ich mich nicht verdächtigen wolle, solle ich vor allen Dingen die Gewohnheit aufgeben, nachts auszugehen. Nun schlage ich aber auf den Tisch und schreie, das täte ich seit zehn Jahren; auf meinen Abendspaziergängen fühlte ich mein Leben am allerstärksten. Ich erkläre, wenn er mich nicht in Ruhe lassen würde, dann ginge ich ganz einfach zu Gabriele d'Annunzio, der würde mich schon schützen. Das macht großen Eindruck, und ich sehe, wie sie mich wider Willen laufen lassen müssen.

VI

Ich befand mich auf meiner Hochzeit mit Lina, aber wir lagen gleichzeitig in Scheidung. Ich ärgerte mich über die ordinäre Behaglichkeit, mit der es sich die Familie Stehr-Schüler wohl sein ließ. Ich ließ mich kaum im Saal sehen, sondern suchte nach Mama, die, um Zithern und Gitarren zu prüfen, mit jemand in einen Seitenraum gegangen war. Sie hatte für meine Hochzeit ein Konzert zu geben versprochen. Als ich nach ihr fragte, sagte mir jemand, sie habe sich erschossen, und zwar aus Gram über meine Scheidung. Nun schrie ich vor Entsetzen auf, als ich durch eine Tür meinen Namen rufen hörte. Im Zimmer lag sie, verbunden an Händen und Gesicht. Sie versicherte, nur ganz leicht verwundet zu sein, und ich versprach ihr weinend, ich würde alles aufgeben und wieder bei ihr leben.

VII

Ich finde Bettina Selch nackt in einer fremden Stadt in dem Hause des Schwarzen Wirtes mit einem etwas bäuerlich derben, aber bürgerlich gekleideten Mann mit Vollbart. Ich glaube, es ist der Sohn des Schwarzen Wirtes. Sie will nicht mit mir kommen, denn sie meint, ich würde ihr doch das Interessante nicht zeigen, sie aber will etwas sehen, da sie nur auf der Durchreise hier ist ...«


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