Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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4

In einem nahen Badeort lebte Madame Amélie Sanders, die Witwe des Großkaufmanns Hermann Sanders und Großmutter von Mely und Hermann. Die Männer der Sanders, die zu den ältesten Kaufmannsfamilien der Stadt gehörten, pflegten durch ihren Beruf weit herumzukommen, hatten aber dann, nach Hause zurückgekehrt, die Lebensgefährtin stets aus dem engen Kreise der angesehenen städtischen Familien gewählt. Eine Ausnahme machte in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Hermann Sanders. Während er in Paris in einem befreundeten Geschäftshause tätig war, lernte er eine junge Elsässerin, Amélie Lemaire, kennen, die ihm in der schlanken Ueppigkeit einer »fausse maigre« und mit den lebhaften braunen Augen unter dem dunklen Haar als das vollendete Bild einer Französin erschien. Gleichzeitig war sie ihm lange nicht so fremd wie die anderen Pariser Damen, die er kennenlernte, denn als Elsässerin war sie des Deutschen völlig mächtig. Die junge Dame weilte in Paris bei Verwandten auf Besuch. Nachdem sie zu ihren Eltern nach Straßburg zurückgekehrt war, erreichte es der zähe, junge Mann, der alles das durchsetzte, was er sich einmal in seinen etwas viereckigen Kopf gesetzt hatte, daß er in einem dortigen Filialhause seines Pariser Chefs eine Anstellung erhielt. Amélie freute sich, in dem jungen Mann, der ihr in Paris wohl etwas schwerfällig vorgekommen sein mochte, nun einen Menschen zu finden, mit dem sie über gemeinsame glänzende Erinnerungen reden und über die Enge des Provinziallebens seufzen konnte. Wenn er sie aber von seiner Liebe unterhielt und gar von Heiraten sprach, dann schob sie ihre schnippisch-kokette französische Unterlippe etwas vor und blickte ihn aus ihren leidenschaftlichen Augen rätselhaft an, als wollte sie fragen: Hast du wirklich den Mut, mein lieber Junge, mit deinen etwas plumpen Händen so einen Tausendsasa wie mich festzuhalten? Aber Hermann Sanders hatte keine Angst, und als er das Geschäft seines Vaters in der mitteldeutschen Stadt übernahm, wurde Amélie Lemaire seine Frau. Sie verstand es, dem gemeinsamen Eheleben einen leichten, etwas französischen Ton zu geben, die Behaglichkeit des abendlichen pot au feu und der Plauderstunden am Kamin in der mitteldeutschen Stadt einzuführen, und der biedere Hermann war stolz auf das reizende, verfeinerte Heim, das er besaß. Das alles geschah von Frau Amelies Seite ohne jede Spitze gegen deutsche Art, die sich ohnehin in der etwas weltbürgerlichen Handelsstadt ziemlich abgeschliffen hatte. Auch der deutsch-französische Krieg änderte nichts an diesem Zustand. Der Ehe entsprang ein Sohn namens Clemens. Erst nachdem dieser, der Sanitätsrat Clemens Sanders, unerwartet dahingerafft worden war, begannen sich in der alten, schon vorher Witwe gewordenen Mme. Amélie Sanders ihre französischen Gewohnheiten und Anschauungen mehr zuzuspitzen. Sie stieß zwar niemals auf Widerspruch. Die überlebende Gattin ihres Sohnes, Frau Friederike Sanders, war viel zu schwach und zu bescheiden, um dazu fähig zu sein, auch war es ihr selbstverständlich, daß sie der hinterbliebenen Mutter ihres tief betrauerten Gatten Verehrung und Anhänglichkeit zollte, die sie auch ihren Kindern einzuflößen ehrlich bemüht war. Aber die alte Dame fühlte sich von der Familie ihres Sohnes wenig verstanden, und so zog sie sich ganz in eine Villa zurück, die sie, anfangs nur für die Sommermonate berechnet, in einem nahen Landstädtchen besaß. Dort lebten auch noch Abkömmlinge französischer Refugiéfamilien, in deren Verkehr sie sich ihrer Muttersprache bedienen konnte. Die Villa glich einem kleinen englischen Landsitz und lag, mit einem sechseckigen Turm geschmückt, an einem Bergabhange. Eine gotische Zinnenbekrönung und gotisch zugespitzte Fenster gaben dem Bau etwas ritterlich Mittelalterliches, und die alte Dame lebte in den etwas düsteren, gewölbten Räumen, von einem alten Diener namens Lorrain bedient, wie eine Schloßfrau aus alter Zeit. Ihre Unzufriedenheit mit dem heutigen Zeitalter, die über ihren etwas scharfen Zügen lag, dazu aber eine gewisse Großartigkeit ihrer Gebärden und die Leidenschaftlichkeit der immer noch schönen Augen verstärkten den Eindruck, daß Mme. Sanders, wie man sie allgemein nannte, eine nicht ungewöhnliche Persönlichkeit war. Jährlich fuhr sie einmal über Straßburg nach Paris, besuchte dort Verwandte und machte Einkaufe, denn »in Deutschland bekommt man nichts«. In den Sommerferien wohnte Frau Friederike Sanders mit den Kindern bei der Großmutter, sonst kam diese wöchentlich einmal in die Stadt herüber. So lebte jeder auf seine Art, in leichter Entfremdung gegen den andern, aber ohne ernstliche Gegnerschaft.

Die Besuche der Großmama bedeuteten für die Kinder stets eine anregende Unterbrechung des täglichen Einerleis, obgleich sie manchmal auch recht störend empfunden wurden. Die Großmutter war nämlich viel strenger als die Mutter, und es war sehr schwer, ihr etwas vorzumachen. So kümmerte sie sich z. B. immer eingehend um Melys Fortschritte, besonders im Klavierspiel. Sie wünschte nicht, daß durch ihren Besuch Melys Ueben gestört würde, und sie hörte sie gern aus der Ferne ihre sauberen Tonleitern spielen. Da hatte sich nun einmal ein sehr betrübender Zwischenfall ereignet. Nach dem Tee war Mely in den alten, mit hellen Biedermeiermöbeln eingerichteten Salon gegangen, und man hörte sie auch mit ungewohnter Ausdauer kleine, sehr primitive Fingerübungen machen. Als das gar nicht aufhören wollte und die Großmutter vom Eßzimmer aus vergeblich auf Tonleitern und Etüden gewartet hatte, ging die alte Dame nach dem Salon hinüber, und zu ihrem nicht geringen Staunen saß nicht Mely am Klavier, sondern die alte Lene, die mit ihren knotigen Fingern fortgesetzt c d, c d, d e, d e, d e, e f, e f usw. spielte. Der Adlerblick der Mme. Sanders schien das alte Wesen niederzuschmettern. Mely hatte vorgezogen in den Garten zu gehen, und die gute Alte, die sich von ihr um den Finger wickeln ließ, veranlaßt, an ihrer Stelle die von der Großmutter erwarteten musikalischen Geräusche auf dem Klavier hervorzubringen.

Ihrem Enkel Hermann blieb Mme. Sanders innerlich besonders fremd, zumal es ihm lästig war, daß er mit ihr französisch sprechen sollte. Manchmal kam ihr vor, daß der trotzige Hermann seinem verstorbenen Großvater, ihrem Gatten, in vieler Hinsicht glich, doch war er lange nicht so einfach und übersichtlich, und darum nicht so ohne weiteres zu behandeln und zu beherrschen wie einst jener gutmütige, schwerfällige, wenn auch zähe Mann. Die alte Dame verhehlte sich nicht, daß die Mischung mit ihrem Blute die biederen Sanders bedeutend widerspruchsvoller gemacht hatte, als sie in früheren Geschlechtern waren.

Mely schmiegte sich gern an die Großmutter, weil ihre schwarzen Seidenkleider so angenehm knisterten und dufteten. Die alten Wangen der Großmutter waren kühl und rochen nach Puder. Sie trug eine weiße Perücke, deren kleine Löckchen in gerader Linie die obere Hälfte der Stirn bedeckten. Die Augenbrauen der Großmutter über den höchst lebhaften, manchmal etwas stechenden Augen waren schwarz und buschig geblieben (ob sie sie wohl färbte?) und sie konnte sie so hoch ziehen, daß sie auf der Stirn einen Winkel bildeten. Davor hatte sich Amelie als Kind geradezu gefürchtet. Das kräftige alte Gesicht war dennoch des liebenswürdigsten Ausdrucks fähig, und auf den dünnen Lippen wechselten die Züge einer gewissen selbstsicheren Härte und menschenfreundlichen Nachsicht gegenüber den Schwächen der anderen. Mely fühlte sich geschmeichelt, von der Großmutter als fast Erwachsene behandelt zu werden. Ihre Vorschriften über die Art, wie sich eine junge Dame zu benehmen habe, hörte sie mit derselben platonischen Bewunderung an, wie die Ermahnungen des Probstes Nothaft, aber ebensowenig kam ihr hier der Gedanke, daß man diese Vorschriften wirklich befolgen könnte.

Meist kündigte die Großmutter ihren Besuch vorher an, aber eines Tages geschah es, daß sie unerwartet um sechs Uhr nachmittags erschien. Nur Hermann war zu Hause, er befand sich bei den Schularbeiten. Mme. Sanders ließ sich von Lene Tee machen und rief Hermann ins Eßzimmer. Daß ihre Schwiegertochter um diese Zeit ausgegangen war, wunderte sie nicht, aber wo konnte nur Mely stecken? Die Lene wußte es nicht. Hermann sagte ahnungslos:

»Sie wird mit dem Dorn irgendwo herumstrolchen.«

»Qu'est-ce que ça veut dire herumstrolchen?« rief die Großmutter lebhaft und ihre schwarzen Brauen hoben sich.

»Sie gehen doch jeden Tag zusammen.«

»Qui est ce Dorn?«

Hermann wollte das Gesagte abschwächen:

»Oh, ein netter Kerl, dagegen ist nichts zu sagen. Ein bißchen komische Ideen hat er manchmal, aber sonst ...«

Die Großmutter ließ ihn nicht ausreden.

»Also sie gehen jeden Tag zusammen?«

»Ach nein, ich glaube nicht jeden Tag, es ist mir so herausgefahren. Sie wird wohl schwimmen gegangen sein. Es ist ja möglich, daß er sie bis zur Schwimmanstalt begleitet hat; was wäre denn auch dabei?«

Hermann fühlte, daß er sich verrannt hatte, und das gerade machte ihn herausfordernd gegen die Großmutter und ihre Grundsätze.

Es klingelte. Mely kam nach Hause, es war fast halb sieben. Sie hatte also beinahe anderthalb Stunden zu ihrem Schulweg gebraucht. Als sie hörte, die Großmutter sei da, stürmte sie herein und umarmte und küßte sie.

»Sag mal, mein Kind, wo bist du denn solange gewesen?« fragte diese ruhig.

»Ach, im Stadtpark.«

»Mit wem warst du denn dort?«

Hermann wollte der Schwester heraushelfen und sagte:

»Habt ihr die Schwäne gefüttert? Das ist nämlich sehr hübsch, Großmama; Karpfen sind auch da, die Mely geht oft hin mit der Gertud Henschel und anderen aus ihrer Klasse.«

»On ne te dernande pas,« verwies ihn die Großmutter streng, »Mely soll mir selbst sagen, mit wem sie dort war.«

Mely wurde glühendrot.

»Nun, ich weiß es,« erwiderte die Großmutter, »avec ce Dorn bist du dort gewesen. Schämst du dich denn nicht? C'est scandaleux

»Ich habe ihn unterwegs getroffen,« stammelte Mely, »was kann ich dazu, wenn er mitkommt. Manche Buben sind schrecklich frech.«

»Du hast aber diesen Buben schon öfter getroffen, nicht?«

Jetzt wurde Lene hereingerufen. Die Großmutter fragte mit fast stechendem Blick:

»Sagen Sie, Lene, um wieviel Uhr kommt denn das kleine Fräulein hier gewöhnlich aus der Schule?«

»Ach, das weiß ich wirklich nicht, Madame, ich seh' nicht immer auf die Uhr. Ich könnt's ja auch gar nicht sehen, ich hab' meine Brille seit ein paar Tagen verlegt.«

»Oft wird es wohl sechs oder halb sieben, wie heute, nicht?«

»Ich kann's wirklich nicht sagen, Madame, ich muß, um auf die Uhr zu sehen, immer erst meine Brille aufsetzen, und die ist zerbrochen.«

»Also zerbrochen und verlegt,« erwiderte Mme. Sanders, »das ist viel Unglück auf einmal.«

Sie schickte Hermann und Lene hinaus, nahm Mely an der Hand und zog sie zu sich aufs Sofa.

»Ich muß einmal ein ernstes Wort mit dir sprechen, Mely. Du bist bis jetzt noch ein Kind gewesen, und deshalb kann man dir so etwas verzeihen, aber es muß jetzt aufhören, wo du eine junge Dame zu werden beginnst.«

Melys Angst schwand bei diesen ruhigen Worten; sie begann sogar das Gespräch riesig interessant zu finden.

»Mon enfant,« fuhr die Großmutter fort, plötzlich in einen gütigen Ton verfallend und Melys Händchen streichelnd, »jedes Mädchen will, wenn es erwachsen ist, einmal heiraten. Was soll sonst aus ihr werden, wenn ihre Eltern tot sind? Dann braucht sie einen Mann und Kinder, damit sie weiß, wo sie hingehört. Verstehst du das?«

»Ja, Großmama.«

Sie schmiegte sich dicht an das knisternde Seidenkleid der Großmutter und lauschte aufmerksam, wie sie als Kind einem Märchen zugehört hatte.

»Und nun ist es so, daß ein junges Mädchen sich sehr zurückhalten muß im Verkehr mit Buben und später mit Herren, denn eine, die mit vielen lacht und schwatzt und sich begleiten läßt, die will keiner mehr.«

»Warum, Großmama?«

»Ah, c'est difficile à expliquer, vielleicht denkt er: wenn sie meine Frau ist, wird sie es so weiter treiben, anstatt sich um das Haus und um die Kinder zu bekümmern.«

»Das seh' ich aber gar nicht ein, Großmama, später, wenn man verheiratet ist, ist das doch etwas ganz anderes.«

»Also glaube mir, Kind, ich kann dir das jetzt nicht alles erklären, du bist noch zu jung. Jedenfalls darf ein Mädchen mit keinem jungen Mann allein spazierengehen. Bei uns in Frankreich kommen die Mädchen gar nicht in Versuchung, denn man läßt sie überhaupt nicht ohne Begleitung hinaus. In Deutschland ist das anders, und deshalb muß hier eine junge Dame allein wissen, was sie zu tun hat.«

»Weißt du, die armen französischen Mädchen können mir aber leid tun.«

»Nun, jedes Ding hat seine zwei Seiten. Wenn eine junge Dame den nötigen Charakter hat, kann man ihr ja ein bißchen mehr Freiheit lassen, aber du bist noch zu jung und zu unerfahren. Es hat keinen Zweck, länger darüber zu sprechen. Jedenfalls mußt du mir versprechen, daß du nicht mehr avec ce Dorn ...«

»Aber wenn er immer von selber kommt?«

»Dann sag' ihm, du müßtest gleich nach Haus gehen.«

»Was ist denn nur dabei, wenn er mich manchmal begleitet? Das tun die anderen auch.«

»Was die anderen tun, ist gleich. Du bist ein Mädchen von guter Familie und mußt dich danach benehmen, hörst du?«

Die Blicke der alten Dame wurden wieder scharf, der Winkel erschien auf ihrer Stirn; Mely entfernte sich ängstlich von ihr.

Frau Friederike Sanders kam nach Hause. Sie war schon ein bißchen aufgeregt, als sie erfuhr, daß ihre Schwiegermutter während ihrer Abwesenheit gekommen war, und entschuldigte sich bei ihr, daß sie ausgegangen war. Mme. Sanders kam gleich auf den Fall zu sprechen und schlug vor, daß man für Mely eine Gouvernante nehmen müsse. Frau Sanders war der Gedanke unangenehm, eine fremde Person in den engen Kreis ihres Hauses zu ziehen. Obwohl sie Melys Verhalten durchaus mißbilligte, suchte sie es doch der ihr immer zu streng erscheinenden Großmutter gegenüber abzuschwächen, als harmlose Kinderei hinzustellen.

»Woher kannst du das wissen, ob es so harmlos ist? Ça dépend de ce jeune homme. Wenn er ein schwerfälliger Bursche ist, dann ist es ja gut. Ist er aber ein bißchen durchtrieben, dann macht er mit so einem Mädchen, was er will.«

»Aber wie kannst du nur so reden!« rief Frau Sanders, nun doch durch ihr Muttergefühl zum Widerspruch gereizt, »du denkst vielleicht an französische Verhältnisse. Hier sind die Kinder noch unschuldig.«

»Und wenn ich an französische Verhältnisse denke? Bei uns gibt es anständige junge Mädchen aus guten Familien .. et les autrez. Beide wissen, was sie zu tun haben. Hier in Deutschland aber gibt es keine Grenze. On n'a pas du tout le sentiment des distances necessaires. Ich habe gesehen, wie Schulmädchen die Vorübergehenden anlachen, in ganzen Ketten über die Straße ziehen, sich umblicken und an Läden stehenbleiben. Sechzehnjährige Dinger gehen allein ins Theater und werden auf dem Heimweg angesprochen. Mädchen sind jahrelang halb verlobt und küssen sich mit ihrem Bräutigam, und nach einiger Zeit geht dann die Geschichte zurück. C'est, immoral, c'est pis, c'est scandaleux.«

Die alte Dame redete sich immer mehr in Feuer und brachte alles an, was sie gegen die lässige deutsche Mädchenerziehung auf dem Herzen hatte. Die schüchterne Frau Sanders war innerlich tief verletzt, aber sie konnte sich nicht wehren.

»Du willst in allem etwas Schlimmes sehen, hier ist man eben einfacher und naiver.«

»Den Eindruck habe ich gar nicht. Das hängt, wie gesagt, immer von der Kühnheit des jungen Herrn ab, was er mit so einem unbeherrschten, unerfahrenen jungen Ding anfangen will.«

»Und glaubst du, daß die jungen Mädchen bei uns gar keinen inneren Halt haben?«

»Woher sollen sie ihn denn haben, wenn man ihnen von Anfang an zu tun und zu lassen erlaubt, was sie wollen, und bei allem findet, es sei doch nichts dabei. Sie wissen ja gar nicht, was sie tun. Oh, dieser schöne deutsche Ausdruck: es ist ja nichts dabei. C'est tout à fait ravissant. Quelle innocence! Bist du so sicher, daß Mely noch nicht geküßt worden ist?«

»Ja, da bin ich allerdings sicher, bei meiner Tochter bin ich sicher,« erwiderte die kleine Frau Sanders mit einer Energie, die ihr sonst nicht zu Gebote stand. Rote Flecken erschienen auf ihren mageren Wangen.

Das Abendessen unterbrach dieses Gespräch. Als die Kinder zu Bett waren, wurde es mit größerer Ruhe fortgesetzt. Frau Sanders, die, nicht nachtragend, stets zur Versöhnlichkeit neigte, gab die Notwendigkeit einer strengeren Beaufsichtigung Melys zu. Ehe sie schlafen ging, trat sie mit der Lampe an Melys Bett. Das süße Kindergesicht war im Schlaf gerötet, das blonde Haar lag offen um den Kopf. Wie ein kaum flügger kleiner Vogel ruhte eine kindliche, etwas gebräunte Hand, von der blau bestickten Manschette des Nachthemdes begrenzt, auf der Bettdecke. Frau Sanders sagte ihr Mutterinstinkt, daß dieses Kind noch von keinem Buben geküßt worden sei, und daß auch keine derartige Gefahr bestehe.

Nichtsdestoweniger beobachtete die Mutter nun Melys Nachhausekommen etwas genauer und fragte sie bisweilen, mit wem sie den Schulweg gemacht habe. Mely wollte nicht lügen, das widersprach der Offenheit ihrer Natur. Auch war sie viel zu bequem und planlos dazu. Wenn man es ihr so schwer machte, dann gab sie lieber den Verkehr mit dem jungen Dorn auf, der ihr ohnehin nichts mehr bot. Das hatte sogar einen neuen Reiz. Es war ganz lustig, ihm nun davonzulaufen, wenn er ihr entgegenkam; es enttäuschte sie daher, daß er nach einigen Tagen ihr das Vergnügen nicht mehr machte und ausblieb. Von Hermann, der langsam auch Verständnis für Liebesangelegenheiten bekam, und der zierlichen jüdischen Mitschülerin Melys, Lea Knapp, etwas unbeholfen den Hof machte, erfuhr Mely bald, daß Erwin sein Nebenbuhler bei dieser sei. Die Angelegenheit machte die beiden Geschwister zu Vertrauten.

So ging der Frühling dahin, in dem Mely Sanders aufgehört hatte, ein ahnungsloses Kind zu sein. In diesen Monaten gewann ihre Gestalt eine reizende, sinnliche Art, deren Wirkung sich niemand entzog. Ihr Gang wurde wiegend, bei hastigen Bewegungen zeichneten sich unter dem Kleid bisweilen sekundenlang die Linien der kleinen sprossenden Brüste ab. Ihre zarten Farben wurden unter dem Einfluß der Maisonne etwas lebhafter, und dadurch fiel ein wenig mehr der feine Silberflaum auf, der dicht vor den Ohren ein Stückchen die Wangen hinablief und auch die Unterarme sanft umschimmerte. Die Lippen wurden etwas stärker, und ein unbeherrschtes Lächeln verriet eine noch nicht bewußte Sinnlichkeit, die sich nicht zu verbergen trachtete.

In den Juniwochen bedrückte Mely oft eine geheime Schwermut, besonders an den Abenden, wenn es nach dem Essen noch immer hell war und gar nicht dunkel werden wollte. Dann blickte sie oft von ihrem Schlafzimmerchen aus über die Gärten, die an die Rückseite des Hauses stießen, und wartete sehnsüchtig, bis es Nacht werden, und der Schlaf kommen würde. Sie war unzufrieden mit sich. Auch Bücher wollte sie keine mehr lesen. Das »Buch der Lieder« und der »Liechtenstein« waren ja sehr schön gewesen, aber was hatte das alles für einen Sinn? Die Liebe! Gab es die überhaupt? Das mit Erwin war doch gar nichts gewesen. Eine tiefe Enttäuschung bemächtigte sich ihrer; auch dachte sie manchmal mit einem gewissen Aerger an das, was ihr die Großmama gesagt hatte, und doch hätte sie gewünscht, diese wäre auf solche Gespräche manchmal zurückgekommen, denn hinter alledem steckte irgend etwas, was sie nicht kannte, und was sie ungemein anzog. Hie und da ertappte sie sich auch dabei, daß sie nicht mehr solches Entsetzen empfand, wenn sie an Therese Berger dachte, vielmehr vermochte sie nun manchmal eine halbe Stunde lang über die Dinge nachzudenken, die sie vor ein paar Wochen von ihr gehört hatte. Nichtsdestoweniger hatte dies alles für sie noch immer etwas Beunruhigendes, so z. B. das Wort Verhältnis, das Therese so leichthin gebraucht hatte. Von solchen Gedanken schweifte sie dann wieder mit einer gewissen Freundlichkeit zu Erwin hinüber, dem diese Therese Berger auch außerordentlich widerwärtig war, wie er einmal zufällig gesagt hatte. Oh, Erwin würde vielleicht doch einmal ein großer und bedeutender Mann werden, dachte sie hie und da mit Stolz, wer weiß! Doch dann mußte sie immer wieder lachen über die gymnasiastenhafte Ergebenheit, die er für sie gehegt hatte. Manchmal fand sie auch, daß man mit der Mama eigentlich gar nichts Richtiges reden konnte. Sie hatte immer gleich Angst, irgend etwas sei geschehen, und man befinde sich in Gefahr, und das machte jedes ruhige Sprechen mit ihr unmöglich. Nun, und Hermann war doch schließlich auch nur ein Bub. Am liebsten war ihr immer noch, mit Lene zusammen zu sein, wenn die um neun Uhr hereinkam, um ihr zu sagen, es sei Zeit, zu Bett zu gehen. Dann sprach sie mit der Alten und das beruhigte sie, obwohl sie auch ihr natürlich nichts anvertrauen konnte. Aber Lenes unbeirrte derbe Art, über die Dinge zu urteilen, hatte etwas Wohltuendes für Mely. Auf der einen Seite fühlte sie sich bei dieser guten alten Person, die sich ihre eigene Lebensphilosophie zurechtgemacht hatte, sicher und geschützt, und gleichzeitig genoß sie ihre eigene Ueberlegenheit dem etwas bäurischen, altmodischen Geschöpf gegenüber. Das beruhigte sie, denn sie wußte so ganz und gar nicht, was sie von allen den Gefühlen denken sollte, die sie jetzt bewegten, ja sie konnte sie selber nicht einmal bei Namen nennen. Alles das Dunkle, was sie erfüllte, bedrückte sie, dann vermochte sie wieder mit einer geradezu krampfhaften Erregung auf die kleinsten Reize einzugehen, die besonders dieser wundervolle Frühling fortgesetzt ausübte. Sie hatte manchmal eine fast rasende Liebe zu Blumen, dann kaufte sie sich unterwegs eine Nelke, in deren Geruch sie sich wie trunken versenkte. Oder aber sie bog erhitzt um eine Straßenecke, da kam ein frischer Luftzug, den sie so genußvoll empfand, daß sie stehenblieb, damit ihr der Wind in die Haare und in die Bluse fuhr. Diese Kühlung war ihr eine Art Wollust, die noch vermehrt wurde, weil sie wußte, daß das eigentlich gesundheitsschädlich war, sich so dem Zuge auszusetzen.

Die Sommerferien wurden, wie jedes Jahr, bei der Großmama verbracht.

Hermann und Mely betraten eines Morgens den schwülfeuchten, durchdunsteten Wald. Sie gingen zwischen traumhaft üppigen Farren, die naß und groß sich über die Wege beugten, von Spinnweben umstrickt, an denen glitzernde Tautropfen hingen. Dicke schwarze Insekten umsummten die Geschwister. Mely schlug nervös nach Mücken.

»Ich liebe die Lea eigentlich gar nicht,« sagte Hermann auf einmal, während er sich eine verbotene Zigarette anzündete.

»Ich den Dorn auch nicht,« erwiderte Mely wegwerfend.

»Die zwei passen zusammen,« meinte Hermann, und seine Unterlippe schob sich trotzig vor, »die sind raffiniert.«

»Ach, sie spielt ja nur mit ihm, heute geht sie mit dem und morgen mit dem.«

»Das geschieht ihm recht, was Treue ist, das weiß auch er nicht. Er hat mir selbst gesagt, wenn er einmal von der Schule wäre, dann müßte er in jeder Stadt eine andere haben.«

»Wie frech!«

Dann schwiegen die beiden wieder lange, im Inneren beschäftigt.

Melys Gedanken gingen dabei nicht sehr tief, in Hermann aber regte sich ein dumpfer Widerspruch, wie ein Gefühl persönlicher Zurückgesetztheit gegenüber dem Leben, und ein Unwille keimte in ihm gegen die, welche ihren Weg leichteren Schrittes gingen als er. Er fühlte sich mit seiner Schwester verbunden gegenüber jenen anderen, die so klug zu reden wußten wie Erwin und Lea. Plötzlich aber lachte er wieder mit seinem ganzen Bubenlachen, das eine schamhafte Verlegenheit verbarg.

»Es ist eigentlich schade,« rief er, »daß du meine Schwester bist. Wir passen so gut zusammen.«

Beide gingen dicht nebeneinander, so daß ihre Arme bisweilen zusammenstießen.

»Ich habe früher gar nicht gewußt, daß man mit dir so nett reden kann, das ist erst seit kurzem.«

Dabei ergriff sie seine Hand, sie gingen mit schlenkernden Armen unter den feuchten Bäumen hindurch.

»Das macht nur die Liebe,« seufzte Hermann und warf den Zigarettenstummel weg.

Noch einige Augenblicke genossen sie schweigend den grünfeuchten Waldmorgen, dann rief Hermann plötzlich:

»Du, ich glaube aber, wir müssen an die Bahn.«

»Ja,« rief Mely, sofort lebhaft werdend, »weißt du, ich bin recht neugierig, wie er aussieht. Ich fürchte mich fast vor ihm.«

Sie gingen nach dem Bahnhof, um den älteren Bruder Kurt abzuholen, der seit einigen Monaten in Heidelberg die Rechte studierte und nun zum Ferienbesuch kam.

Das Verhältnis der beiden Brüder war seit der Kindheit gespannt gewesen, und das hing mit einer Eigentümlichkeit Hermanns zusammen. Er hatte stets für einen sogenannten »Motzkopf« gegolten, infolge jenes bei ihm häufig auftretenden Zustandes, der sich aus schlechter Laune, Trotz und dem Bedürfnis, etwas recht Unvernünftiges zu tun, zusammensetzte. Diese Zustände äußerten sich besonders dem älteren Bruder Kurt gegenüber. Einmal las dieser in einem Band aus Brehms Tierleben, den er gerade zu Weihnachten bekommen hatte, und machte sich hier und da Aufzeichnungen. Ein kleines Tintenfaß stand vor ihm. Hermann, der still gegenübersaß, sagte auf einmal ruhig:

»Ich würde mir beim Lesen keine Notizen mit Tinte machen.«

»Stör' mich nicht,« antwortete Kurt schroff.

Hermann hatte beobachtet, wie das Tintenfaß umgefallen war; da aber Kurt auf seine Warnung so grob erwidert hatte, genoß er nun ruhig das Schauspiel, wie die Tinte zwischen die Blätter des neuen Buches drang. Als Kurt das entdeckte, stürzte er sich in sinnloser Wut über Hermann und verprügelte ihn. Warum hatte er, der das Unglück kommen sah, ihn nicht gewarnt? Heulend zog dieser ab, während er immer wieder rief, er hätte ihn ja gewarnt, aber eine grobe Antwort bekommen. Der gerade für Psychologie wenig begabte Kurt wollte darin das Zeichen eines boshaften, hinterhältigen Charakters sehen. Er vergaß, daß Hermann genau so gehandelt hätte, wäre das von Kurt verkleckste Buch sein Eigentum gewesen, vielleicht mit der besonderen Genugtuung, Kurt so sehr gegen sich im Unrecht zu sehen.

Die »Motz«zustände Hermanns verliefen in einer bestimmten Zeitfolge. Schon in der Frühe gab es gelegentlich Anzeichen, daß ein kritischer Tag heraufzog. Dann stellte die Lene fest: »Heute motzt der Hermann.« Der Zustand erreichte seinen Höhepunkt in irgendeiner Entladung, sei es, daß er sich, gerade ehe er mit der Mutter ausgehen sollte, absichtlich auf einen Butterteller setzte und dann tat, als habe er es nicht gemerkt, bis man mit Schrecken seine Hose ansah, sei es, daß er in der Kälte ohne Mantel in die Schule lief und dann erklärte, die Lene verstecke immer »mit Fleiß« seine Kleider. War ein solcher Streich gelungen, dann löste sich seine Dumpfheit. Er nahm langsam und gutmütig an der Heiterkeit teil, die er meist bei den Zuschauern erregte und tat dann so, als habe er absichtlich eine humoristische Vorstellung gegeben, die nun zu Ende gehe. Er hatte nur den Dienstmädchen zeigen wollen, daß man Teller nicht auf Stühle stellt und Kleider nicht versteckt. Jetzt merkten sie sich das hoffentlich.

Im letzten Jahr waren diese Kindereien selten geworden. Die Mutter war zufrieden, daß Hermann vernünftiger wurde. Sie merkte nicht, daß seine »Motzerei« nach innen geschlagen war, und seine Urteile über die Welt, seine werdende Lebensanschauung zu beeinflussen begann.

 

Ein knapp und modisch gekleideter junger Herr mit gestutztem, blondem Schnurrbärtchen sprang aus dem Zug, rief dem Gepäckträger ein paar kurze Worte zu und eilte Hermann und Mely entgegen.

»Hallo,« rief er lebhaft, »da ist ja die Sippschaft,« küßte beide, trat zwischen sie, legte um jedes einen Arm und zog sie aus dem Bahnhof heraus. Dann schob er sie in eine Droschke, sprach wieder kurz und knapp zum Kutscher und stieg ein. Während der Wagen fuhr, schlug er den beiden Geschwistern lachend auf die Knie und rief:

»Nun, wie steht's?«

»Weißt du, Kurt,« sagte Mely sinnend und bewundernd, indem sie in das etwas gerötete Gesicht des Bruders schaute, »ich hätte dich aber nie im Leben wiedererkannt, und wir haben uns doch nur ein paar Monate nicht gesehen.«

»Warum? Weil ich nicht mehr aussehe wie ein Pennäler? Pass' mal auf, wenn der Hermann ein paar Monate auf der Universität ist, dann wird die blonde Familienmähne auch fallen.«

Dabei fuhr er dem Bruder in das reiche Haar.

»Weißt du denn schon, was du einmal studieren willst?«

»Eigentlich nicht,« antwortete Hermann unsicher, »vielleicht Chemie oder auch Kunstgeschichte.«

»Na, das ist aber ein kleiner Unterschied.«

»Ja, ich weiß noch nicht, wie Chemie ist, wir bekommen sie erst im Winter.«

»Und das Melykindchen ist hübsch geworden,« fuhr Kurt fort, »hast du denn schon viele Verehrer?«

Mely wurde rot. Kurt lachte.

»Das ist wohl ein heikler Punkt, was? Irgendein Gymnasiast?«

Hermann wollte ihr heraushelfen und sagte:

»Mely hat keinen Verehrer, da irrst du dich.«

»Na, das wird sie wohl dir auf die Nase binden.«

Nun fiel Mely ein:

»Ja, das würde ich auch. Hermann und ich, wir haben keine Geheimnisse, wir erzählen uns alles.«

»Aber Kinder, das ist ja geradezu rührend.«

Der Wagen war vor der weißen gotischen Villa vorgefahren. Mme. Amélie Sanders stand auf der Veranda, Frau Friederike kam dem Sohn entgegen und umarmte ihn.

»Ja, aber wie siehst du denn aus,« sagte sie, während er die Verandatreppe zur Großmutter hinaufging. Sein Haar war fast kahl geschoren. Man sah den etwas geröteten Nacken.

»Aber Bub, dein schönes blondes Haar,« rief die Mutter.

»Ach, Mama, kein Mensch trägt mehr so eine Löwenmähne.«

Er fuhr wieder Hermann über den Kopf. Mely hatte inzwischen im stillen ein Urteil über Kurt geformt: nicht hübsch, aber sehr männlich. Sein Lachen und seine Stimme waren laut und lebhaft, doch nicht lärmend. Er brachte etwas wie einen rauhen Luftstrom mit sich in diesen ausschließlich von Frauen beherrschten Kreis, in dem der meist stille und verdrießliche Hermann das einzige männliche Wesen war.

»Laisse-toi regarder,« sagte die Großmutter, indem sie seine kräftige Gestalt lorgnierte, »mir gefällst du ganz gut so, Junge, ein Glück wenigstens, daß du keinen Schmiß im Gesicht hast.«

»Der kommt im nächsten Semester, Großmama.«

»Aber Kind, du wirst doch nicht den Wahnsinn mitmachen.«

»Einmal muß es sein,« erwiderte Kurt entschieden, »dann habe ich das Recht, darüber zu schimpfen. Ich bin sonst gar kein Freund von all dem Zeug, Verbindungswesen, Mensuren und Kneipen.«

Man saß einen Augenblick auf der Veranda zusammen, aber es kam noch kein rechtes Gespräch in Gang, wie es immer zu sein pflegt, wenn ein lang Erwarteter schließlich zurückgekehrt ist. Endlich wurde zum Essen gerufen. Bei Tisch sahen die beiden Geschwister dem großen Bruder mit wachsender Bewunderung zu. In allem lag etwas Fremdes und Neues, wie die gutgeformten etwas großen Hände Messer und Gabel ergriffen und die festen Zähne sichtbar wurden, wie er in liebenswürdiger Ritterlichkeit der Mutter und besonders der Großmutter zuhörte. Das war freilich nicht mehr der lange Primaner, der nie gewußt hatte, wo er mit seinen Gliedmaßen hinsollte, sondern ein fremder junger Herr, der auf Hermann und Mely wie auf Kinder hinabzusehen schien. Aber sie waren doch heimlich stolz auf ihn. Selbst Hermann schien gewonnen zu sein. Nach Tisch bot Kurt ihm eine Zigarette an, die erste, die er in Gegenwart der Mutter und Großmutter rauchte. Kurt selbst nahm eine dicke Zigarre und verlangte zum Kaffee einen Kognak. Es war keiner im Hause, aber die Großmutter versprach, bis morgen für eine Flasche zu sorgen.

»Dann bitte Hennessy, wenn doch neu angeschafft werden soll,« erklärte er.

»Vouz avez entendu?« fragte Mme. Sanders den Diener Lorrain, der gerade die Kaffeetassen auf einem silbernen Brett anbot.

»J'ai entendu, Madame

Kurt sah ihm lächelnd nach, als er hinausging.

»Immer noch der alte,« sagte er, »solange ich mich erinnern kann, hat er doch genau so ausgesehen wie jetzt.«

In der Tat hatte der schmächtige Lorrain ein Veränderungen nicht ausgesetztes Aeußere. Sein Kopf war in zwei ganz gleiche Halbkugeln abgegrenzt. Der Scheitel teilte das schwache farblose Haar bis in den Kragen hinein. Im Gesicht drückte sich die Teilung durch die strichdünne Nase aus, unter der Schnurrbart und Kinnbart wie Flügel nach rechts und links auseinanderstanden.

Die unteren Räume der Villa, die früher einmal ein Jagdschlößchen gewesen sein mochte, lagen um eine kleine Halle mit Spitzbogen. Eine breite, gewundene Holztreppe führte nach dem oberen Stockwerk, dessen Zimmer auf eine Galerie über der Halle mündeten. Von hier aus ging noch eine enge Stiege auf einen Turm, in dessen sechseckigem Gemach Kurt einquartiert wurde. Dort hatte Mme. Sanders Erinnerungen an ihren verstorbenen Gatten, den Großvater der Kinder, untergebracht. An den braunrosa gestrichenen, etwas bröckelnden Wänden hingen Flinten und Jagdgerätschaften. In der Ecke stand ein alter Rauchstuhl, die Lehne des Möbels ließ sich öffnen und enthielt alte Pfeifen, einen braunseidenen Tabaksbeutel und eine verstaubte blaue Brille. Voll Ehrfurcht beschaute Kurt diese Ueberreste eines längst verklungenen Lebens, und manchmal nahm er vorm Schlafengehen ein braunes Bändchen von dem Bücherregal, das Gerstäckers sämtliche Schriften enthielt.

Alles drehte sich von jetzt ab um den neuen Ankömmling. Er erschien meist erst nach neun Uhr zum Frühstück, zu dem ihm die Großmutter Gesellschaft leistete. Bei dieser Gelegenheit öffnete er ihr sein Herz.

»Weißt du,« sagte er, »ich will die Mama nicht erschrecken, aber dieses Leben in der kleinen Universitätsstadt ist nichts für mich. Ich muß entweder in die Großstadt oder ins Ausland. Ich brauche einen weiteren Horizont. Ich will einmal die Konsulatslaufbahn einschlagen oder zum Bankfach übergehen, oder vielleicht sattle ich auch zur Nationalökonomie um und werde Politiker, ich weiß noch nicht. Jedenfalls muß ich in größere Verhältnisse, wo man das moderne Leben richtig spürt. Du brauchst übrigens nicht zu glauben, daß ich bummeln will. Viel Juristerei habe ich ja im ersten Semester nicht getrieben, aber ich habe viel mit Engländern verkehrt und spreche schon ganz gut Englisch, und auch mit ein paar russischen Anarchisten, ekelhaften Kerlen, aber ich bin ganz froh, daß ich auch das einmal kennengelernt habe. Hier in den Ferien will ich nun die Institutionen und die römische Rechtsgeschichte durchbüffeln, damit ich rechtzeitig den juristischen Doktor kriege.«

Mme. Sanders beobachtete jede Falte in dem Gesichte ihres Enkels, und viel mehr als das, was er sagte, gefiel ihr die bewußte Sicherheit, mit der er sprach. Vielleicht machte sie sich keine ganz genaue Vorstellung darüber, was Nationalökonomie und was ein russischer Anarchist ist, aber aus ihrer tiefen Lebenserfahrung heraus fühlte sie instinktiv, daß dieser junge Mann der einzige Sanders war, der das Leben mehr in ihrem Sinne betrachtete, großzügig und nicht romantisch verträumt.

»C'est tout à fait raisonnable« meinte sie, und ihre Augen nahmen den gütigen Ausdruck an; was ich für dich tun kann, soll geschehen, und du hast recht, daß du maman nicht erschrecken willst. Dein Papa hat ihr nämlich kurz vor seinem Tode einmal gesagt, wie er sich deine Zukunft denkt, und nun meint sie, es müsse alles genau so werden, ohne zu bedenken, daß der Papa, wenn er heute lebte, seine Ansichten doch auch den Verhältnissen entsprechend ändern würde. Wir wollen jetzt erst einmal sehen, daß du im Winter nach Berlin oder nach Genf gehen kannst, aber eins mußt du mir versprechen: keinen Schmiß darfst du mir mit nach Hause bringen, hörst du?«

»Wenn ich nicht nach Heidelberg zurück muß, ist das auch nicht so nötig. Aber dort in der kleinen Stadt würde mich jeder für einen feigen Kerl halten.«

»Eh bien, ich kann dir sagen, daß dich mit einem Schmiß im Gesicht jeder Mensch im Ausland für einen unausstehlichen Raufbold halten würde. C'est tout ce qu'il y a de plus barbare.«

Nach dem Frühstück pflegte Kurt in der Tat ein wenig hinter seine Bücher zu gehen, dazwischen sah man ihn freilich manchmal an eines der Turmfenster gelehnt, eine von Großvaters alten Pfeifchen im Mund, in die Landschaft schauen oder hörte ihn auch gelegentlich eine Melodie vor sich hinträllern. Aber der Schreibtisch in seinem Turmzimmer war, wie sich die Großmutter manchmal in seiner Abwesenheit überzeugte, stets von mit seiner Hand frisch beschriebenen Bogen belegt, ein sicheres Anzeichen dafür, daß er da oben irgend etwas tat. Mit den jüngeren Geschwistern scherzte er nur, es entstand kein engeres Verhältnis. Immerhin spielten sie nachmittags zusammen Tennis, ein Spiel, das er in Heidelberg von seinen englischen Freunden gelernt hatte und ihnen nun beibrachte. Aber dabei war er immer der Lehrer, den sie bewunderten, ohne ihm ganz nahezutreten. Oft hatten sie das Gefühl, er mache sich über sie lustig. Hermann plante sofort eine Reform des Tennisspiels; er fand die Regeln idiotisch und es ärgerte ihn, daß Kurt seine Neuerungen ablehnte, ohne sie überhaupt erwogen zu haben.

»Das Spiel hat nun einmal seine alten Traditionen, die sind nicht zu ändern,« sagte er.

»Wenn aber die Traditionen blödsinnig sind?«

»Neuerungen sind oft noch blödsinniger.«

Während Mely Kurt mit einer blinden Bewunderung, die mit viel natürlicher Achtung und Stolz auf ihn vermischt war, ergeben schien, verharrte Hermann in seinem alten Trotz, der sich allerdings kaum äußerte, vielmehr gerade in einem gewissen zähen Schweigen gelegentlich zu bemerken war. Einmal sagte Kurt bei einer solchen Gelegenheit:

»Mir kommt es fast so vor, als ob du manchmal noch ein bißchen motztest.«

»Oh, noch sehr oft,« antwortete Hermann unerwartet.

Kurt unternahm bisweilen Waldspaziergänge mit der Mutter. Er fühlte es ihr gegenüber als einen Zwang, ihr seine Zukunftspläne, die ihn ganz erfüllten, verschweigen zu müssen. Am liebsten ließ er sich von ihr vom Vater erzählen, aber sie stellte ihn nur im Licht ihrer alles verklärenden Liebe dar, und so konnte er kein anderes Bild von ihm gewinnen, als das eines tüchtigen Bürgers, voll von platten Sentenzen, die zur Vorsicht mahnten. So hatte der Papa z. B. oft gesagt, daß man alles, ehe man es beginnt, genau erwägen müsse, oder daß vieles anfangs unerträglich scheine, was einem später zur lieben Gewohnheit würde. Bisweilen sagte auch die Mutter: »das würde den Papa gefreut haben«, oder »wenn der Papa das erlebt hätte«. Auch die Großmutter gebrauchte diese Worte, aber bei ganz anderer Gelegenheit. Sie suchte ihren verstorbenen Sohn als einen halben Franzosen hinzustellen, von dem Kurt den Drang in die große Welt geerbt hätte. So blieb die Gestalt dieses Mannes, die er sich so sehr sehnte, greifbar zu sehen, völlig und für immer von den Wolken der Mutter- und Gattenliebe verhüllt.


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