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Achtunddreißigstes Kapitel.

Von wilden Menschen, Teifunen, Monsunen und Passaten, auch etwas vom Golfstrom. – Rüstigs Geschichte.

 

Am nächsten Morgen machten sich Sebald und Rüstig früh auf, den Vorrat im Fischteich zu ergänzen, und da das Wetter sehr angenehm und nicht zu heiß war, so zeigten sie sich gern damit einverstanden, daß Wilhelm ihnen Gesellschaft leistete.

Auf dem Wege zum Strande warfen sie einen Blick in den Garten und gewahrten hier mit Freude, daß die Saat überall schon zollhoch aufgegangen war.

Der Vater und Rüstig warfen ihre Leinen aus, Wilhelm setzte sich in ihrer Nähe auf einen Stein und schaute sinnend hinaus über das weite, blaue Meer.

»Viele der Inseln, die sich in dieser Gegend befinden, sind bewohnt, nicht wahr, lieber Vater?« begann er endlich.

»Das ist wohl anzunehmen, obgleich unsere nächsten Nachbarinseln wahrscheinlich ebenso öde sind wie diese hier. Wenigstens habe ich nie gehört oder gelesen, daß Reisende auf der Inselgruppe, zu der unser Eiland gehören muß, Eingeborene bemerkt hätten.«

»Zu welcher Art von Wilden gehören die Inselbewohner in diesen Meeresteilen?«

»Das dürfte verschieden sein. Die Neuseeländer sind in der Civilisation am weitesten vorgeschritten, jedoch stehen sie in dem Rufe, Kannibalen zu sein. Die Eingeborenen von Vandiemensland und Australien stehen in jeder Hinsicht sehr niedrig, sie sollen thatsächlich nur wenig vor den Tieren voraus sein und bilden wahrscheinlich die niedrigste Klasse aller menschlichen Wesen.«

»Ich bitte um Vergebung,« fiel Rüstig ein, »ich kenne die Australneger, ich glaube aber, daß ich Ihnen ein Volk nennen kann, das den Tieren noch näher steht, als diese. Als ich das Gesindel zum erstenmal sah, da glaubte ich wirklich nicht, Menschen vor mir zu haben.«

»Sie machen uns neugierig, Rüstig,« sagte Vater Sebald, »wo haben Sie diese absonderlichen Kreaturen gefunden?«

»Auf den Andamanen, einer Inselgruppe im Meerbusen von Bengalen. Wir mußten nach schwerem Wetter in Port Cornwallis einlaufen, ein prachtvoller Hafen, der die ganze englische Flotte fassen könnte, und als wir uns am Morgen das Land betrachteten, da sahen wir eine Anzahl schwarzer Geschöpfe auf allen vieren unter den Bäumen herumkriechen. Da wir eine Seemeile vom Strande entfernt lagen, schauten wir durch das Teleskop und erkannten, daß es Menschen, Männer und Weiber, waren, denn jetzt standen sie aufrecht.«

»Sind Sie in nähere Berührung mit ihnen gekommen?«

»Nein, Herr Sebald, aber ich sprach in Kalkutta einen Soldaten, der auf den Andamanen gelebt hatte; der erzählte mir, sie hätten einmal zwei von diesen Wilden eingefangen; er beschrieb sie als die elendesten Geschöpfe, die man sich denken kann. Ihre Größe beträgt nicht mehr als vier Fuß, dabei sind sie außerordentlich scheu und dumm; eine Bekleidung kennen sie gar nicht, ebensowenig Häuser oder Hütten, höchstens schleppen sie einen Haufen Buschwerk zusammen, um dahinter Schutz vor dem Winde zu suchen.«

»Hatten diese Leute keine Waffen?«

»O ja, Bogen und Pfeile, aber so klein und von so schlechtem Machwerk, daß sie damit höchstens kleine Vögel töten konnten. Sie schossen auch einige Pfeile auf die Soldaten ab, dieselben aber vermochten nicht einmal durch die leichte Bekleidung zu dringen.«

»Nach dieser Schilderung muß ich schon glauben, daß die Bewohner der Andamanen noch unter den Australnegern stehen,« sagte Sebald. »Was fing man mit den beiden Gefangenen an?«

»Man ließ sie wieder laufen, denn sie wollten weder sprechen, noch Nahrung zu sich nehmen und wären sicherlich gestorben, wenn man sie noch länger behalten hätte.«

»Wo mögen die ersten Bewohner dieser Inseln hergekommen sein?« fragte Wilhelm seinen Vater.

»Das ist schwer zu beantworten, lieber Sohn, wahrscheinlich begann die Bevölkerung der Andamanen in ähnlicher Weise, wie es hier auf unserem Eilande geschah; Schiffbrüchige in Booten oder Kanus wurden an ihre Küsten geworfen und retteten hier ihr Leben, genau so, wie wir dies gethan.«

»So wird's gewesen sein,« sagte Rüstig; »man sagte mir, daß die Wilden auf den Andamanen von Negern abstammen sollen; ein Sklavenschiff habe vor langer Zeit an jener Küste in einem Teifun Schiffbruch gelitten und den armen Schwarzen sei es gelungen, sich auf die Inseln zu retten.«

»Was ist ein Teifun, Papa Rüstig?«

»So etwas wie ein Orkan; ein Wirbelwind, der in den indischen und chinesischen Gewässern gewöhnlich zu der Zeit auftritt, wo der Monsun wechselt.«

»Und was ist ein Monsun, Papa Rüstig?«

»Monsune sind Winde, die regelmäßig monatelang aus einer Richtung wehen, dann aufhören und sogleich wieder ebenso lange aus der entgegengesetzten Richtung wehen.«

»Und was sind die Passatwinde, von denen ich den Kapitän Osborn reden hörte, als wir Madeira verlassen hatten?«

»Die Passatwinde wehen in der Gegend des Äquators, einige Grade nördlich und südlich von demselben; sie folgen dem Laufe der Sonne von Osten nach Westen.«

»Bringt die Sonne diese Winde hervor?«

»Ja, die große Hitze zwischen den Wendekreisen verdünnt die Luft daselbst und durch das Herzuströmen der kühleren Luft aus den gemäßigten Zonen, während die Erde sich dreht, entstehen die Passatwinde. Ein Beispiel hierfür ist ein stark geheizter Raum, in den gleichfalls die äußere Luft mit Gewalt hineinströmt, sobald die Thür geöffnet wird.«

Der Steuermann nickte zustimmend zu dieser von Vater Sebald gegebenen Erklärung.

»So ist es,« sagte er, »und durch die Passatwinde entsteht wiederum der Golfstrom.«

Wilhelm schaute den Vater fragend an.

»Die Passatwinde,« erklärte dieser, »die fortwährend von Osten nach Westen wehen, üben dadurch einen großen Einfluß auf das Meer aus, indem sie die Wassermassen in den Golf von Mexiko hineintreiben; in diesem Becken stauen die Fluten sich auf, so daß hier der Wasserstand stets erheblich höher ist, als an den andern Küsten des Atlantischen Oceans. Diese Ansammlung von Wasser muß notwendig einen Abfluß finden, und dies geschieht durch den sogenannten Golfstrom, der aus dem mexikanischen Meerbusen hinaus und zuerst die Küste von Amerika hinauf nordwärts fließt und sodann, an Neufundland vorüber, sich nach Westen wendet, wo er sich ungefähr in der Gegend der Azoren verliert.«

»Das Wasser des Golfstroms,« ergänzte Rüstig, »ist stets einige Grade wärmer, als das übrige Seewasser, das kommt daher, weil es so lange in dem Golf von Mexiko aufgestaut und der großen Sonnenhitze ausgesetzt gewesen ist; übrigens erkennt man den Golfstrom auch an der großen Menge Seetang, die häufig auf seiner Oberfläche dahintreibt.«

»Was hat es nun aber mit den Land- und Seewinden für eine Bewandtnis, Papa, die in Westindien und andern heißen Ländern wehen?«

»Das sind Winde, die in regelmäßigem Wechsel während des Tages von der See dem Lande zu, während der Nacht aber vom Lande der See zu wehen. Die Ursache davon ist ebenfalls die Wärme der Sonne. Der Seewind beginnt in früher Vormittagsstunde und erstirbt im Laufe des Nachmittags, ihm folgt der Landwind, der bis Mitternacht dauert. Wenn diese Winde nicht wären, so würde ein Bewohnen der westindischen Inseln unmöglich sein, wie auch an ein Befahren der tropischen Meere ohne die Passatwinde gar nicht gedacht werden könnte, da dann die Hitze daselbst unerträglich sein würde und der Windstille wegen kein Segler fortkommen könnte.«

»Sehr richtig,« sagte Rüstig; »ganz in der Nähe der Passatgegenden giebt es Strecken, wo der Wind sehr unzuverlässig ist, und wo viele Fahrzeuge schon wochenlang in Windstillen zugebracht haben; dann ist das Wasser an Bord ausgegangen und die Leute haben schreckliche Qualen erdulden müssen. Die Seeleute nennen diese Gegenden die Pferdebreiten, warum, das weiß ich nicht, vielleicht, weil man die Pferde, die etwa an Bord sind, natürlich zuerst beseitigt, wenn das Wasser knapp zu werden beginnt.«

Man hatte bei diesen Gesprächen den Fischfang nicht außer acht gelassen; man schaffte die Beute in den Teich und kehrte dann nach Hause zurück.

Nach dem Abendessen nahm Rüstig den Faden seiner Erzählung wieder auf.

»Gestern abend bin ich bis dahin gekommen, wo der Admiral uns befahl, an Bord seines Schiffes zu gehen. Man trug mich daselbst als überzähligen Schiffsjungen in die Liste ein. Ich blieb vier Jahre an Bord, wir fuhren von Hafen zu Hafen, wir kreuzten von Klima zu Klima, ich wuchs zu einem großen und starken Menschen heran und erhielt schließlich einen Posten bei der Bedienung des Kreuzmastes.

Ich kann wohl sagen, daß ich mich an Bord dieses Kriegsschiffes sehr wohl befand; ich war keineswegs der einzige Ausländer daselbst, neben mir dienten noch mehrere Deutsche, auch Dänen, Schweden und Norweger befanden sich an Bord. Ich that meine Schuldigkeit und wurde daher auch nie bestraft; der Dienst auf einem Kriegsschiffe ist durchaus nicht schwer, lange nicht so schwer, wie der auf einem Kauffahrer, wo die Besatzung häufig eine unzureichende und zu schwache ist.

Wohl giebt es auch auf Kriegsschiffen Kommandanten, unter denen die Mannschaften schlimme Tage haben, unser Kapitän aber war zum Glück ein milder und wohlmeinender Mann, dem es immer leid that, wenn er eine Strafe verhängen mußte, wenngleich er andererseits auch kein Vergehen ungeahndet ließ.

Nur eins quälte mich und ließ mir keine Ruhe, das war die Sehnsucht nach meiner Mutter und nach der Heimat.

Auf die Briefe, die ich aus verschiedenen Häfen nach Hause geschrieben hatte, war ich ohne Antwort geblieben; endlich nahm das Heimweh bei mir so überhand, daß ich beschloß, bei der ersten Gelegenheit, die sich darbieten würde, zu desertieren.

Wir befanden uns damals auf der westindischen Station; ich besprach die Sache sehr oft mit Hastings, denn der brannte ebenso darauf, fortzukommen, wie ich, und wir hatten uns das Wort gegeben, uns gemeinschaftlich auf- und davonzumachen, sobald sich ein günstiger Augenblick darbiete.

Die so sehr herbeigewünschte Gelegenheit sollte sich in Port Royal auf Jamaika finden, woselbst sich ein großes Geschwader von Kauffahrern, mit Zucker und Rum geladen, zusammengefunden hatte, um unter dem Schutze einiger Kriegsschiffe nach Europa zu segeln. Wenn wir an Bord eines dieser Kauffahrer gelangen konnten, dann würde man uns dort bis zum Tage der Abfahrt recht gern verstecken, das wußten wir genau, denn alle diese Fahrzeuge litten Mangel an Besatzung, da die Kriegsschiffe ihnen die besten Leute gepreßt, das heißt weggenommen hatten.

Nur einen Weg gab es, unsern Vorsatz auszuführen, wir mußten zur Nachtzeit zu dem nächsten Kauffahrer hinüberschwimmen, was jedoch kein Kunststück war, da die Schiffe nur einige hundert Schritte von uns entfernt lagen. Eins nur fürchteten wir, und das waren die Haie, von denen es in Port Royal, wie in allen westindischen Häfen, wimmelte. Dieses Bedenken durfte uns jedoch nicht zurückschrecken, wir bestimmten die Nacht vor dem Absegeln des Geschwaders zur Ausführung unseres Plans, denn wir waren bereits so ungeduldig geworden, daß wir nach keiner Gefahr mehr fragten.

Es war in der Mittelwache – es ist mir alles noch ganz deutlich im Gedächtnis und wird es auch bleiben und wenn ich hundert Jahre alt würde –, wir ließen uns sachte an einer Leine vom Bugspriet hinunter ins Wasser und schwammen dann, so schnell wir konnten, auf das nächste Schiff zu.

Die Schildwache am Fallreep wurde sogleich auf uns aufmerksam, des Lichtscheins wegen, den wir durch unsere Bewegungen im Wasser hervorbrachten; man rief uns an, wir gaben jedoch keine Antwort und schwammen nur um so hastiger; dann hörten wir Kommandorufe und ein Gepolter und wußten nun, daß man ein Boot zu unserer Verfolgung aussetzte.

Ich war Hastings eine kurze Strecke voraus, hatte soeben das Ankerkabel des Schiffes erreicht und schickte mich an, daran emporzuklettern, als ich hinter mir einen gräßlichen Schrei hörte; ich schaute mich um und sah, wie ein Hai Hastings gepackt hatte und mit ihm in der Tiefe verschwand. Der Schreck lähmte alle meine Glieder, so daß ich mich während einiger Augenblicke nicht zu rühren vermochte; ich erholte mich jedoch wieder und kletterte nun aus Leibeskräften an dem Kabel in die Höhe. Es war hohe Zeit gewesen, denn schon kam ein anderer Hai auf mich zugeschossen; das Untier that einen Satz nach mir, und obgleich ich mich bereits zwei Fuß hoch über dem Wasser befand, so erfaßte er dennoch meinen Schuh und nahm ihn als Beute mit sich.

Die Angst verdoppelte meine Kräfte, in zwei Sekunden hatte ich die Ankerklüse erreicht und von dort aus halfen mir die Mannschaften des Kauffahrers weiter, die den Tod des armen Hastings von der Back ihres Schiffes aus beobachtet hatten. Schleunigst brachte man mich unter Deck, denn das Boot des Kriegsschiffes war bereits ganz in der Nähe.

Als der Offizier an Bord kam und nach den beiden Deserteuren forschte, da sagte man ihm, daß man uns zwar dicht vor dem Buge gesehen habe, daß aber die Haie uns gepackt und fortgeschleppt hätten. Da man im Boote den Todesschrei des armen Hastings gehört hatte, so begnügte sich der Offizier mit diesem Bescheid und kehrte auf sein Schiff zurück.

Bald darauf hörte ich an Bord des Kriegsschiffes die Trommeln rühren und ich wußte nun, daß man alle Mann an Deck antreten ließ, um festzustellen, wer die beiden Entflohenen gewesen waren; dann schlug die Trommel wieder zum Wegtreten und ich sagte mir in meinem Versteck, daß nun in der Liste hinter meinem Namen das » D. D.« stünde, ebenso wie hinter dem Namen des armen Hastings.«

»Was hat das » D. D.« für eine Bedeutung?« fragte Wilhelm.

»Es sind dies die Anfangsbuchstaben zweier englischer Wörter,« erklärte Rüstig; »das erste D. steht für » discharged«, zu deutsch, »aus dem Dienst entlassen,« das zweite D. steht für » dead«, zu deutsch: »tot«, und nur der Güte Gottes hatte ich es zu danken, daß diese letztere Bezeichnung nicht auch bei mir zutreffend war.«

»Da waren Sie wieder einmal wunderbar einem schrecklichen Schicksal entronnen,« bemerkte Vater Sebald.

»Ja,« sagte der alte Steuermann, »und Sie können sich gar nicht denken, in welchem Zustande ich mich noch lange Stunden nachher befand. Ich versuchte zu schlafen, konnte es aber nicht; mir war zu Mute, als müßte ich verzweifeln oder den Verstand verlieren. Kaum war ich ein wenig eingeschlummert, da war es mir, als hätte mich der Hai im Rachen, und ich fuhr mit lautem Schrei empor; ich sprach ein Gebet und versuchte wieder einzuschlafen, aber das gelang mir nicht. Der Kapitän befürchtete schließlich, daß mein Geschrei Aufsehen erregen könnte, und schickte mir als Beruhigungsmittel einen Topf voll Rum; diesen leerte ich bis auf den Grund und verfiel dann bald in tiefe Betäubung.

Als ich wieder erwachte, befand sich das Schiff unter Segel, auf offener See und umgeben von mehr als hundert anderen Schiffen; die Kriegsfahrzeuge, die zur Bedeckung des Geschwaders mitgingen, blieben in fortwährendem Signalisieren und ihre Schüsse donnerten unaufhörlich über das Meer. Es war ein herrlicher Anblick, und mein Seemannsherz schlug um so höher, als es nun heimwärts ging. Ich fühlte mich jetzt so glücklich, daß ich mich, um die Freiheit zu behalten, wahrlich noch einmal unter die Haifische gewagt hätte.«

»Ich fürchte nur, daß Ihre wunderbare Errettung Ihnen damals nur wenig Segen gebracht hat, Freund Rüstig,« bemerkte die Mutter, »da Sie sich so schnell über das fürchterliche Erlebnis wegsetzen konnten.«

»Ihre Befürchtungen sind nicht zutreffend, Madam,« entgegnete der Alte; »es war das nur das Gefühl der Freude, das beim Anblick der vielen nach England segelnden Schiffe in mir aufstieg, denn von England aus war es ja nicht mehr weit bis in meine Heimat. Nein, Madam, ich kann ehrlich gestehen, daß ich damals bereits ein ernsterer und besserer Mensch geworden war; allerdings bin ich ja heute noch eine arme, sündige Kreatur, aber ich wollte nur sagen, daß ich von jenem Tage an besser wurde, als ich bis dahin gewesen war.

Überdies befand sich ein sehr braver und gottesfürchtiger Mann an Bord, der zweite Steuermann, ein guter alter Schotte; der nahm sich ernstlich meiner an, und wenn ich seither in meiner Besserung stetige Fortschritte machte, so verdanke ich dies zum großen Teil ihm allein.

Während der Heimfahrt that ich Matrosendienste an Bord und der Schiffer war mit mir wohl zufrieden. Ich hatte dem zweiten Steuermann meine Lebensgeschichte erzählt und auch er hielt mir vor, wie unrecht und thöricht es von mir gewesen war, meine Mutter zu verlassen und die Hilfe des Reeders Sigismund zurückzuweisen. Ich mußte ihm in allen Stücken recht geben, und dadurch wurde das Verlangen, in die Arme meiner Mutter zu eilen und ihre Verzeihung zu erflehen, in meinem Herzen immer heißer.

Unser Schiff war nach Glasgow bestimmt; wir trennten uns am Eingang des Kanals von dem Geschwader und langten glücklich im Hafen an. Der Schiffer nahm mich mit sich zu seinem Reeder, der mir für die während der Heimfahrt geleisteten Dienste fünfzehn Pfund Sterling auszahlte; ich empfing diesen reichen Lohn mit herzlichem Dank und machte mich sogleich auf die Reise nach Hamburg. Von Glückstadt aus wanderte ich zu Fuß der Vaterstadt zu. Einige Meilen vor Hamburg holte mich auf der Landstraße ein Wagen ein, dessen Besitzer mich auf meine Anfrage zu sich einsteigen ließ. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über, und so hatte ich das Gespräch sehr bald auf den Reeder Sigismund gebracht. Ich fragte meinen neuen Freund, ob derselbe noch am Leben wäre.

»Nein,« lautete die Antwort, »der ist seit etwa drei Monaten tot.«

»Wem hat er sein Geld hinterlassen?« fragte ich weiter; »er war sehr reich und hatte, soviel ich weiß, keine Verwandten.«

»Nein,« antwortete der Herr, »Verwandte hatte er nicht, und deswegen hat er all sein Vermögen dem städtischen Krankenhause und den Armen hinterlassen. Während der letzten Jahre hatte er einen Geschäftsteilhaber, dem vermachte er die Werft und alles, was dazu gehört, weil er nicht wußte, wer sein großes Geschäft sonst fortsetzen sollte. Vor Jahren hatte er die Absicht, den Sohn eines längst verstorbenen Schiffskapitäns, gegen den er wohl Verbindlichkeiten gehabt haben mochte, als Erben einzusetzen; der Junge hieß Rüstig, er soll aber, wie die Leute sagen, nicht viel getaugt haben; er ist auch eines Tages davongelaufen und zur See gegangen, wie alle solche Taugenichtse thun, und man hat niemals wieder etwas von ihm gehört. Man verfolgte seine Spur bis nach England, wo er sich auf einem Ostindienfahrer eingeschifft hatte. Man brachte auch noch in Erfahrung, daß dieser Ostindienfahrer den Franzosen oder den Holländern in die Hände gefallen sei, von dem Jungen aber war nichts mehr zu ermitteln. Es hieß, er sei tot. Der hat sein Glück recht mit den Füßen von sich gestoßen, denn wäre er hübsch daheimgeblieben, so säße er heute als Hamburger Reeder und reicher Mann dick in der Wolle.«

»Da ist der Junge allerdings sehr dumm gewesen,« bemerkte ich.

»Nicht wahr?« meinte der Herr. »Aber nicht nur sich allein hat er dadurch geschädigt; seine arme Mutter, die in den Jungen rein vernarrt war, konnte sich über seinen Verlust nicht mehr zufrieden geben, sie siechte hin, bis sie endlich nur noch wie ein Schatten herumwankte und dann –«

»Sie ist doch nicht tot?« schrie ich auf, indem ich den Herrn am Arm packte.

Der sah mich ganz erstaunt an.

»Gewiß ist sie tot,« erwiderte er, »und bis dahin hätte ich nimmermehr geglaubt, daß ein Mensch vor Gram sterben kann, aber die arme Frau ist wahrhaftig an einem gebrochenen Herzen und vor Gram gestorben.«

Diese Worte des Herrn trafen mich wie ein Blitzschlag; ich wäre von dem Wagen herabgefallen, wenn er mich nicht gehalten hätte.«

Rüstig schwieg, seine innere Bewegung war so groß, daß Sebald ihm vorschlug, es für heute mit der Geschichte genug sein zu lassen und zur Ruhe zu gehen.

»Ja,« antwortete der Alte, »das wird das beste sein, denn ich fühle, wie mir die Augen bei dieser traurigen Erinnerung voll Thränen stehen. Es ist schrecklich, wenn man sich in seinem Alter noch sagen muß, daß man durch sein Verschulden dazu beigetragen hat, den Tod einer treuen Mutter zu beschleunigen; aber das ist die Wahrheit, möge sie dir als Warnung dienen, lieber Wilhelm. Ich sagte dir vorher, daß du dir aus meiner Lebensgeschichte manche Warnungen entnehmen könntest; möchtest du dieselben nie vergessen! Nun aber gute Nacht.«


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