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Vierundsechzigstes Kapitel.

Der letzte Tag auf der Insel. – Rüstigs Begräbnis. – Abschied von der Insel. – Schluß.

 

Das geschäftige Treiben und die allgemeine Unruhe erreichten mit der Einschiffung des Gepäcks ein Ende; am folgenden Tage sollten unsere Freunde der Insel den Rücken kehren.

Die Stunden der Muße brachten Nachdenken und innere Einkehr; jetzt erst empfanden sie den Verlust des alten, treuen Freundes in seiner ganzen Größe.

Wenn sie früher an den Tag der Erlösung aus der Verbannung gedacht hatten, dann war dies nie geschehen ohne zugleich die bestimmte Hoffnung zu hegen, daß Rüstig für alle Zeit und unter allen Umständen ein Mitglied der Familie bleiben würde. Jetzt war dieser Tag gekommen, aber ihr Erretter und Erhalter weilte nicht mehr unter ihnen. Gern wären sie für immer auf dem Eilande geblieben, wenn es möglich gewesen wäre, den alten Rüstig dadurch wieder ins Leben zurückzurufen.

Kapitän Osborn, der Kommandant und die Mannschaften hatten sich an Bord begeben, nachdem die Anordnungen zu dem Begräbnis Rüstigs getroffen worden waren, das unmittelbar vor dem Absegeln des Schoners stattfinden sollte. –

Vater Sebald, seine Gattin und Wilhelm saßen miteinander in dem leeren Hause. Die Kinder waren zu Bett gebracht. Da kam Juno mit verweinten Augen von draußen herein.

»Bist du nicht froh, Juno,« unterbrach Sebald das trübe Schweigen, »daß wir morgen die Insel verlassen?«

»Froh gewesen, Massa Sebald, früher, jetzt aber nicht,« antwortete die Negerin. »Insel schönes Ort, alles glücklich, bis Wilde kommen. Massa Rüstig noch leben – o, gern hierbleiben!«

Sebald nickte traurig.

»Ja, gute Juno, auch du fühlst den Verlust,« sagte er. »Wollte Gott, es wäre uns vergönnt gewesen, dem guten Manne noch unsere volle Dankbarkeit zu erweisen! Die Hälfte meines irdischen Besitzes gäbe ich darum!«

»Der Himmel hat es anders bestimmt,« seufzte Frau Sebald unter Thränen. »Wir können nur noch für unsern Heimgegangenen Freund beten.«

»Ich bei ihm sitzen, jetzt eben,« fuhr Juno fort; »ich Flagge aufnehmen, ich schauen in sein Gesicht – – o, so ruhig, so freundlich, so gut! Ich denken, er lächeln zu mir – dann ich weinen. O, warum gutes Mann sterben? Warum? Weil Massa Tommy faules Schlingel!«

»Ja,« erwiderte Sebald, »unser Kummer wird noch vermehrt durch das Bewußtsein, daß eins unserer Kinder seinen Tod verschulden mußte. Welch ein Vorwurf, aber auch welch eine Lehre wird es für Tommy sein, wenn er alt genug geworden ist, die Folgen seines Streiches ganz zu verstehen!«

Jetzt nahm Wilhelm, der bisher in seinen Schmerz versunken dagesessen hatte, das Wort.

»Tommy darf nie erfahren, wie es gekommen ist,« sagte er. »Das war das letzte Versprechen, das ich Rüstig geben mußte.«

»So soll der letzte Wunsch des edlen Mannes uns heilig sein,« erwiderte der Vater. »Was verdanken wir ihm nicht alles! Als alle andern uns verließen, da stand er zu uns, auf die Aussicht hin, mit uns unterzugehen. Durch ihn allein erreichten wir das Land. Er sorgte für unsere Bedürfnisse, er lehrte uns, unsere Mittel und Kräfte am besten zu gebrauchen, er war unser Berater und, ich kann es mit Recht sagen, unser Beschützer. Was wäre ohne ihn aus uns geworden? Ohne seine weise Voraussicht hätten wir alle unter den Speeren der Wilden unser Leben gelassen. Durch seine Aufopferung erhielten wir Wasser; um von uns den Tod abzuwenden, ging er selber in den Tod! ... Und welch ein Beispiel christlicher Stärke und Demut ist er uns gewesen! O, daß er hier bei uns säße!«

»Mir ist, als hätte ich eine feste Stütze verloren,« begann die Mutter, als der Vater in Schweigen versank. »Ich hatte mich so gewöhnt, in allen Dingen ihm zu vertrauen und bei ihm Rat zu holen. Fortwährend fehlt mir etwas, und wenn ich mich darauf besinne, dann ist er es, der uns genommen ist ... O, wenn wir ihn doch noch hätten, und wäre es nur für wenige Jahre! Wie wollten wir ihn lieben, ihn Pflegen, ihm beweisen ... daß unsere Dankbarkeit ...«

Schluchzen erstickte ihre Stimme; sie lehnte den Kopf auf des Gatten Schulter. Nach und nach beruhigte sie sich wieder; tiefes Schweigen lag über der kleinen Gesellschaft, ab und zu nur durch einen Seufzer Junos unterbrochen.

Wilhelms Herz war zu voll; lange vermochte er kein Wort hervorzubringen; endlich sagte er mit leiser Stimme:

»Er war, neben Vater und Mutter, mein bester Freund ... Ich kann mir nicht verzeihen, daß ich ihn zur Quelle gehen ließ ... meine Pflicht wäre das gewesen ... ich hätte Wasser holen müssen.«

»Dann hätten wir dich verloren, mein lieber Sohn,« entgegnete die Mutter.

»Das ist möglich,« antwortete der Knabe; »vielleicht auch nicht ... wie Gott es gefügt hätte.«

Sie saßen noch eine lange Zeit beisammen, ihrem Schmerze nachhängend und davon redend, wie es gewesen, wenn es anders gekommen wäre, bis der Vater zum Schlafengehen aufforderte.

»Es ist spät,« sagte er, »und morgen müssen wir früh heraus. Das war der letzte Abend auf unserer Insel; wir haben hier viel Glück genossen, dafür wollen wir dankbar sein. Wir hofften, diesem Ort einst in Freude den Rücken kehren zu können, Gott aber wollte, daß wir ihn in Kummer und Trauer verlassen. Sein Wille geschehe.« –

Am Morgen des folgenden Tages kamen zwei Boote von dem Schoner nach der Insel. Dieselben brachten den Kommandanten, den Kapitän Osborn und eine Anzahl Matrosen, den Schiffszimmermann und Rüstigs Sarg.

Wilhelm war zugegen, als man den Steuermann in den roh zusammengeschlagenen Schrein legte; sein letzter Blick auf den alten Freund war von Thränen verdunkelt.

In einer halben Stunde war alles zum Begräbnis bereit. Man rief die Familie herbei, die im Hause auf diesen Augenblick gewartet hatte.

Sechs Matrosen trugen den Sarg, über den die Schiffsflagge gebreitet war; Wilhelm, sein Vater, Kapitän Osborn und Juno trugen die Zipfel derselben.

Der Kommandant des Schoners, Frau Sebald mit den Kindern und die übrigen Matrosen bildeten das Gefolge.

Am Grabe sprach Vater Sebald das Gebet; man senkte den Sarg in die Gruft und dann gingen die Leidtragenden langsam und schweigend zum Hause zurück.

Auf Wilhelms Bitte hatte der Kommandant über Nacht ein starkes Gitter aus Eichenholz herstellen lassen, mit welchem das Grab nun eingehegt wurde; auch für ein Brett war Sorge getragen, auf welchem Rüstigs Name und Todestag zu lesen war.

Als die Arbeiten auf der Grabstätte beendet waren, begab sich der Kommandant, gefolgt von Wilhelm, nach den Pallisaden, um anzuzeigen, daß die Boote zur Einschiffung bereit lägen.

»Komm, liebe Selina,« sagte Sebald zu seiner Frau, einen letzten Blick auf die ehemalige Wohnstätte werfend.

»Gleich, lieber Mann, gleich,« antwortete die Mutter, die Augen trocknend. »Ich hätte nicht geglaubt, daß es mir so schwer werden würde. Wenn Rüstig noch lebte, würde ich wahrlich vorziehen, hier zu bleiben.«

»Ich fühle mit dir, aber nun fasse dich und komm; wir dürfen den Kommandanten nicht warten lassen.«

»Darf ich nicht noch einmal den Garten besuchen? Und den Fischteich und den Schildkrötenteich? Auch von den Tieren nähme ich gern Abschied. Müssen wir wirklich schon fort?«

»Es muß sein, liebe Selina,« antwortete Sebald; »mache uns das Scheiden nicht noch schwerer.«

»Lassen wir denn die Ziegen hier?« fragte Karoline. »Und alle unsere Hühner?«

»Ja, mein Kind, die bleiben hier, damit sie anderen Schiffbrüchigen nützen können.«

»Und die Schildkröten!« rief Tommy. »Nehmen wir die nicht mit? Ich esse Schildkrötensuppe so gern!«

»Ein Gedanke zur rechten Zeit!« lächelte Kapitän Osborn. »Ich bin auch dafür, daß wir die Schildkröten nicht zurücklassen.«

Der Kommandant war derselben Ansicht. Er schickte eins der Boote zum Schildkrötenteich, ließ die Tiere herausfischen und an Bord schaffen.

Während dieser kurzen Verzögerung besuchte Frau Sebald mit ihrem Gatten noch einmal Rüstigs Grab; hier weilten sie so lange, bis Kapitän Osborn sie abholte.

Wenige Minuten später befanden sie sich an Bord des Schoners; von dem Achterdeck desselben richteten sie ihre Blicke noch einmal auf das Land, während die Matrosen den Anker lichteten. Die Segel wurden gesetzt und das Fahrzeug begann seine Fahrt. Der Wind wehte frisch und günstig, immer weiter blieb das grüne Eiland im Kielwasser zurück.

Wilhelm stand unbeweglich und schaute durch das Teleskop. Kapitän Osborn fragte ihn, wonach er ausblicke.

»Ich nehme Abschied von Rüstigs Grab,« antwortete der Knabe.

Sie passierten die Bucht, bei welcher der Pacific auf die Klippen gelaufen war. Vater Sebald machte seine Frau darauf aufmerksam; die blickte lange hinüber, dann sagte sie:

»Glücklicher, als wir auf jener Insel gewesen sind, werden wir niemals mehr sein.«

»Wir können Gott danken, wenn wir niemals weniger glücklich sind,« entgegnete Sebald.

In schneller Fahrt brauste der Schoner durch die blaue, sonnige Flut; es währte nicht lange, da war die Insel unter die Horizontlinie gesunken; nur die Wipfel der Kokospalmen zeigten sich noch in bläulichem Duft, dann verschwanden auch sie.

Juno schwenkte ihr Taschentuch als letzten Gruß in der Richtung des Eilandes, dann ging sie in die Kajüte hinab, ihren Schmerz zu verbergen.

Der Wind blieb günstig, so daß der Schoner nach einer Reise von vier Wochen glücklich in Sydney anlangte, demselben Hafen, nach welchem sie damals an Bord des Pacific jene Reise angetreten hatten, die niemals vollendet werden sollte.

*

Der Landbesitz, den Sebald in Australien anzutreten gekommen war, hatte sich in der Obhut eines treuen Verwalters befunden, so daß die Plantagen und Viehherden sich des besten Gedeihens erfreuten. Wohl war das Gerücht von dem Untergange der ganzen Familie auch zu dieses Verwalters Ohren gedrungen, allein da die Bestätigung ausblieb, so nahm der brave Mann keine Rücksicht darauf, sondern that so gewissenhaft seine Schuldigkeit, als könne der Besitzer jeden Tag kommen und Rechenschaft fordern.

Unter Sebalds verständiger Leitung steigerte sich der Wert des Besitzes in solchem Maße, daß er schon nach zehn Jahren die Ländereien für eine hohe Summe verkaufen und als reicher Mann nach Bremen zurückkehren konnte.

Seine Kinder wuchsen alle zu seiner und der Mutter Freude heran. Wilhelm wurde ein angesehener Schiffsreeder und Vater einer zahlreichen Familie. Tommy beging noch manchen Streich, als er aber zu Verstande kam, da konnte es keinen scharfsichtigeren und gewissenhafteren Kaufmann geben als ihn. Karoline heiratete einen Pastor und Albert ist heute ein höherer Offizier in der deutschen Marine.

Vater und Mutter Sebald ruhen längst im Grabe; die gute Juno aber überlebte ihre gütige Herrschaft um viele Jahre; Wilhelm hatte sie in sein Haus genommen und hier war es bis an ihr Ende ihre größte Freude, die Kinder auf den Schoß zu nehmen und ihnen wunderbare Geschichten zu erzählen von dem Leben auf der Insel im fernen Ocean, von dem braven alten Manne, dem Steuermann Sigismund Rüstig, von seinem einsamen Grabe und von den hohen Kokospalmen, deren Blätterkronen mit geheimnisvollem Rauschen kühlen Schatten darauf herniederspenden.


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