Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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Zweiter Teil

Fünftes Kapitel

»Schwabinger Eros«

30

Am Anfang des folgenden Jahres kam Cornelius, der inzwischen sechsundzwanzig Jahre alt geworden war, nach München zurück, wo er sich eine kleine Wohnung einrichtete. Er traf Amélie zum erstenmal bei Oesterots in der Pension wieder, in der diese jetzt wohnten. Sie fand ihn zunächst ziemlich unverändert, sicher im Auftreten, überlegen in seinen Aeußerungen. Er schien Amélie nicht allzusehr zu beachten. Das ärgerte sie heimlich und reizte sie, zumal sie sich schmeichelte, im Sommer auf ihn einen besonderen Eindruck gemacht zu haben, ja, sie hatte sich sogar bisweilen gefragt, ob er nicht ein bißchen in sie verliebt sei. Er sprach sehr lebhaft von Paris, aber sie fühlte sich in der Welt, aus der er kam, vollkommen fremd, und, während die anderen redeten, ein wenig zurückgesetzt. Doch nun hatte sie Gelegenheit, ihn im stillen zu beobachten. Wie konnte er bös blicken, wenn er über etwas absprechend urteilte! Dann zeigten sich Falten um seinen Mund, die ihm etwas erbarmungslos Ironisches gaben. Gleich darauf aber konnte er wieder ganz harmlos und »lieb« aussehen wie ein Bub, besonders, wenn er sich durch die Lebhaftigkeit seiner Erzählungsweise hinreißen ließ. Ob er dann wohl immer die Wahrheit sagte? Manchmal schien es, als flunkere er etwas dazu. Dann lachte Amélie unwillkürlich ganz entzückt. Hie und da bewunderte sie seine hohe klare Stirn, von der sich starkes, dunkles Haar nach rückwärts bog. Wenn ihre Blicke auf den beweglichen, leicht behaarten Händen ruhten, hatte sie das Gefühl – sie wußte nicht warum –, er müsse schon mancherlei mit Frauen erlebt haben.

In den nächsten Tagen gelang es Amélie, Cornelius' anfängliche Abneigung gegen Kostümierung zu überwinden und ihn als Begleiter zu einem Künstlerfest zu gewinnen. Es wurde beschlossen, daß er einen gestickten, türkischen Schlafrock, den er besaß, über einem langen, weißen Unterkleide tragen könnte. Eine phantastische schwarze Kopfbedeckung sollte ihn als Zauberer kenntlich machen. Das Gauklerfest, zu dem man sich als »fahrendes Volk« verkleidete, fand in einer großen Wirtschaft im Isartal statt. Man fuhr abends in mehreren Zügen hinaus; Cornelius und Amélie hatten sich an der Bahn getroffen. Als sie in dem überheizten Wagen den Abendmantel herabgleiten ließ, entzückte sie ihn. Jene gewollte Unordentlichkeit ihrer Kleidung, die seinen sich noch etwas pariserisch fühlenden Geschmack erst peinlich berührt hatte, paßte heute vortrefflich zu ihr, wo sie nichts anderes als eine junge Bettlerin darstellen wollte. Sie trug ein zerfetztes Gewand aus Sackleinwand, das sie geschickt gebauscht und gerafft hatte, während es so aussah, als habe ihm der Zufall diese kleidsame Form gegeben. Ihr Haar war ganz locker und es umgab ihr schönes kindliches Gesicht wie goldene Strahlen. In dem Zug ließen die meisten ihre Mäntel fallen; es war ein sonderbares Gewirr von farbigen Tüchern, glitzerndem Flitter und derben Lodenmänteln um nackte Schultern und braungefärbte Männerarme in dem trüb erleuchteten Wagen, der durch die Winternacht hinaus ins Isartal fuhr. Cornelius glaubte plötzlich in geradezu kindischem Entzücken, nie etwas so Schönes gesehen zu haben wie Amélie. Beim Eintreten in den Festraum zupfte er unwillkürlich an seinem Gewand, in das er doch nicht recht zu passen schien, und blickte bisweilen unsicher in die Spiegel. Aber es saß alles ganz gut.

Die große Halle war dicht mit bunten Fahnen und Emblemen behängt, aber die Beleuchtung war nicht hell, wie sonst in Festsälen über reich gekleideten Menschen, sondern dämmerig; dazu trug besonders das viele Grün bei, das sich in Lauben aus dem Saal bis in die anliegenden Räume zog, wo es noch dämmeriger, ja, fast dunkel war. Ueberall in den Ecken standen Tische, die meisten für zwei Personen, manche auch für größere Gesellschaften. Wie irre Schatten wankten und strichen die bunt zerlumpten Gestalten in dem halbdunklen Saal umher. Der Tanz wirbelte Staub auf, und man sah um die Lampen die Schwaden einer trüben Luft. Die Tänze waren unregelmäßig; viele sprangen einfach wild herum, sanken sich in die Arme, trennten sich und fingen sich wieder, bis sie dann in den dunklen Ecken der Lauben verschwanden. Die meisten tranken dort Bier, aber einige ganz dunkle Ecken waren den Sekttrinkern vorbehalten. Unmut befiel Cornelius, wenn freche, derbe Kerle herankamen, die Amélie flüchtig kannten und nun in allzu großer Vertraulichkeit mit ihr tanzen wollten. Er besaß natürlich kein Recht, sie daran zu hindern und versuchte zu lächeln, wenn sie sich von ihm beurlaubte, aber dann ging er allein herum und fühlte sich fast hilflos, ja, er kam sich selber lächerlich vor mit seiner Niedergeschlagenheit in diesem Kostüm. Die Tänzer Amélies faßten sie an ihren entblößten Schultern an, und wenn sie sie zu ihm zurückbrachten, hatten sie meist den Arm um ihren miederlosen Rücken gelegt. Er konnte nicht verhindern, daß seine Züge finster wurden und sein ganzes Wesen eine Wolke von Unmut umgab. Zum Ueberfluß kam ihnen noch Anne-Marie Hösgen entgegen, als mageres bräunliches Bauerndeandl. Sie rief Amélie in ahnungsloser Kümmerlichkeit zu:

»Du, ich hab' mein Kränzel verloren, aber ich will's gar nimmer wiederhaben.«

Amélie lachte laut über diese Übersetzung der neuen Weltanschauung ins Karnevalistische. Schnell aber verfiel Anne-Marie wieder in ihr geliebtes Norddeutsch und rief, sie sei »quietschvergnügt«. Cornelius lächelte gezwungen, und Anne-Marie rief beim Weggehen:

»Du hast dir aber an faden Bua ausgesucht!«

Sie setzten sich in eine der Lauben, wo Paare um sie herum saßen, die Glieder mehr oder weniger ineinander verstrickt und in endlosen Küssen. Cornelius fühlte sich wie auf den Mund gefallen. Was sollte er hier tun? Ueber irgendetwas zu reden, war in dieser Lage lächerlich. Zu tun, wie die um ihn herum, widerstrebte ihm erst recht. Er hoffte, der Champagner würde ihm den Weg weisen. Und so kam es auch. Er trank schnell mit Amélie ein paar Gläser hinunter und setzte sich dann neben sie auf die Bank, während er sich von der Bedrückung, die ihn bis jetzt belastet hatte, etwas befreit fühlte.

»Nun, wie gefällt's dir?« sagte sie plötzlich, denn auf dem Fest duzten sich alle.

»Ganz gut,« erwiderte er.

Nun lachte sie ihn aus.

»Das ist geschwindelt,« erwiderte sie, »ich weiß ganz genau, daß es dir nicht gefällt.«

»Jetzt gefällt es mir, Amélie,« erwiderte er, »wo ich allein mit dir sitzen kann.«

»Wirklich?« fragte sie mit leuchtenden Augen, und während sie an die Wand zurückgelehnt saß, streckte sie ihren schönen Arm nach dem Tische aus, auf den sie die Hand legte, so daß der zu ihr geneigte Cornelius die warme Ausstrahlung ihrer Haut spürte.

Nun fiel ihm wieder kein Wort ein, denn er empfand genau, daß diese Lage viel zu vertraulich war im Verhältnis zu dem Stadium, in dem sich ihre Beziehungen bis jetzt befanden. In Amélie dagegen war eine vollkommene Passivität. Sie hatte getanzt, es war ihr warm, sie hatte getrunken, Cornelius war ihr sympathisch, es schmeichelte ihr, daß sie ihn, dessen Ueberlegenheit sie ein wenig gefürchtet, nun doch hierher gelockt hatte, daß sie ihm offenbar gefiel, ja, daß sie ihn sogar eifersüchtig gemacht hatte; so dachte sie nicht nach, sondern folgte nur der Stimmung. Hie und da lächelte sie und sah Cornelius fragend und wie erwartend mit geneigtem Kopf von unten an, aber in Wirklichkeit erwartete sie wohl gar nichts Bestimmtes von ihm. Alle seine sonstige Sicherheit und Gehaltenheit dagegen war verschwunden, er fühlte sich bald schlecht am Platz und bald doch wieder zärtlich von ihr angezogen; er trank absichtlich schnell und viel, um seine Befangenheit zu verlieren, und während er nahe bei dem ihn immer mehr bezaubernden blonden Wesen saß, das ihn mit so großen, graublauen Augen unter rund gewölbten Brauen ansah, da schalt er sich plötzlich einen steifen, langweiligen Kerl, der nicht imstande sei, einmal fünf gerade sein zu lassen und dem Augenblick zu leben. Plötzlich faßte er Amélie an beiden Armen und küßte sie, genau so, wie es die Paare taten, die um sie herum in der Laube saßen. Sie ließ es geschehen, schloß sogar die Augen und sank an seine Schulter.

Zwei halbnackte, braun tätowierte Maler kamen vorbei. Einer rief laut:

»Du, schau, so was hab' i mir scho' lang g'wünscht.«

Cornelius beherrschte sich genug, um nicht hinzuschauen, aber Amélie fuhr aus ihrer sinnlichen Verträumtheit empor und lächelte den beiden zu.

»Weißt du, Amélie,« sagte er nach einer Weile, »damals auf dem Sommerfest war es doch schöner als heute. Wenn ich dich ansehe, bin ich glücklich; aber wenn ich da herumschaue, da krampft sich mir das Herz zusammen, daß ich es in dieser Umgebung bin.«

»Wieso?« fragte sie, »glauben Sie denn, ich hätte mich woanders überhaupt von Ihnen küssen lassen?«

In diesem Augenblick wußte Cornelius, was er sich durch seine verfrühte Zärtlichkeit zerstört, zu der ihn das Fest verlockt, ja, geradezu gezwungen hatte. Da kam gerade einer von den Kerlen, mit dem Amélie sich schon vorhin in die tanzenden Paare gewühlt hatte, und sie empfing ihn mit einer ungewöhnlichen Freudigkeit. Beide verschwanden in dem Saal, und Cornelius saß allein in tiefster Niedergeschlagenheit. Daß sie nicht so bald zurückkommen würde, war klar. Er wußte, daß er sie nicht wiedergewinnen konnte, wenn er allzu geduldig hier sitzenblieb. Besser sie sah ihn dann heute gar nicht mehr. Er bemerkte, wie in der Nähe Anne-Marie rief, während sie auf ihn deutete:

»Dem is sei Madel auskimma.«

Er rief die Kellnerin herbei und zahlte. Dann ging er durch den Saal in der Hoffnung, es vielleicht doch noch über sich zu bringen, sich einfach in die Wogen des Festes zu stürzen und mit irgendeiner anderen wenigstens für die nächsten paar Stunden das Vorgefallene zu vergessen; das war gewiß auch das beste Mittel, Amélie wiederzugewinnen, wenn sie ihn lustig bei einer anderen sah. Aber während er in dem Saal umherging, jeden Augenblick an seinem Gewand zupfte, das er ingrimmig verfluchte, und immer heimlich nach Amélie Umschau hielt, die er nicht fand, fühlte er sich für jedes Handeln gelähmt, und wenn ihm ein Scherzwort entgegenflog, so war er unfähig zu antworten; dann wühlte er quälerisch in seinem Innern und fragte sich: »Was habe ich denn bei anderen Gelegenheiten in solchen Augenblicken, um mit einem Mädchen anzuknüpfen, gesagt?« und er legte sich einige Anreden zurecht, um nur die Berührung mit dem Feste zu finden. Hie und da sprach er auch in dieser geplanten Weise zu der einen oder anderen, aber er fühlte selbst, wie strohern seine Stimme klang, und er bekam nur abweisende Antworten. Er wußte auch, wie abweisend er selbst in diesem Augenblick aussehen mußte.

Plötzlich stand er vor einer breiten Rampe, die ihm ungefähr an Brusthöhe reichte. Sie war eigens von den Festveranstaltern zum »Knutschen« und Küssen eingerichtet. So lagen denn da ineinandergewundene Paare Mund auf Mund beisammen, in der Sicherheit, daß dieses Spiel in der Oeffentlichkeit nie die gefährlichen Grenzen überschreiten könne. Unter diesen Paaren sah Cornelius Amélie am Boden sitzend. Der, welcher sie zum Tanzen geholt hatte, lag vor ihr auf dem Bauch, das Gesicht in die Hand gestützt und betrachtete sie mit faunischen Blicken. Amélie saß aufrecht dabei und schien ihn ein wenig zu necken. Hin und wieder hörte man ihr silberhelles Lachen, wenn jener versuchte, sie zu sich herunterzuziehen. Meistens leistete sie ihm freilich Widerstand, aber manchmal gelang es ihm doch, seine etwas wulstigen Lippen in die Nähe ihres Kindergesichtchens zu bringen. Dann machte sie sich schnell von ihm los, setzte sich wieder aufrecht, und das Spiel begann von neuem. Cornelius fühlte einen Stich tief durch sein Herz gehen, und ihm war, als ob ihm Tränen in die Augen stiegen. Schnell ging er hinaus, ließ sich seinen Mantel geben und eilte nach dem Zug, den er gerade noch erreichte. Der Wagen war nicht sehr besetzt, meist von Paaren, die nur zu dem Fest gefahren waren, um es einmal zu sehen, offenbar zum Teil verheiratete Leute. Cornelius saß still in seiner Ecke.

In München am Bahnhof stand glücklicherweise noch eine einsame Droschke, die er anrief. Aber noch war das Unheil dieser Nacht nicht erschöpft. Kaum hatte der Kutscher das Fuhrwerk in Bewegung gesetzt, als ein Kostümierter, offenbar von dem Feste, an dem Fenster des Wagens erschien und Cornelius in überhasteten Worten um irgend etwas bat. Der Kutscher hielt still, der Wagenschlag wurde geöffnet, und ein ebenfalls kostümiertes Frauenzimmer zu Cornelius hineingeschoben. Der Herr sagte, immer in etwas gebrochenem Deutsch – er mußte ein Ungar oder Slawe sein –, der Dame sei plötzlich übel geworden und kein Wagen für sie zu finden; ob Cornelius, der wohl auch nach Schwabing fahre, sie erst nach Hause bringen wollte? Als dieser bejahte, gab ihm der Herr die Wohnung der Dame an. Unterwegs versuchte Cornelius einige Worte mit der Unbekannten zu sprechen, sich nach ihrem Zustand zu erkundigen, aber es war nicht viel aus ihr herauszubekommen. Dagegen stöhnte sie unausgesetzt in beängstigender Weise und es verbreitete sich ein starker, alkoholischer Geruch, der Cornelius veranlaßte, trotz der Kälte ein Fenster zu öffnen. Auf einmal sank die Dame an seine Schulter, und es schien ihm, als ob sie einschlafe. Er hatte nun Gelegenheit, sie unter dem wechselnden Licht der Laternen etwas näher zu betrachten und sah ein junges, liebliches Gesicht, das sogar ein wenig an Amélie erinnerte; unter dem Kopftuch fiel etwas wirr kastanienbraunes Haar in die Stirn. Dann begann das Stöhnen von neuem, unterbrochen von einzelnen schreiähnlichen Seufzern. Der Kutscher hielt an, sein rotes, bärtiges Gesicht erschien im Fenster.

»Jo, wos is denn jetzt dees?« fragte er.

Cornelius war ratlos, aber die Dame rief halb betrunken:

»Das müssen Sie mir glauben ... es ist viel zu früh ... ich konnte nicht wissen, daß es schon so weit ... oh, das müssen Sie mir glauben ...«

Dann sank sie bewußtlos zusammen. Der Kutscher aber war im Bilde. Lachend sagte er:

»Was des fier a Krankheit is, des sicht ja a' Kind ..., da fohr'n ma halt am besten glei' in die Frauenklinik in der Sonnenstraße ...«

»Wissen Sie Bescheid?« fragte Cornelius..

»Ja, mei'!« rief der weltweise Kutscher, die Hand hebend, während er wieder, auf den Bock stieg.

Während nun Cornelius das sich neben ihm in Wehen krampfende Weib nach dem Spital fuhr, beschloß er, München so bald als möglich wieder zu verlassen.


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