Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

Unheil in der Kajüte. – Die Matrosen versuchen zu meutern. – »Was soll aus den Passagieren werden?«

 

Als Vater Sebald und Wilhelm unten in der Kajüte anlangten, fanden sie dort sogleich vollauf Beschäftigung. Der Steward hatte einen Napf voll heißer Erbsensuppe für die Kinder gebracht. Tommy, der mit seiner Schwester im Bett hockte, hatte Juno den Napf aus der Hand gerissen, die dies nicht verhindern konnte, da sie den kleinen Albert auf dem Arm trug; die Suppe war Karoline über den Leib geflossen, die nun entsetzlich schrie; Juno wollte ihr zu Hilfe kommen, war jedoch auf dem schlüpfrigen Deck ausgeglitten und mit dem Kinde niedergestürzt, zum Glück ohne dem Kleinen oder sich Schaden zu thun. Weniger glücklich war es, daß sie auf Fix, den Terrier, zu liegen kam; denn dieser verstand dies falsch und biß sie in das Bein, worauf auch Juno mörderlich zu schreien anfing. Frau Sebald, von diesem Tumult zu Tode erschreckt, steckte den Kopf aus den Gardinen ihrer Koje heraus und betrachtete das Schauspiel bleich und voll Entsetzen. Herr Sebald erschien daher wie gerufen; er hob zunächst Juno und das Kind auf und versuchte dann, die kleine Karoline zu trösten, die weniger verbrannt als erschrocken war.

»Massa Tommy mächtig unartig sein!« schluchzte Juno, indem sie ihr Bein rieb.

Massa Tommy hielt es für gut, sich mäuschenstill zu verhalten; er erhielt seine Strafpredigt, der Steward erschien, wischte mit dem Schwabber die vergossene Erbsensuppe auf, und so ward Ruhe und Ordnung wieder hergestellt.

Inzwischen hatte man auch oben an Deck die Hände nicht in den Schoß gelegt; der Zimmermann hatte aus einer Reservespiere einen Notmast zurecht gehauen, der von den Matrosen mit dem nötigen Takelwerk versehen wurde; leider konnten nicht alle Leute zu dieser Arbeit verwendet werden, da vier von ihnen unausgesetzt die Pumpen in Bewegung halten mußten.

Wie Rüstig vorausgesehen, erhob sich noch vor Anbruch der Nacht ein neuer Sturm, der das Schiff bald so leck werden ließ, daß die Matrosen gezwungen waren, alle andere Arbeit aufzugeben und nur noch die Pumpen in Gang zu halten.

So vergingen noch zwei schreckliche Tage. Die Mannschaft war endlich so erschöpft, daß sie nicht mehr zu pumpen vermochte. Schwer, hilflos und halb mit Wasser gefüllt wälzte sich das unglückliche Schiff auf dem wilden Meere; die Leute begannen zu verzweifeln; da kam ein neues Unglück über sie.

Der Kapitän war nach vorn gegangen und stand auf der Back, um einige der Befestigungen des Mastes zu untersuchen. Da brach oben ein Tau, die Raa mit dem Segel stürzte hernieder und traf ihn so schwer, daß er besinnungslos liegen blieb.

So lange der Schiffer das Kommando gehabt hatte, vollführten die Matrosen ihre Obliegenheiten bereitwillig und gern; sie hatten das höchste Vertrauen zu seiner seemännischen Tüchtigkeit und sein frisches, leutseliges Wesen flößte ihnen immer neue Arbeitsfreudigkeit ein; jetzt aber wurde es anders. Der Kapitän war, wenn nicht tot, so doch unfähig, sich zu rühren und für das Schiff zu sorgen; den Obersteuermann mochte keiner leiden, sein saures, mürrisches Wesen hatte die Leute von jeher abgestoßen. Seine Befehle und Anordnungen fielen daher in taube Ohren und die Matrosen berieten untereinander, was nun zu thun sei.

Der alte Rüstig, der die neue Lage der Dinge bald überschaute, begab sich nach vorn, wo die Leute unschlüssig umherstanden.

»Mit dem Sturm geht's zu Ende,« fing er an, »bald haben wir wieder schönes Wetter.«

»Ja,« antwortete einer der Männer, »und mit unserm alten Kasten geht's auch zu Ende.«

»Damit hat's noch gute Weile,« entgegnete der Alte, »wenn wir ihn tüchtig auspumpen, dann schwimmt er noch lange. Versucht's, Leute, und greift tapfer an, ihr sollt einmal sehen, wie gut ihm das thut.«

»Wissen Sie, was uns gut thun würde, Steuermann?« rief einer der Leute.

»Nun?«

»Ein gehöriger Topf Grog, oder auch zwei!« war die Antwort.

»Ja, Steuermann,« meinte ein anderer, »eine kleine Stärkung könnten wir beanspruchen; der gute Kapitän würde uns das sicher nicht verweigern, wenn er noch reden könnte.«

Der erste Steuermann war jetzt gleichfalls herangetreten.

»Was, Leute,« rief er grob, »ihr wollt euch doch nicht etwa betrinken?«

»Warum nicht?« antwortete ein wildbärtiger Matrose; »das Schiff geht doch zu Grunde, warum sollen wir da nicht vorher noch einmal lustig sein?«

»Daß das Schiff wahrscheinlich zu Grunde gehen wird, daran ist kaum zu zweifeln,« versetzte der Obersteuermann, »aber ich sehe nicht ein, warum wir nicht trotzdem alles versuchen sollten, uns zu bergen; wenn ihr euch betrinkt, dann habt ihr keine Aussicht auf Rettung, ich aber kann sagen, daß mir mein Leben immer noch lieb ist. Ich bin bereit, zu euch zu stehen, wenn ihr etwas Vernünftiges beschließen wollt; betrinken aber sollt ihr euch nicht, so lange ich das verhindern kann.«

»Und wie wollen Sie denn das verhindern?« fragte einer der Seeleute herausfordernd.

»Das wäre gar nicht schwierig; vergeßt nicht, daß hier noch drei entschlossene Männer an Bord sind, denn außer dem Steuermann Rüstig wird sich auch unser Passagier, Herr Sebald, sicherlich auf meine Seite stellen. Zudem befindet sich alles Schießgewehr in der Kajüte. Aber warum sollen wir in Streit geraten? Wenn ihr einen guten Vorschlag wißt, dann sagt ihn, wenn nicht, dann thut ihr gut, auf meinen Rat zu hören.«

Der Mut und die Entschiedenheit des Obersteuermanns waren den Matrosen wohl bekannt; sie steckten eine Weile die Köpfe zusammen und dann fragten sie ihn, welcher Art sein Rat wäre.

»Von den Booten ist nur noch eins übrig,« begann dieser, »die andern sind weggeschlagen, wie ihr wißt. Die kleine Jolle ist nicht zu rechnen, denn die ist halb zertrümmert. Das Boot genügte für uns. Wir befinden uns in der Nähe der Koralleninseln, wenn wir nicht schon mitten drunter sind. Die Masten, die Segel und die Reemen für das Boot sind alle vorhanden, laßt uns Proviant hineinschaffen, und dann müßte es schnurrig zugehen, wenn wir nicht irgend ein Land erreichen sollten. Was meinen Sie, Rüstig, habe ich nicht recht?«

»Der Rat läßt sich hören,« versetzte der Alte, »für uns reicht das Boot schon aus; was soll aber aus den Passagieren, den Weibern und den armen Kindern werden? Und soll der arme Kapitän auch hier an Bord bleiben?«

»Den Kapitän verlassen wir nicht!« sagte einer der Matrosen, »den nehmen wir mit!«

»Ja, den nehmen wir mit!« riefen auch die andern, »den verlassen wir nicht!«

»Und die Passagiere?«

»Die thun uns sehr leid,« hieß es, »aber wir werden genug mit uns selber zu thun kriegen, da das Boot kaum für alle Mann ausreicht.«

»Da muß ich euch zustimmen,« sagte Rickmers. »Das Hemd ist uns näher, als der Rock. Wir wissen also nun, was wir zu thun haben, nicht wahr, Leute?«

»Jawohl!« riefen die Matrosen einstimmig.

Rüstig erkannte, daß jede Einrede vergeblich sein würde, und still schaute er zu, wie die Leute eifrig daran gingen, das Boot für die Fahrt vorzubereiten. Fäßchen mit Brot, Salzfleisch, Wasser und Rum wurden am Fallreep zurechtgestellt; der Obersteuermann holte seinen Sextanten und einen Kompaß herauf, dazu Gewehre, Pulver und Blei, während der Zimmermann einen Teil der Reeling und des Bollwerks bis hinunter zum Schanddeckel weghieb; denn da die Masten fehlten, konnte man das Boot nicht auf die gewöhnliche Art, durch Aufhissen, zu Wasser bringen, sondern mußte es vom Deck hinab ins Meer schieben.

Nach Verlauf einer Stunde war alles bereit. Man befestigte eine Leine am Boot und ließ das Schiff quer in den Wind auflaufen.

Steuermann Rüstig hatte sich an der Arbeit nicht beteiligt; er hatte wiederholt die Höhe des Wassers im Raume gemessen und sich dann neben seinen Kapitän niedergesetzt, der noch immer bewußtlos dalag.

Jetzt erschien Sebald an Deck. Verwundert schaute er um sich. Sein Auge überflog das zum Aussetzen bereite Boot, die Proviantfäßchen am Fallreep, die Bresche im Bollwerk und blieb endlich auf Rüstig haften, der bei dem anscheinend leblosen Schiffer saß.

»Was geht hier vor, Rüstig?« fragte er den Alten. »Soll das Schiff verlassen werden? Man hat doch nicht etwa den Kapitän getötet?«

»Nein, Herr Sebald, so schlimm ist es nicht. Der Kapitän ist von der herabstürzenden Raa verwundet worden und liegt bewußtlos, aber er lebt noch, Gott sei Dank! Die Leute wollen das Schiff verlassen, wie Sie sehen; das Boot ist bereits klar gemacht.«

»Aber bester Rüstig, meine Frau kann unmöglich solch eine Fahrt unternehmen, dazu ist sie viel zu schwach und elend.«

»Das wird von Ihrer Frau auch gar nicht verlangt werden, denn die Matrosen wollen weder Sie, noch Ihre Frau, noch die Kinder mitnehmen.«

»Was!« rief Sebald entsetzt. »Man will uns hier an Bord dieses Wracks jämmerlich umkommen lassen? Allmächtiger Gott! Das ist grausam, das ist barbarisch!«

»Zum mindesten ist es nicht christlich,« antwortete Rüstig; »aber die Leute handeln nach einem uralten Naturgesetz. Wenn es sich um das Leben handelt, dann ist jeder sich selbst der Nächste, denn das Leben ist süß. Sie würden unter sich auch nicht anders handeln, wenn das Boot nicht für alle Mann ausreichte. Es ist nicht das erste Mal in meinem Leben, daß ich eine solche Erfahrung mache.«

»O, mein Weib! O, meine Kinder!« rief Herr Sebald, indem er sein Gesicht mit den Händen bedeckte.

So stand er eine ganze Weile; dann blickte er wieder auf.

»Ich will mit den Leuten reden,« sagte er; »sie können, sie dürfen nicht taub sein gegen die Gebote der Menschlichkeit! Der Obersteuermann wird sicherlich noch einige Gewalt über sie haben, meinen Sie nicht auch, lieber Rüstig?«

Der alte Seemann schüttelte den grauen Kopf.

»Sie wollen meine Antwort haben, Herr Sebald,« erwiderte er, »nun, so mögen Sie denn wissen, daß das Herz keines jener Leute so fühllos und hart ist, wie das des Obersteuermanns. Auch dürfen Sie nicht zu schlimm von den Leuten denken; das Boot ist nur klein und hat außer für sie wirklich nur noch Raum für das bißchen Proviant. Nähme man Sie und Ihre Frau noch mit an Bord, dann wäre es ganz sicher, daß die erste große Welle alle miteinander in den Grund risse. Läge die Sache anders, dann würde ich alles aufbieten, Ihnen und den Ihrigen Platz in dem Boote zu verschaffen.«

»Aber was soll denn mit uns geschehen, Rüstig?«

»Wir müssen auf Gott vertrauen, Herr Sebald, der nach seiner Weisheit über uns verfügen wird.«

»Über uns, sagen Sie? Gehen Sie denn nicht mit jenen ins Boot?«

»Nein, Herr Sebald. Ich habe während dieser letzten Stunde darüber nachgedacht und bin zu dem Entschluß gekommen, bei Ihnen zu bleiben. Die Leute nehmen den Kapitän mit und haben auch mich aufgefordert, mitzukommen; aber ich bleibe hier.«

»Um mit dem Schiffe unterzugehen?« fragte Sebald erstaunt.

»Wie es Gott gefällt. Ich bin ein alter Mann, an mir ist wenig gelegen, und ich hoffe, auf den Tod vorbereitet zu sein. Ich will Ihnen was sagen. Herr Sebald; Ihre lieben Kinder sind es, an die ich vor allem denke. Ob ich ein Jahr oder zwei Jahre früher dahinfahre, darum sorge ich mich nicht, aber es sollte mir wehe thun, diese zarten Blüten in ihrem Frühling gebrochen zu sehen. Wenn ich hier bleibe, dann kann ich vielleicht nützlich sein; es ist ein alter, nicht unerfahrener Kopf, der auf meinen Schultern sitzt, und es wäre doch jammerschade, wenn Sie und die Ihrigen zu Grunde gehen müßten, bloß weil Sie im Augenblick der Gefahr nicht auf ein vielleicht ganz naheliegendes Rettungsmittel verfielen. Doch da kommen die Leute – das Boot ist bereit, sie wollen nur noch den Kapitän holen.«

Die Matrosen hoben den Schiffer auf und trugen ihn vorsichtig fort. Einer von ihnen wendete sich um.

»Kommen Sie, Steuermann Rüstig!« rief er; »es ist keine Zeit mehr zu verlieren!«

»Schon gut, mein Sohn,« entgegnete der Alte. »Ich bleibe an Bord des Pacific, euch aber wünsche ich von ganzem Herzen Glück und Erfolg. Wenn der liebe Gott zuläßt, daß ihr gerettet werdet, dann vergeßt die nicht, die hier zurückbleiben, und sorgt dafür, daß in dieser Gegend nach uns gesucht wird.«

»Unsinn, Rüstig!« rief der Obersteuermann, »lassen Sie das Reden und kommen Sie ins Boot!«

»Ich bleibe hier, Sie hören's ja. Versprechen Sie mir nur, das zu thun, um was ich bat; setzen Sie Herrn Sebalds Freunde von dem Geschehenen in Kenntnis, alles übrige sei der Vorsehung anheimgestellt. Habe ich Ihr Versprechen?«

»Das haben Sie, aber ich sage Ihnen, Mann, das ist Verrücktheit! Wollen Sie kommen oder nicht?«

»Ich bleibe; ihr aber lebt wohl und denkt an euer Versprechen.«

Damit wendete der Alte sich ab.

Die Leute schoben ihr Boot ins Meer, setzten die Segel und steuerten in nordöstlicher Richtung davon.


 << zurück weiter >>