Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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50

In diesem Winter starb Mme. Sanders. Sie hatte sich eine Erkältung zugezogen, der ihr Alter keinen Widerstand mehr zu leisten vermochte. Noch einmal waren die drei Geschwister in ihrer Heimatstadt vereint, um der Großmutter, die sie nicht mehr lebend angetroffen hatten, die letzten Ehren zu erweisen und um den Nachlaß zu ordnen. Seitdem Kurt die Scheidung Hermanns, der inzwischen aus der Klinik entlassen worden war, so günstig beeinflußt hatte, war wieder eine Annäherung der Geschwister entstanden, und in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes in der Heimat war eine warme, freundliche Stimmung zwischen ihnen.

Am Tag nach dem Begräbnis wurden sie vor das Amtsgericht geladen, um der Eröffnung des Testaments beizuwohnen.

Der Amtsrichter saß, zunächst unsichtbar und die Parteien nicht sehend, hinter Aktengestellen.

»Also Sie sind die Chansonette Mignon Lorgnetta, genannt das Merinoschaf?« begann er die Verhandlung.

»Nein, ich bin der Assessor Kurt Sanders,« erwiderte Kurt, der sofort merkte, daß eine Aktenverwechslung vorlag.

»Bekennen Sie sich als Vater?« fragte die Stimme des Richters unbekümmert.

»Nein, als Erbe.«

»Was heißt das?« Nun erhob sich der Amtsrichter, ein kahler Mann mit einem kleinen dünnen Mund und einem Bart wie Wilhelm I. Vor einem Aktengestell stand ein rothaariger, sommersprossiger Zwerg, ein Gerichtsschreiber, der sich bisher mit unzureichenden, wenn auch nervösen Gebärden bemüht hatte, den Richter auf seine Verwechslung aufmerksam zu machen. Endlich gelang ihm dies. Der Richter nahm gleichgültig davon Kenntnis. Die piepsende Stimme des Schreibers las halblaut mit rasender Geschwindigkeit in etwa drei Minuten das Testament herunter. Die drei Enkel verstanden hie und da ihre Vornamen. Dann fragte der Richter:

»Haben Sie etwas zu bemerken?«

Niemand hatte etwas verstanden, also hatte auch niemand etwas zu bemerken.

»Etwaige Anfechtung hat innerhalb vierzehn Tagen zu geschehen.«

Damit war die Handlung beendet. Der Zwerg ließ bereits eine andere Partei herein; beim Hinausgehen hörten die Geschwister noch, wie eine ältliche Frau sagte:

»Also die sechshundert Taler stammen von seinem Nachgeschwisterkind...«

Draußen war Tauwetter. Kleine Eisstücke schwammen auf den Pfützen. Ein harter blauer Himmel spiegelte sich darin. Kurt erklärte den Geschwistern den Inhalt des Testaments, bei dessen Abfassung er ja Zeuge gewesen war.

Amelie war empört.

»Es ist unerhört,« rief sie, »diese Bevormundung durch das ganze Leben! Aber man kann doch das Testament ungültig machen, nicht?«

»Man kann es versuchen,« erwiderte Kurt, »aber das Testament enthält die Klausel, daß du in diesem Falle nur auf das Pflichtteil gesetzt wirst.«

»Was ist das?« fragte Amelie barsch.

»Das ist ein Fünftel dessen, was dir sonst zukommen würde. Du kannst ungefähr, wie jedes von uns, mit zirka zehn- bis zwölftausend Mark Jahresrente rechnen. Sei doch froh, daß dir alle Geldsorgen abgenommen werden. Die fallen auf mich.«

Amelie war wütend. Hermann schwieg und sann vor sich hin.

»Was sagst du dazu, Hermann?« fragte sie, seine Bundesgenossenschaft erhoffend.

»Ach, weißt du,« erwiderte er, der seit seiner Genesung viel ruhiger, milder und verständiger geworden war und nicht mehr alles idiotisch nannte, was ihm gegen den Strich ging, »ein bißchen merkwürdig von der Großmama finde ich's ja, aber im Grund ist es mir gar nicht unangenehm. Wir haben doch jetzt genug, um sehr bequem leben zu können. Was liegt mir an der Verwaltung? Für einen Künstler ist es überhaupt iel besser, er hat nichts damit zu tun.«

»Was mich empört,« rief Amelie, »ist dieses unerhörte Mißtrauen, diese Bevormundung, die bis über den Tod hinausgeht. Aber ich habe die Großmutter immer gehaßt, und ich hasse sie noch. Sie hat es um mich nicht anders verdient.«

Da ergriff Kurt Amélies Arm und erklärte:

»Das kann ich nicht zulassen, daß du so von ihr sprichst! Ich muß dir erklären, daß die Großmama an diesem Testament unschuldig ist; ich habe sie dazu veranlaßt.«

Amélie warf einen feindseligen Blick auf Kurt:

»Das hätte ich mir allerdings gleich denken können,« erwiderte sie.

»Du hast sie dazu veranlaßt?« fragte Hermann, »das finde ich allerdings auch sonderbar.«

»Nun, ich will euch erklären, wie das kam,« sagte Kurt. »Ich traf sie vor einiger Zeit in namenloser Verzweiflung über euch und in Angst, was werden würde, wenn sie einmal die Augen zutut; denn sie hat ihren nahen Tod vorausgeahnt. Sie besaß doch Gründe zu der Meinung, ihr würdet mit Geld nicht umgehen können und in einiger Zeit an den Bettelstab kommen. Diese Sorge machte ihre Nächte schlaflos. Sie hat mich ein über das andere Mal um Rat gefragt. Da habe ich ihr einfach den juristischen Ausweg gezeigt, daß man das Kapital festlegen und euch bloß die Zinsen überlassen könne. Als ich sie entschlossen fand, bereitete ich alles vor, setzte sie eines Tages in eine Droschke und fuhr mit ihr zum Notar, denn allein hätte sie diese Entschlußfähigkeit nicht mehr aufgebracht. Nun wißt ihr, wie es gewesen ist.«

»Also vergewaltigt hast du die alte Frau?« schrie Amélie empört.

Ein vor sich hinmurmelnder Morgenspaziergänger, der ihnen begegnete, fuhr aus seinen Träumen auf und rief erschreckt: »Hä.«

»Nenn' es, wie du willst,« sagte Kurt.

Der Spaziergänger schaute ihnen unwillig nach und sagte etwas wie: »alte Leute erschrecken«.

»Und was geschieht mit dem Geld nach unserem Tode?« fragte Amélie lauernd.

»Dann fällt es an eure Erben,« erwiderte Kurt.

»Wer sind denn unsere Erben?«

»Wir beerben uns gegenseitig, falls wir kinderlos sterben.«

»Aha,« rief Amélie befriedigt, »das wollte ich nur hören.« Der Zorn gab ihr einen überraschenden Scharfsinn. »Du hast also einen Vorteil davon, daß das Geld unter deine Aufsicht kommt. Auf diese Weise bist du sicher, daß du es nach meinem Tode erhältst.«

Nun mußte Kurt lachen.

»Aber Amélie, es ist doch höchst unwahrscheinlich, daß ich dich beerbe. Erstens bin ich älter als du, zweitens ist anzunehmen, daß du wieder heiratest und Kinder bekommst, dann werden dich die beerben.«

»Immerhin,« erwiderte Amélie, »falls ich kinderlos sterbe, so hast du einen Vorteil davon, daß mein Vermögen möglichst groß ist.«

Amélie sprach tagelang kein Wort mit Kurt. Sie suchte Hermann gegen ihn aufzuhetzen und erklärte ein über das andere Mal, sie würde das Testament anfechten. Aber da ihr jeglicher Geschäftssinn fehlte, versäumte sie es sogar, selbst einmal näheren Einblick in das Testament zu nehmen. So verstrich die Frist. Es wurde rechtsgültig.

Inzwischen waren die übrigen Angelegenheiten geordnet worden; das Haus wurde vermietet, die alte Lene bekam eine Pension und zog in eine kleine, saubere Mansardenwohnung in der Stadt nicht weit vom Friedhof; dorthin, sagte sie, würde ihr einziger Spaziergang sein, an die Gräber der beiden Frauen Sanders, denen sie ihr Leben lang gedient hatte.

Kurt brachte die Geschwister an die Bahn. Er hoffte, der Abschied würde auch die Schwester versöhnlich stimmen. Sie saß mit finsterem Gesicht im Wagen, während er mit Hermann noch auf dem Bahnsteig stand. Ein blonder Herr mit blutroter Halsbinde ging unruhig auf und ab und schielte nach Amélie. Er wartete, ob die beiden Herren zu ihr gehörten oder ob sie allein bleiben würde.

Hermann sagte:

»Ich kann zwar dein Verhalten nicht billigen, aber mir persönlich macht es nichts, und für deine Hilfe in der Scheidung danke ich dir noch einmal. Wir sind zwar zu verschieden, um uns in allem zu verstehen, aber ich fühle, daß du das Gute willst.«

Er hatte in seinem Leben noch nie so besonnen gesprochen. Amélie schüttelte darüber den Kopf.

Kurt kaufte einem Mädchen, das Blumen trug, ein paar Nelken ab und reichte sie Amélie. Sie schaute weg.

»Amélie ...« flüsterte Hermann. Sie ging ans andere Fenster und sah einem Mann zu, der mit einer Oelkanne in der Hand zwischen den Rädern des danebenstehenden Zuges herumkroch.

»Nimm du die Blumen,« sagte Kurt zu Hermann.

Dieser nahm sie und reichte dem Bruder die Hand. Der Zug setzte sich in Bewegung, Hermann sprang schnell in den Wagen.


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