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Aus meines Vetters Tagebuch

Ich war ein Kind, vergnügt und froh,
Zu hüpfen liebt' ich und zu springen;
Doch unter tausend lust'gen Dingen
Vergnügte kaum mich etwas so
Als eines Vögleins heller Sang,
Das hin und her in seinem Bauer
Dazu wie übermüthig sprang.

Das Vöglein starb ... Wehmüth'ge Trauer
Beschlich mein kindliches Gemüth,
Und eine liebe Freudenblume
War mit dem kleinen Sängerthume
Fortan auch für mich abgeblüht.
Im Garten unter'm Fliederstrauch
Grub weinend ich den Liebling ein
Und legte Blumen hin, und auch
Ein Kreuz von Holz und einen Stein.

Noch wohn' ich in demselben Haus,
Geh' in dem Garten ein und aus,
Doch nicht mehr als der rasche Knabe,
Der dort sein lautes Wesen trieb.
Was seither ich verloren habe –
Durch Tod, Undank und eig'ne Wahl –

War mehr mir als dies Vöglein lieb,
War lieber mir viel tausendmal.
D'rum zahlreich sind des Ernstes Stunden
In meiner Tage Kranz gewunden,
Wo gern ich unter jenen Bäumen,
Die schon auf meiner Kindheit Träumen
Herabsah'n duftend, goldiggrün,
Nachsinnend wandle her und hin.

Und wenn aus ihren schwanken Zweigen
Dann schmetternd laute Lieder steigen,
Regt mächtig heiße Jugendlust
In meines Busens Grund sich wieder,
Und – lauschend tief und schmerzbewußt
Vernehm' ich altbekannte Lieder.
Auf ihren Tönen kehrt das Glück
Der Kindheit flüchtig mir zurück,
Froh hüpft der Puls, und wieder jung
Macht rasch mich die Erinnerung.

Ob das wohl nicht das Vöglein ist,
Das seines Grabes Haft gesprengt,
Weil so sein Herz am Singen hängt
Wie mein's an meiner Jugend Bildern?
Was könnt' auch so den Schmerz mir mildern,
Den Schmerz so mancher dunklen Stunde,
Als wenn's mit lieblich trauter Kunde
Von gold'nen Tagen mich begrüßt,
Von Tagen ohne Leid und Qual,
Wo weit mein Herz, die Welt noch schmal,
Doch hoffnungsgrün gewesen ist.

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