Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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27

Osterots gingen daran, ihren Haushalt aufzulösen und von Neujahr an solange in einer Pension zu leben, bis sie eine Reise nach Rom antreten würden. Amélie war daher auf den Verkehr angewiesen, den sie in der Luckowschen Malschule fand oder den ihr sonst der Zufall brachte. Sie merkte sehr bald, daß sie unfähig war, allein zu sein. Hermann ging abends oft seine eigenen Wege, und wenn auch der Fürst manchmal in das »Tirol« kam und einige freundliche oder drollige Worte mit ihr tauschte, so fühlte sie sich doch in dem großen Hause vereinsamt, ja sie fürchtete sich sogar ein bißchen in den altertümlichen Räumen. Gern erinnerte sie sich an Cornelius, aber der war nun gerade auf ein paar Monate nach Paris gegangen. Häufig dachte sie auch an ihre Pläne, zur Bühne zu gehen, wozu sie Dr. Oesterot im Sommer so sehr ermutigt hatte, aber wenn sie nun mit ihm das Gespräch darauf bringen wollte, so wich er aus und wollte offenbar die Verantwortung für einen so wichtigen Wechsel der Lebensrichtung nicht übernehmen. Das war für Amélie doppelt enttäuschend, da sie bereits im Sommer gemerkt hatte, daß sie ein ernstliches Interesse an dem Unterricht in der Luckowschen Schule nicht mehr hatte. Sie erklärte sich das einfach dadurch, daß ja nicht die Malerei, sondern die Schauspielkunst ihre Berufung sei. Nun aber war sie doch wieder auf die Luckowsche Schule angewiesen, weil es das einzige war, was ihrem Leben etwas Inhalt gab. Frau Oesterot besuchte die Stunden nicht mehr, da sie mit den Vorbereitungen der Reise zu sehr beschäftigt war. Auch das Fräulein Göhring war im Herbst nicht wiedergekommen. So blieb der vereinsamten Amélie nichts weiter übrig, als mit den anfangs von ihr doch etwas verachteten Elementen der Schule in nähere Verbindung zu treten.

Zunächst traf sie dort das Fräulein Anne-Marie Hösgen, ein schlicht gescheiteltes, etwas dürftig ausschauendes Fräulein, Ende der Zwanziger, mit unreinem Teint, Malerin und praktische Anhängerin der Ellen Keyschen Ideen. Ihre offene Anzeige einer unehelichen Niederkunft hatte Amélie Eindruck gemacht, und es war ihr wiederum gelungen, alle die Instinkte in sich zum Schweigen zu bringen, die in ihr, wäre sie sich selbst gegenüber unbefangen gewesen, gegen das etwas aufdringliche Fräulein Hösgen gesprochen hätten. Aber schon, daß sie bei Oesterots verkehrte, gab ihr in Amélies Augen einen Glanz. Ihre Beziehungen wurden enger, als Amélie eines Tages mit Anne-Marie zusammen die Malschule verließ und diese ihr das Geständnis ablegte, daß sie sich eigentlich nicht zur Malerei berufen glaube, das Studium nur darum in der luckowschen Schule fortsetze, weil es mancherlei Gelegenheit böte, Geld zu verdienen, besonders, wenn man sich kunstgewerblich betätigte. Geheimnisvoll deutete sie an, daß sie in sich einen anderen Beruf spüre. Amélie brannte vor Neugier, zu wissen, welcher das war, denn sie erkannte eine Aehnlichkeit mit ihrem eigenen Schicksal.

»Mich hat immer das Literarische mehr angezogen, als das Malerische,« sagte Anne-Marie überlegen, während sie mit dem Schirm schlenkerte, »aber eine Frau kann doch nicht eher zu schreiben anfangen, als bis sie wirklich etwas erlebt hat; und das kommt ja bei uns später als bei den Männern, wenigstens ist es augenblicklich in dieser Uebergangszeit noch so, wo ein Mädchen erst jahrelange Kämpfe durchzumachen hat, bis sie sich überhaupt zum Erleben entschließt. Aber gerade diese Kämpfe sind vielleicht das Fruchtbare; wenn jedes Mädchen schon mit siebzehn oder achtzehn Jahren das ersehnte Kind zur Welt brächte, so würde vielleicht kein Frauenroman mehr entstehen. Wir aber, die wir für die neuen Ideale gekämpft haben, und den großen Sieg der neuen über die alte Weltanschauung mit unserem eigenen Herzblute bezahlt haben, wir haben die Verpflichtung, diese Kämpfe aufzuzeichnen und der Nachwelt zu überliefern.«

»Oh, Sie wollen einen Roman schreiben?« sagte Amélie bewundernd, »dazu, denke ich mir, muß eine ganz ungewöhnliche Begabung und ein großer Mut gehören.«

»Zweifellos,« erwidert« Anne-Marie stolz, »aber wer ein eigenes Schicksal in seinem Leben spürt, dem drückt es ja von selbst die Feder in die Hand.«

Anne-Marie bat sie, an einem der nächsten Abende zu ihr in ihre kleine Wohnung zu kommen und mit ihr das kalte Abendbrot und den Tee zu teilen. Amélie stieg in die Zweizimmerwohnung im Hinterhaus hinauf, wo Anne-Marie mit ihrem Kindchen wohnte. Diese öffnete ihr die Tür, führte sie über einen engen Vorplatz in ein kleines, hell getünchtes Zimmer, wo aus ein paar Kisten mit einer Decke ein Diwan hergestellt war, ein bunter Bauernschrank an der Wand stand, und zwei Klappstühle aus Leinwand, sowie ein breiter, auch zum Kinderwickeln geeigneter Zeichentisch das sonstige Gerät bildeten. Darauf lagen unter einer Petroleumlampe allerlei Papiere. Anne-Marie erzählte, daß sie gerade im Begriff gewesen sei, an ihrem Roman zu arbeiten. In diesem Augenblick hörte man das Geschrei des Kindes im Nebenzimmer, und plötzlich war alles Künstliche und Anmaßliche aus Anne-Maries Gesicht und Haltung entschwunden; die Züge wurden weich, fast zärtlich, sie schien alles um sich zu vergessen, sprang wie eine Feder empor und eilte in das Nebenzimmer, wo sie das Kindchen beruhigte. Amélie blieb allein zurück, und obwohl sie sich gestand, daß es höchst ungehörig war, konnte sie sich nicht enthalten, einen Blick auf das beschriebene Blatt, das dicht vor ihr lag, zu werfen. Dort las sie folgende Worte:

Das neue Weib.
Roman in drei Teilen
von Anne-Marie Hösgen
Erster Teil: Der Fluch der Familie.
Erstes Kapitel.
Qualen der Kindheit.

»Ich bin zwar nur ein Mädchen, aber ...« Dann folgten einige Reihen ausgestrichener Worte und weiter nichts. Oben rechts in der Ecke stand groß: »Erstes Konzept.« Weiter war Anne-Marie offenbar noch nicht gekommen.

Dann trat die Verfasserin wieder herein und fragte freundlich, ob Amélie nicht das Kindchen sehen wolle. In dem kleinen, ganz hell gehaltenen Nebenraum lag in dem weißlackierten Bettchen mit blauseidenen Bändern das Kleine, dessen Blut violett durch die dünne Haut der Ohren und der Stirn schimmerte. Anne-Marie, die Schriftstellerin, war ganz verschwunden; sie beugte sich beglückt über das Kind, das eingeschlafen war und nahm ihm den Milchsauger aus dem Mund, was einen leisen, quirlenden Ton hervorbrachte. Kaum aber waren die beiden Mädchen in das andere Zimmer getreten, als Anne-Maries Gesicht wieder einen harten, anmaßenden Ausdruck annahm, während sie weitläufig über das Ethos des Muttertums sprach. Etwas verlegen räumte sie dann plötzlich die Papiere von dem Tische weg.

Am anderen Tage erzählte Amélie ihrem Bruder von dem Besuch. Diesem war Anne-Marie von Anfang an unangenehm gewesen; Frauen, die viel mit Theorien um sich warfen, wie Lea Knapp, Ellinor Schlosser und nun wieder Anne-Marie Hösgen beängstigten ihn. In seiner Schwerfälligkeit vermochte er ihnen nicht zu antworten, aber sein Instinkt lehnte sie sehr entschieden ab. Als er den Anfang von Anne-Maries Roman hörte, lächelte er und sagte:

»Nun, besser kann man das Schicksal deiner Freundin gar nicht ausdrücken: ›ich bin zwar nur ein Mädchen, aber ...‹ darin liegt ihr ganzer Roman.«

Anne-Marie kam nun öfter abends ins »Tirol«, und mit ihr noch eine Reihe anderer kunstbeflissener, junger Leute vorwiegend aus der Luckowschen Schule. Amélie wollte Menschen sehen, Leute kennenlernen und wurde etwas wahllos denen gegenüber, die sie aufforderte, sie zu besuchen. Dazu kam, daß in der Schule alle neugierig waren, den sonderbaren Haushalt bei dem Fürsten Kraminsky, von dem man schon vieles hatte munkeln hören, zu sehen. Oft war abends das »Tirol« von vielen Menschen erfüllt, die mit großer Lebhaftigkeit die Fragen der modernen Kunst und noch mehr des modernen Lebens erörterten. Die Ansichten gingen stets weit auseinander. Einig war man nur in der Ablehnung des Bestehenden, der »Verlogenheit« der Gesellschaft und besonders des Familienlebens. Nicht alle stimmten Anne-Marie bei.

»Nein,« rief eine bebrillte Studentin mit fett glänzender Hakennase, »das Muttertum wird heute überschätzt. Es hindert die Frau, ein Mensch zu sein. Gerade jetzt, wo wir nach politischen Rechten streben, hemmt uns das Muttertum nur. Noch letzten Sommer, als ich zu Hause war und meine Mutter mich in der gewohnten Weise bevormunden wollte, habe ich ihr gesagt: Nun, was bist du, du hast viermal geboren, Kühe gebären zehn- und zwölfmal. Auf höheres Menschentum hast du deshalb noch keinen Anspruch.«

Lina Schüler, die den Weg ins »Tirol« wie zu Oesterots bald gefunden hatte, verteidigte eine ganz andere Weltanschauung, nämlich das Hetärentum. Sie selbst, behauptete sie öfters, während sie mit linkischen Bewegungen in der Luft herumfuhr und ihr Haar unordentlich um das Gesicht hing, fühle sich durchaus als Hetäre. Nicht auf den Beruf käme es an, nicht einmal auf Muttertum, sondern in erster Linie auf das Dionysische, auf den Rausch des Augenblickes. Dies alles waren ungeschickt hervorgebrachte und nicht ganz richtig begründete Gedanken Oesterots, die von den logischeren Frauen der anderen Partei leicht zu widerlegen waren. Das aber focht Lina Schüler nicht im mindesten an; mit einem hochmütigen Lächeln blickte sie auf die anderen, als wollte sie sagen: »Ich weiß doch, was ich weiß,« und wenn sie auch ihre Gründe nicht bereit hatte, Oesterot hätte sie gewiß bereit gehabt.

Ihre Gedanken fanden hauptsächlich Zustimmung bei drei Freundinnen, die sich zusammen kümmerlich mit dem Hervorbringen von Buchschmuck ernährten und in übergroßer Zärtlichkeit in einer Dachstube hausten. Zwei davon waren Zwillingsschwestern, haltlose, gewissermaßen aufgeweichte Wesen, farblose Blondinen mit schlaffem Fleisch von etwa zwei- oder dreiunddreißig Jahren, die einmal vor zehn, zwölf Jahren, als sie den Reiz der ersten Jugend besaßen, nicht häßlich gewesen sein mochten. Sie nannten sich gegenseitig »Pfirsichblüte« und »Mandelblüte« und trafen sich in der Bewunderung für die Dritte, ein mageres Mannweib von etwa vierzig, das sie »Rotdorn« hießen. Rotdorn war das Oberhaupt in dieser dreigliedrigen Ehe; sie beherrschte die beiden anderen ein wenig, beschützte sie dann aber auch wieder ritterlich, wenn es sich z. B. darum handelte, nachts vom »Tirol« nach Hause zu gehen, und ließ sich dafür von ihnen anhimmeln. Die Zwillinge erzählten mit Stolz, Rotdorn habe Muskeln wie Stahl, und manchmal entblößte Rotdorn auch wirklich einen ihrer mageren, sehnigen Arme und ließ ihn von allen anfühlen, um zu zeigen, wie kräftig sie war. Meistens war dieses Dreieck von idealsten Gefühlen erfüllt; wenn es ihnen aber zu schlecht ging, dann murrten bisweilen Pfirsichblüte und Mandelblüte, und Pfirsichblüte ließ sich sogar einmal zu dem frivolen Ausspruch hinreißen:

»Kinder, wenn das so weitergeht, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mir ein reiches Verhältnis zu suchen.«

Dieser Ausspruch stieß auf große Erbitterung bei Anne-Marie Hösgen, für welche die Liebe keinen Preis hatte, während Lina Schüler verständnisvoll und billigend lächelte, als habe sie, die Hetäre, mehr als ein reiches Verhältnis gehabt.

Hermann, der, nie recht zufrieden, dabeisaß, sagte trocken: »Ein reiches Verhältnis finden, ist für ein Mädchen vielleicht noch schwerer, als in einem Beruf etwas zu leisten.«

»Famos!« rief Lina aus, die ihm überhaupt gerne beipflichtete. Pfirsichblüte und Mandelblüte seufzten entsagungsvoll. Anne-Marie war geärgert, und das machte Hermann Spaß.

Eingeborne Münchnerinnen waren in diesem Kreis so gut wie nicht vertreten. Fast alle waren mitteldeutsche oder norddeutsche Kleinstädterinnen, die zu Haus in wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Enge gelebt hatten und nun in München, losgelassen, ohne Hemmungsgefühle die vollste Freiheit genossen. Sie teilten sich die Welt sehr bequem ein in freie Menschen und Philister, verachteten die Konvention, redeten aber fortgesetzt von dem Wert der Formen und glaubten in der Tat, durch ihr Dasein neue Lebensformen zu prägen. Mit der bodenständigen Münchener Gesellschaft und mit dem Bürgertum kamen sie in keinerlei Berührung, und so bildeten sie eine Welt für sich, die sich auf sehr sonderbare Vorstellungen von der Welt da draußen aufbaute. Die eine oder die andere hatte es einmal versucht, außerhalb Münchens irgendwie ihr Fortkommen zu suchen, indem sie Malstunden gab, Aufträge suchte oder für eine Firma kunstgewerbliche Entwürfe machte, aber alle waren sie wieder nach München zurückgekommen, da sie erkannt hatten, daß sie außerhalb dieser Stadt nicht mehr lebensfähig waren. Sie bedurften dieser wurzellosen Bohème, die es so zahlreich und, wenn auch in begrenztem Rahmen, tonangebend nur in München gab. Eine innere Weiterentwicklung oder äußeres Emporsteigen war hier nicht möglich. Bisweilen kam es vor, daß die großen Worte, man wolle seine Persönlichkeit entwickeln und sich ausleben, allmählich fallen gelassen wurden, und wenn eine etwas Reiz besaß, so gelang es ihr vielleicht, wenigstens eine Beziehung mit einem jungen Kunstgelehrten oder in geordneten Verhältnissen lebenden Künstler anzuknüpfen, der ihr das Notwendige zum Leben gab. Dies wurde zwar grundsätzlich in dem Kreise mißbilligt, aber da war doch manche, die das, was sie auf dem Körper trug und das, was sie aß, einer unter großen Phrasen vertuschten Hingabe gegen Entgelt verdankte. Auch so kam freilich selten eine auf einen grünen Zweig, denn Männer, die sich eine Frau etwas kosten lassen, warfen ihre Angeln kaum in diesen Wassern aus.

In diesem Kreis galt Amélie als reiches Mädchen, und das löste doppelte Empfindungen aus. Die einen hatten, wie so viele aus kleinen Verhältnissen stammende Frauen, eine große Hochachtung vor dem Geld, andere suchten ihren Vorteil, indem sie hie und da bei Amélie ein kaltes Abendessen herausschlugen und dabei ihre soziale Empörung kaum zurückhielten über die ungleiche Verteilung der Güter. Amélie kam so weit, daß sie es fast für eine Schande hielt, von Haus aus nicht ohne einen Pfennig zu sein. Nach Zahlung ihrer Pension an den Fürsten war meistens schon Mitte des Monats ihre Kasse leer, da sie bald dieser, bald jener ihrer neuen Freundinnen ausgeholfen hatte. Lina Schüler bot sich häufig an, auszugehen und Essen einzukaufen. Dann gab ihr Amélie einige Mark mit, aber Lina dachte nicht daran, darüber Rechnung abzulegen. Einmal geschah es, nachdem Amélie Lina das Geld gegeben hatte, daß beschlossen wurde, mit Hermann und einigen seiner Freunde auswärts zu essen. Lina dachte nicht einen Augenblick daran, die erhaltene Summe zurückzugeben, denn Geld spielte für sie keine Rolle. Immer wieder sagte sie:

»Es ist einfach da oder nicht; wenn es da ist, fragt man nicht, woher es kommt.«

Die Freunde, welche Hermann einführte, stellten eine höhere Stufe dar. Sie hatten doch alle irgendwann einmal etwas gelernt und waren mehr oder weniger dadurch zur Kunst gekommen, daß sie in sich ein bestimmtes Talent und nicht nur einen Drang fühlten. Grobe, zu lärmende Naturen, wie er sie häufig unter den Künstlern fand, stießen Hermann ab, und so kam es, daß seine Freunde recht gebildete, wenn auch etwas sonderbare Menschen zu sein pflegten. Da war z. B. der Maler Merian, ein kleiner, dünner Mensch mit spitzgeschnittenem, blondem Bärtchen, einer weißen, durchsichtigen Haut und wässerigen Augen. Er war von einem Pariser Schneider gekleidet. Die Art, wie er sich den Tag einrichtete, gefiel Hermann, dessen Dasein noch plan- und formlos verlief. Er sah in Merian den »Kulturmenschen« schlechthin. Er stand spät auf, brauchte lange zu seiner sorgfältigen Kleidung und dachte dabei bereits an das Gasthaus, wo er speisen würde. Schon im Geiste wählte er sich den Platz, an dem er heule sitzen wollte. Fand er ihn nicht frei, dann verging ihm vielleicht jeder Appetit, so sensibel war er; meist bestellte er irgendeine kleine, feine Speise, wie sie sonst niemand in München aß, vielleicht nur zwei Eier mit Parmesan oder Tomaten, dazu trank er ein Glas Madeira. Es störte ihn, wenn jemand zu ihm an den Tisch kam. Nur im Kaffeehaus, wo Hermann ihn traf, liebte er Gespräche. Er lebte nur von sinnlichen, von außen kommenden Eindrücken, war aber dabei doch beileibe kein sinnlich veranlagter Mensch. Er liebte nur die schwachen Eindrücke, von kleinem, zierlichem Geschirr zu essen und in kleine, zierliche Konditoreien zu gehen. Auch dort hatte er überall seinen vorher bestimmten Platz. Er bestellte sich einen café double und sah dabei aus, als dächte er: »Wie klein ist doch dieser double!« Wie aus der Ferne sprach er über die Frauen. Er setzte sich immer gern in den Lokalen zu derselben Kellnerin, mit der er aber nie sprach. Er wollte von dem Weibe nur den Duft. Dabei hatte er doch nicht das geringste von der bewußten Aesthetik eines geistigen Dandy, er lebte nur im Triebhaften, aber alles dies war in ihm Miniatur. Er schien die dünne Spitze einer wohl ganz verausgabten, aber guten Rasse. Nachmittags malte er ein bißchen, abends ging er in ein Konzert. Mitunter rührte ihn in der Musik irgend etwas ungemein, aber selten etwas Künstlerisches, gewöhnlich irgend etwas Neurasthenisches im Klang. Er dachte nichts, er liebte nichts, und er haßte nichts, der dünne, kleine, elegante Herr Merian. Nichts brachte ihn aus seinem Gleichgewicht, so lange man ihn in Ruhe ließ. Störte etwas Unvorhergesehenes seinen ausgetüftelten Tagesplan (etwa ein lärmender Nachbar), dann blinkte etwas wie eine stille Träne in seinem Fischauge. Hermann bewunderte diesen stets gemessenen Menschen. Als er Herrn Merian eines Tages schüchtern fragte, ob er nicht einmal zu ihm kommen und sich seine Wohnung ansehen wolle, leuchtete eine ausgesprochene Freude über dessen Antlitz und er erschien nun beinah jeden Abend im Tirol, setzte sich in eine Ecke unter das Auge Gottes und hörte still lächelnd und offenbar befriedigt den Redeschlachten, die sich um ihn abspielten, zu, obwohl er zu keinem der anwesenden Menschen, am allerwenigsten zu irgendeiner der Frauen, in nähere Beziehungen trat. Nur wenn der Fürst Kraminsky gelegentlich hereinkam, und dies geschah wohl ein- oder zweimal jede Nacht, wurde Herr Merian etwas lebendig, wagte sogar hie und da einen fein gedrechselten Aphorismus, für den der Fürst mit überlegenem, freundlichem Lächeln dankte. Er redete zum nicht geringen Staunen der anderen den Fürsten »Durchlaucht« an, und einmal, nachdem er ein Glas von dessen altem Portwein getrunken hatte, sogar »Durchlauchtigster Fürst«. Erst später erfuhr man, daß Herr Merian nur darum so viele Nächte im Tirol zugebracht hatte, weil er durch den Fürsten vornehme Bekanntschaften zu schließen und Eintritt in die höheren Kreise zu finden hoffte. Im Sommer ging er stets in die Sächsische Schweiz, da er das Hochgebirge seiner unmäßigen Dimensionen wegen verabscheute, und stürzte schließlich in der Nähe von Herrnskretschen ab, ein Opfer des deutschen Mittelgebirges.

Ein anderer Bekannter Hermanns war der Maler Max Flörsheim aus Berlin, ein sehr behäbiger und sicherer Herr, übrigens ein Vetter des Fräulein Käthe Göhring aus der Luckowschen Malschule. Er hatte einen schönen, doch etwas zu runden Kopf, einen sehr sinnlichen, fast herzförmigen Mund und einen tiefschwarzen Schnurrbart. Als Hermann ihn einmal nach seiner Base fragte, erwiderte er sehr überlegen lachend:

»Na, dafür habe ich gesorgt, daß die Kleine wieder nach Berlin zurückging. Das ist doch hier kein Pflaster für'n anständiges Mädel aus gutem Hause.«

Flörsheim wußte damals noch nicht, daß Hermann mit seiner Schwester lebte. Er legte großen Wert auf gutes Essen und ließ in München nur ein oder zwei teure Speisehäuser als »möglich« gelten. Mit weltmännischer Großzügigkeit überwand er Hermanns Weigerung, als sein Gast dort mit ihm zu essen. Hermann war durch die Erfahrung und umfassende Bildung Flörsheims bestrickt.

»Besuchen Sie mich einmal in meinem Atelier,« sagte dieser.

Flörsheim war ein sehr bequemer Mann. Malschulen betrat er nicht. Vielmehr hauste er mit einem frischen, blonden Mädel, Gusti, in einem Atelier mit Wohnung. Dort saß er mehrere Stunden des Tages in einem Sessel, eine dicke Zigarre in der Hand, und zeichnete nach Gips oder auch nach lebendem Modell. Alle Woche kam sein Lehrer zur Korrektur; das war angenehmer, als in die Schule zu gehen. Die kleine Gusti mußte ihm bei der Arbeit vorlesen, wodurch er gleichzeitig etwas für ihre Bildung zu tun glaubte. Am geeignetsten schienen ihm dafür die Romane von Bulwer. Er hörte nur halb hin, wenn sie las, aber bisweilen drehte er sich bei der Arbeit um und fragte:

»Wie war das doch? Also der heiratete sie?«

So überzeugte er sich gleichzeitig, ob sie auf das Gelesene aufpaßte.

Als Hermann einmal dazukam, ließ sich Flörsheim gar nicht stören. Hermann nahm Platz, während der andere den Kopf eines alten Mannes zeichnete und gleichzeitig ein Kapitel aus den »Letzten Tagen von Pompeji« anhörte. Hermann verfolgte jeden Zug in dem lieblichen, einfachen Gesichtchen Gustis und jede Bewegung der graziösen und doch kräftigen Hände, und ihm schien, Flörsheim habe es sich freilich schöner eingerichtet als die anderen Maler. Dann ging Gusti hinaus, um Tee zu bereiten. Solch ein »Verhältnis« hätte er auch gerne gehabt, aber er hatte Angst, dann nicht zu wissen, was er mit ihr reden sollte.

Hermann erzählte vom »Tirol« und vom Fürsten Kraminsky, Flörsheim möge ihn doch auch einmal besuchen. Dieser schien sich sehr für eigenartige »Milieus« zu interessieren und versprach zu kommen.

»Bringen Sie auch Fräulein Gusti mit.«

»Aber Sie sagten doch, Sie wohnten dort mit Ihrem Fräulein Schwester?«

»Ja, ja, aber sie ist ganz vorurteilslos.«

»So?« lachte Flörsheim, »aber ich bin es nicht.«

Hermann wurde sehr nachdenklich.

Kurz vor Weihnachten erschien in diesem Kreis auch die werdende Barfußtänzerin Ellinor Schlosser, die ihren Plan verwirklicht hatte, nach München zu kommen und in der Vasensammlung Studien zu ihren neuen Tänzen zu machen.

 

Wenn es abends im »Tirol« dämmerig wurde und alle die krausen Gegenstände im Schatten versanken, zitterte Amélie meist vor Ungeduld, da sie nie sicher wußte, ob ihre Freunde kommen würden oder nicht, denn irgendwie bestimmte Verabredungen gab es nicht, und so konnte es geschehen, daß einhalbe Stunde nach der anderen verging, ohne daß jemand erschien. Dann saß sie oft und wartete, ob nicht der rostige Klingelzug ertönen würde; sie lauschte auf jeden Fußtritt draußen auf dem Pflaster. Um diese Zeit kam meist Frau Kuhwarm, wirtschaftete in den Räumen herum und verschwand dann wieder in den rätselhaften Tiefen ihres Privatlebens, aus dem sie zweimal am Tag auftauchte. Dann wurde es ganz still, kaum daß einmal ein Wagen durch die abgelegene Straße rollte; und wenn sich dann Amélie entschließen mußte, ihr Abendessen allein in dem weiten »Tirol« zu nehmen, während Hermann irgendwo auswärts mit seinen Freunden herumzog, überkam sie ein tiefes Gefühl der Unbefriedigung und der Vereinsamung; sie wußte, daß sie sich, wenn es halb zehn geworden war und sie niemand besucht hatte, zu etwas entschließen würde, dem sie im Grunde ihrer Seele aufs tiefste widerstrebte. Dann zog sie sich an und ging noch allein aus, in der Hoffnung, in einem Kaffeehaus Menschen zu treffen, die sie vor ihrer Einsamkeit retteten. Es kam vor, daß sie auch dort niemand traf und von einem Lokal in das andere ging, sich zwischen den Tischen hindurch drängte, als ob sie eine bestimmte Person suchte, bis sie irgendwo in einer Künstlerkneipe ein paar Menschen traf, zu denen sie sich setzte, wenn sie sie auch nur flüchtig kannte. Wie sie sich dadurch entwürdigte, fühlte sie wohl, aber sie konnte nicht allein mit sich selber sein und erklärte sich das mit Redensarten, wie etwa der sie seit Jahren quälende, aber unterdrückte Lebensdurst mache sich nun doppelt stark geltend. Dabei suchte sie gar nichts Bestimmtes, sie wollte sich nur über die leeren, quälenden Stunden hinwegtäuschen. Es kam ihr bald nicht mehr darauf an, wen sie traf, wenn sie überhaupt nur Menschen um sich sah, die sie daran hinderten, im stillen über die Hohlheit ihres Daseins nachzudenken. In dieser Zeit geschah es auch, daß sie oft weniger Sorgfalt auf ihr Aeußeres legte, als sie es bisher immer noch gewohnt gewesen war, daß sie gelegentlich mit einer Bluse, an der ein Knopf fehlte oder auf der ein häßlicher Fleck war, und mit schlechter Frisur bis morgens eins, zwei Uhr unter allerlei Künstlervolk in Lokalen herumsaß. Sie hatte ja kein Geld für feine Kleidung, sagte sie sich. Und kam es denn überhaupt darauf an? Es lag eine gewisse Genugtuung darin, daß sie nun ihrer Umgebung ähnlicher wurde. Immer nervöser wurde dieses Bedürfnis nach Menschen, und oft, wenn Freunde bei ihr gewesen waren, die sich gegen Mitternacht verabschieden wollten, ging sie noch mit ihnen in allerlei Kneipen, wo sie bis zum frühen Morgen hockten. Wenn sie dann enttäuscht zurückkam, sagte sie sich, wenigstens sei die Nacht hingegangen, und nun fiel sie todmüde auf ihr Lager.


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