Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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16

Nach dem Begräbnis wurde das Mittagessen schweigend eingenommen. Ein Gefühl der Verödung, aber auch der Befreiung von der Leiche herrschte in der Familie. Alle vier erwarteten, daß nun endlich etwas gesprochen werde. Man war beim Obst, als Mme. Sanders sich mit gütiger Stimme an Amélie und Hermann wendete:

»Sagt einmal, Kinder, habt ihr schon darüber nachgedacht, was nun werden soll?«

»Wieso? was soll denn werden?« fragte Amélie weich und verträumt.

»Aber Kind, es muß doch irgendein Entschluß gefaßt werden. Du kannst doch nicht allein die große Wohnung behalten.«

Amelie erschrak. Sie hatte daran überhaupt noch nicht gedacht.

»Kurt muß dieser Tage wieder nach Berlin,« fuhr die Großmutter fort, »Hermann geht zur Universität zurück und du – –?«

»Nein,« unterbrach Hermann, »ich kehre nicht zur Universität zurück, ich gehe nach München und werde Maler.«

Alle blickten erstaunt auf.

»Aber Junge, wieso denn das auf einmal?« rief Mme. Sanders beunruhigt.

»Das ist nicht auf einmal, Großmama, ich trage mich schon lange mit dem Gedanken, aber das könnt ihr ja nicht verstehen. Ich bin überhaupt mündig, und ich will nun wissen, wie eigentlich unsere Verhältnisse sind.«

Die letzten Worte richtete er wie eine Drohung an Kurt, der sich seit Jahren mit der Verwaltung des Vermögens befaßte.

»Ja, dazu hast du freilich jetzt das Recht,« sagte dieser ruhig, während seine starke, wohlgeformte Hand mit dem dicken Siegelring am Zeigefinger das Obstmesser hinlegte, »es ist sehr einfach. Das Vermögen, das die Mama hinterläßt, besteht aus Grundstücken und Hypotheken. Jeder von uns dreien hat monatlich auf zweihundert bis zweihundertundfünfzig Mark zu rechnen.«

»Aber wie kommt denn das, ich habe bis jetzt doch immer dreihundert Mark und oft mehr bekommen?«

»Weil die Großmama der Mama einen großen Zuschuß gegeben hat.«

Hermann war peinlich berührt, als er sah, daß er nicht so unabhängig geworden war, wie er geglaubt hatte. Er blickte die Großmama an, als wolle er fragen, ob sie diesen Zuschuß weiter bezahlen wolle. Mme. Sanders sagte, indem sie die Hände der rechts und links von ihr sitzenden jungen Enkel ergriff:

»Hört mir einmal zu, Kinder. Ihr seid jetzt alle beide erwachsen und frei. Kurt sollte zwar eigentlich der Vormund von Mely werden,« – Hermann und Amélie blickten sich empört an, – »da aber Mely in wenigen Wochen doch einundzwanzig Jahre alt wird, kann man sie ja gleich mündig sprechen lassen. Wie ihr eben hört, ist eure Lage nicht sehr glänzend, aber ich bin gerne bereit, euch zu helfen, wenn ihr freiwillig noch eine Zeitlang die Autorität eurer alten Großmama anerkennen wollt.«

Hermann machte ein finsteres Gesicht. Amélie war unentschieden.

»Was müssen wir also tun?« fragte Hermann, »welches sind die Bedingungen?«

»Ihr müßt gar nichts tun, mein Junge. Aber wenn du jetzt nach Leipzig zurückgehst und zunächst deinen Doktor machst, dann erhältst du nach wie vor dreihundert Mark im Monat, und sobald du die für deinen Beruf nötigen Reisen unternehmen willst, dann werde ich dir weiter helfen.«

»Und wenn ich das nicht tue, was dann?« fragte Hermann kurz.

»Nun, dann mußt du eben sehen, wie du mit deinen zweihundert Mark auskommst. Tu ne maurras pas de faim.«

»Ich verkaufe meine Freiheit nicht!« rief Hermann.

»Und was hast du vor, Amélie?« fragte die Großmama.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte sie mit Tränen in den Augen. Sie fühlte deutlich ihre Verlassenheit.

»Na, willst du nicht bei mir wohnen?«

»Draußen auf dem Land?« rief Amélie erschreckt.

»Nein, so schwer will ich dir's nicht machen, Kind, du hast hier deine Malstunden, deine Bekannten. Ich will dir was sagen: Ich ziehe in die Stadt, wir behalten hier die Wohnung, und nur in den Sommermonaten gehen wir hinaus.«

Amelie legte die Arme auf den Tisch, beugte den Kopf darüber und begann laut zu schluchzen. Sie sah sich allein mit der Großmutter, die ihr so fremd war und hart erschien, in den Räumen, wo ihr von Kindheit auf das Leben mit der Mutter so sanft dahingegangen war. Die Großmutter streichelte sie:

»Du sollst es gut haben, Kindchen. Alles, was dir lieb ist, kannst du weiter tun, nach wie vor. Du bist jetzt eine erwachsene junge Dame, und ich sehe vollkommen ein, daß du mehr Freiheit haben mußt, als ein kleines Mädchen. Du bekommst natürlich deine eigenen Zimmer, du magst deine Freundinnen einladen, die Zinsen deines Vermögens kannst du für deine Kleider und als Taschengeld benutzen und einen Teil davon sparen. Den Haushalt bestreite ich selbst.«

»Ja, die Familie, die Familie,« rief plötzlich Hermann mit gezwungener Ironie und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

In diesem Augenblick klingelte es draußen, und Lorrain brachte Kurt eine Visitenkarte.

»Erich Freiherr von Wietersheim. Wer ist denn das?«

Amélie sprang nervös auf. Sie wollte Hinauseilen.

»Wo willst du denn hin?« fragte Kurt.

»Es ist ein Besuch für mich,« erwiderte Amelie trotzig.

»Nach wem hat der Herr gefragt, Lorrain?« sagte Kurt.

»Monsieur le baron veut parler à Monsieur Kurt,« erwiderte Lorrain und in seinem erstorbenen Gesicht mit dem farblosen dünnen Backenbart leuchtete eine freudige Ahnung.

»Also führen Sie ihn in den Salon.« Baron Erich trat Kurt im Salon mit eleganten Bewegungen entgegen. Er sprach zunächst sein Beileid aus und bat um Verzeihung, daß er an einem solchen Tage komme, aber er müsse annehmen, daß er in Bälde die Familie nicht mehr versammelt fände. Dann erzählte er von seiner Liebe zu Amélie, von seinem früheren Antrag bei Frau Sanders usw. Inzwischen hätten sich seine Verhältnisse sehr viel günstiger gestaltet. Er habe zwar erst zweihundertundfünfzig Mark monatliches Gehalt, aber seine Familie wolle ihm, im Falle er Amélie heirate, von der sie alle die höchste Meinung hätten, dieselbe Summe dazu legen, bis sein Gehalt gestiegen sei. Er zeigte einen Brief seines Oheims, der dies bestätigte. Kurt war überrascht. Sein praktischer Geist übersah schnell die Lage. Gegen die Familie des Barons und den Eindruck, den der junge Mann auf ihn machte, war nichts einzuwenden. Die Verhältnisse erschienen bescheiden, aber der näheren Prüfung wert. Mit Amélies Zinsen und einem entsprechenden Zuschuß der Großmutter hätte sich in der Provinzstadt ein Haushalt gründen lassen, der vor Knappheit geschützt war. Amélie war fast einundzwanzig Jahre alt und soeben in den Besitz einer in ihrer kindlichen Hand sehr gefährlichen Gabe, der Freiheit, gelangt. Wenn sie irgendwelche Dummheiten machen wollte, hatte man keine Mittel, sie zu hindern. Vielleicht liebte sie Erich wirklich, woran er selbst nicht den geringsten Zweifel aufkommen ließ. Diese Gedanken durchkreuzten im Augenblick Kurts klaren Kopf. Inzwischen war auch Mme. Sanders eingetreten. Auch sie stand jetzt dem Antrag des jungen Mannes nicht feindlich gegenüber. Seine Verhältnisse hatten sich entschieden zu seinem Vorteil gebessert, während Amélies Lage schwieriger geworden war als früher, wo sie das noch sehr junge Mädchen in einem guten Hause war.

Hermann und Amélie waren allein bei Tisch geblieben.

»Was ist denn los?« fragte Hermann.

»Es ist mein Geliebter,« sagte Amélie mit Stolz.

»Und was will er von Kurt?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht will er mich heiraten. Wir sind nämlich schon längst heimlich verlobt.«

»Und glaubst du, daß die einverstanden sind?«

»Jetzt hat mir doch überhaupt niemand mehr etwas zu sagen, ich tue, was ich will, und hierbleiben bei der Großmama werde ich auf keinen Fall. Das halte ich einfach nicht aus.«

»Das glaube ich. Warum kommst du nicht einfach mit nach München? Hier lernst du ja doch nie malen.«

»Hermann!« schrie Amélie, und ihre Augen leuchteten auf, »daß ich daran nicht gedacht habe! Also du gehst hin?«

»Ich bin fest entschlossen.«

»Da gehe ich mit.«

Kurt kam herein und sagte:

»Mely, möchtest du nicht einen Augenblick hereinkommen?«

Sie geriet in Verwirrung. Ihre ganze Widerstandskraft war durch die Erregung des Augenblicks gewappnet, um sich für die Uebersiedlung nach München einzusetzen. Wie sollte sie nun gleichzeitig das Recht ihrer freien Liebeswahl gegenüber der herrischen Großmutter und dem bevormundenden Bruder durchkämpfen, die ihr jetzt sicher verbieten würden, Erich zu heiraten und sie wahrscheinlich vor ihm selber demütigen wollten.

Erich kam ihr entgegen und küßte ihre beiden Hände, sein Beileid ausdrückend. Kurt sagte:

»Der Baron Wietersheim möchte dich einen Augenblick allein sprechen.«

Er ging mit der Großmutter hinaus. Amélie traute ihren Ohren nicht. Erich nahm sie in die Arme.

»Siehst du, Amélie,« begann er, »ich habe es immer gewußt, daß wir ans Ziel kommen würden.«

»Kurt und die Großmama sind einverstanden?« fragte Amelie.

»Sie haben noch nichts Endgültiges gesagt. Sie wollen, glaube ich, erst allein miteinander sprechen und dann meine Verhältnisse etwas prüfen. Das ist doch ganz natürlich, denn dein Bruder kennt mich ja noch nicht. Von dieser Prüfung der Verhältnisse habe ich aber gar nichts zu befürchten, denn genau so, wie ich ihnen gesagt habe, ist es.«

»Ich kann diese Heimlichkeiten nicht ausstehen,« rief Amélie.

»Aber Amélie, daß sie uns während ihrer Beratung allein lassen, ist doch schon ein gutes Zeichen.«

»Was haben sie denn zu beraten? Ich habe jetzt allein über mich zu bestimmen. Ich bin mündig, wenigstens werde ich es in einigen Tagen.«

Der Baron war etwas enttäuscht. Nun, wo er an seinem Ziele war, wäre ihm das liebste gewesen, mit der Familie in bestes Einvernehmen zu treten und nicht zwischen dieser und Melys unbegründetem Trotz zu stehen. Die Großmutter und Kurt kamen wieder herein. Sie fanden Erich und Amélie Hand in Hand. Mme. Sanders hatte ihrem Enkel inzwischen Näheres von Erich erzählt. Es lag doch eigentlich nichts weiter gegen ihn vor, als daß er früher ein bißchen leichtsinnig war und selber noch wenig verdiente. Auch Mme. Sanders neigte dazu, in ihm nun den Retter aus der Gefahr zu sehen, in der sich Amélie durch ihre Befreiung vom mütterlichen Einfluß jetzt befand. Sie sagte zu Erich:

»Lieber Baron, machen Sie uns morgen das Vergnügen zum Mittagessen. Bis dahin haben wir alles Nähere besprochen und geordnet!«

Der junge Mann empfahl sich. Nachmittags zog Kurt Erkundigungen über Erich ein. Er erfuhr auf der Bank, daß er sich in den letzten Jahren recht ordentlich gehalten habe und bis zu fünfhundert Mark monatlich aufsteigen könne.

»Nun, mehr würde ich als Amtsrichter so bald auch nicht bekommen,« dachte Kurt, zufrieden, daß ihm diese Angelegenheit zu ordnen so gut gelang.

Abends waren Kurt und Mme. Sanders bereit, in eine Verlobung einzuwilligen, die freilich der Trauer wegen erst in dreiviertel Jahren zu veröffentlichen sei. Die Hochzeit könne dann sehr bald darauf stattfinden.

»Ach, die Hochzeit,« sagte Amélie wegwerfend, als ihr dies mitgeteilt wurde, »je später, desto besser.«

Die Großmutter blickte sie erstaunt an. Nur Hermann, der nachmittags einen Spaziergang mit ihr gemacht hatte, verstand sie. Er weidete sich an dem Erfolg dessen, was er als sein Werk empfand.

»Ich will vorher nämlich noch ein Jahr nach München geben und es als Künstlerin zu etwas bringen,« sagte Amélie kühn.

»Aber Kind!« rief Mme. Sanders.

»Laß doch,« beruhigte Kurt, »das wird sie mit ihrem Bräutigam ausmachen.«

Es war ihm zwar nicht ganz geheuer bei Amélies Aeußerung, aber er ließ nichts davon merken. Hermann ärgerte sich über Kurts Ruhe. Er hatte geglaubt, Amélies Entschluß würde wie ein Donnerschlag wirken.

Am folgenden Tag erschien Erich mit Blumen. Es wurde eine stille Verlobung gefeiert. Der junge Bräutigam bestach immer mehr durch sein« angenehmen Formen, und er war auch nun wirklich ganz auf seiner Höhe, wo er sich mit der Familie seiner Braut einig fühlte. Ohne Amélies Blick zu fürchten, trommelte er hie und da auf seiner goldenen Dose und bot Kurt und Hermann von seinen Zigaretten mit Mundstück aus Rosenblättern an. Kurt trank Brüderschaft mit ihm, Hermann tat ein gleiches mit dumpfem, unzufriedenem Gesichtsausdruck. Nach Tisch ließ man das Paar im Salon ein wenig allein.

»Ich muß aber erst noch ein Jahr nach München gehen,« sagte Amelie plötzlich.

Erich fiel wie aus den Wolken. Als er sah, daß sie es ernst meinte, war er dem Weinen nah. Er sank auf das Sofa.

»Weißt du,« sagte sie, »ich will in der Ehe meine volle Freiheit bewahren. Ich habe mein Talent und meinen Beruf, den gebe ich nicht auf. Das mußt du anerkennen.«

Aufrecht stand ihre schlanke Gestalt vor ihm, das schmale Kinn erhoben. Lange hatte er sie nicht so schön gesehen, und so erkannte Erich, der das Ziel schon erreicht zu haben geglaubt hatte, zerrissenen Herzens ihr Recht auf Freiheit an.


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