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Zweiundvierzigstes Kapitel.

Schiff in Sicht! – Warum es im Hause muffig roch. – Getäuschte Hoffnung.

 

Am folgenden Morgen war der alte Rüstig wie gewöhnlich wiederum der erste auf den Beinen; er begrüßte die ihm ins Freie folgende Juno und begab sich dann auf seinen Rundgang.

Er stand im Garten auf der Landzunge und freute sich über das allenthalben aufsprießende Grün. Die Erbsen standen sechs Zoll hoch aus dem Boden heraus, so daß man ihnen bald Reisig beistecken mußte; auch die Bohnen waren schon so weit, daß man die Erde um die Pflänzchen anhäufen konnte; der Alte betrachtete dieselben mit besonderem Wohlgefallen, da er sich manches kräftige Mahl während der Regenzeit von ihnen versprach. Er schritt weiter und freute sich, als auch die Gurken sich bereits über dem schwarzen Boden zeigten.

»Essig haben wir nicht, soviel ich weiß,« sagte er zu sich selber, »aber man kann die Gurken auch in Salz einlegen, was noch besser ist; das giebt eine Abwechslung bei Tische.«

Jetzt erhob er seine Blicke und ließ dieselben über den Horizont schweifen. Da war es ihm, als sähe er in nordöstlicher Richtung ein Schiff; schnell brachte er das Teleskop ans Auge.

Er hatte recht gesehen, dort segelte ein Schiff! Das Herz des alten Mannes begann heftig zu pochen; er ließ das Teleskop sinken, es dauerte eine kleine Weile, ehe er sich von der Wirkung dieses unerwarteten Anblicks wieder erholt hatte. Noch einmal schaute er durch das Glas und erkannte nun in dem Fahrzeug eine Brigg, die unter Mars- und Bramsegeln direkt auf die Insel zusteuerte.

Rüstig ging bis an die felsige Landspitze, wo sie immer zu angeln pflegten, und setzte sich hier nieder, um nachzudenken. Sollte das Schiff abgesendet sein, sie zu holen, oder hatte es nur ein Zufall in diese Gegend geführt? Er hielt das letztere für das wahrscheinlichste, denn niemand konnte ja wissen, daß sie gerettet waren, noch weniger, daß sie sich auf dieser Insel befanden; vielleicht war das Schiff auf der Suche nach frischem Wasser, vielleicht änderte es seinen Kurs und segelte vorbei.

»Wie es auch sein mag,« sagte der Alte zu sich selber; »wir stehen in Gottes Hand. Ich will vorläufig Herrn Sebald und seiner Frau noch nichts mitteilen, denn es wäre grausam, vergebliche Hoffnungen in ihnen zu erwecken. In wenigen Stunden muß alles entschieden sein. Aber ich brauche Hilfe – Wilhelm kann ich vertrauen, er ist ein braver Junge und über seine Jahre klug; wenn er am Leben bleibt, wird er ein bedeutender Mann und, was noch besser ist, ein guter Mensch.«

Er erhob sich, musterte noch einmal das Schiff und ging dann zum Hause zurück. Wilhelm war bereits aufgestanden.

»Höre, mein Junge,« sagte Rüstig zu ihm, ihn am Arme vom Hause wegführend, »ich muß dir etwas mitteilen, das zunächst aber kein anderer erfahren darf, wie du sogleich selber einsehen wirst. Es ist ein Schiff in Sicht; es kann sein, daß es unsertwegen kommt, es kann aber auch vorbeilaufen. Trifft das letztere zu, so wäre die Enttäuschung für deinen Vater und deine Mutter zu grausam.«

Der Knabe starrte dem alten Manne ins Gesicht und konnte im ersten Augenblick vor Erregung kein Wort sprechen.

»O, Papa Rüstig!« rief er dann mit unterdrückter Stimme, »ein Schiff! Gebe der liebe Gott, daß es uns zu holen kommt, denn Sie glauben gar nicht, wie mein armer Vater im stillen leidet, und so auch die Mutter.«

»Ich weiß es, mein Junge, ich weiß alles, es kann ja auch nicht anders sein. Wir wollen uns beeilen, wir haben vor dem Frühstück viel zu thun. Aber halt, erst will ich dir das Schiff zeigen.«

Er brachte das Fahrzeug in das Gesichtsfeld des Teleskops, stützte dieses gegen einen Stamm und hieß den Knaben hindurchsehen.

»Siehst du die Brigg?« fragte er.

»Ja, sie segelt direkt hierher.«

»Das thut sie; aber sprich nicht so laut; ich will das Glas hierher legen und dann müssen wir an die Arbeit gehen. Komm, Willy, komm schnell ehe dein Vater herauskommt.«

Sie gingen zum Vorratshause und holten eine Axt; Rüstig fällte damit einen schlanken Baum, hieb die Krone davon ab und schleppte ihn mit Wilhelms Hilfe zur Spitze der Landzunge.

»Jetzt lauf, mein Junge, hole einen Spaten und grabe hier ein Loch, wir wollen den Baum als Flaggenmast aufrichten. Ich besorge indessen Block und Leine. Wenn das Loch tief genug ist, dann kommst du zum Frühstück, als wenn gar nichts Besonderes geschehen wäre. Beim Essen mache ich dann den Vorschlag, daß wir beide das Boot ausgraben und untersuchen, für deinen Vater werde ich Arbeit im Hause finden.«

»Aber die Flaggen, Papa Rüstig; die sind doch an Mamas Bett befestigt, wie kriegen wir die?«

»Das wird sich schon finden, komm nur.«

Während des Frühstücks brachte Rüstig das Gespräch auf das Boot; es wäre nun Zeit, es aus dem Sande zu nehmen, er und Wilhelm wollten sich sogleich daran machen.

»Und was thue ich indessen?« fragte Vater Sebald.

»Hm,« antwortete der Alte, »die Regenzeit ist vorüber, es wäre daher nicht schlecht, wenn das Bettzeug tüchtig gelüftet würde; das Wetter ist wie geschaffen dazu. Und daß ich's nur sage, Madam, es ist mir während der letzten Zeit schon öfter vorgekommen, als röche es ein wenig muffig hier im Hause.«

»Ich bin mit dem Lüften des Bettzeuges durchaus einverstanden,« sagte Frau Sebald, »das giebt mir gleich die erwünschte Gelegenheit, mit Juno das ganze Haus einmal gründlich zu säubern.«

»Wäre es nicht gut, wenn die Segeltuchvorhänge auch von den Betten abgenommen und in die Sonne gebracht würden?« warf Wilhelm ein.

»Gewiß,« sagte Rüstig, »wir müssen alles lüften, was zu lüften ist. Wir wollen hier noch helfen, die Flaggen und Vorhänge abzunehmen und dann gehen wir zum Boot, während Herr Sebald der Madam und Juno beisteht.«

Es geschah, wie der Alte angeordnet hatte.

Rüstig und Wilhelm bündelten die Vorhänge und Flaggen zusammen und schleppten sie mit sich hinaus; die Leinwand breiteten sie in einiger Entfernung vom Hause in der Sonne aus, mit den Flaggen aber begaben sie sich auf die Landzunge.

Unbemerkt von denen im Hause wurde der Mast aufgerichtet und alles zum Hissen der Flaggen vorbereitet; dann holten Rüstig und Wilhelm von dem Holzstapel Brennmaterial herbei, um ein Feuer anzuzünden, dessen Rauch die Leute an Bord der Brigg aufmerksam machen sollte. Unter diesen Arbeiten verging eine Stunde, während welcher Zeit die Brigg ihren Kurs nicht veränderte. Der Wind, anfänglich nur leicht, nahm jetzt an Stärke zu, so daß das Schiff die Bramsegel fortnehmen mußte. Der Horizont hatte sich bezogen, Wolken türmten sich empor und die Brandung über dem Riff begann weiß zu schäumen und zu tosen.

»Es fängt an zu wehen,« sagte Rüstig, besorgt über das Meer blickend; »bei dieser Brise kann die Brigg bald hier sein, wenn sie sich nicht vor dem Riff fürchtet, das sie jetzt deutlicher erkennen muß als vorhin.«

»Hoffentlich fürchtet sie sich nicht,« entgegnete Wilhelm. »Wie weit mag sie noch entfernt sein?«

»Fünf Seemeilen, nach meiner Schätzung,« antwortete der Steuermann. »Der Wind ist mehr nach Süden herumgegangen und der Himmel wird schwärzer; wir kriegen wieder einen Sturm, der hoffentlich nicht lange anhalten wird. Wir wollen die Flaggen aufhissen, Wilhelm.«

Gleich darauf knatterten die Flaggen am Mast im Winde, eine über der andern; auf der unteren war der Name »Pacific« zu lesen.

»Und jetzt das Feuer,« fuhr der Alte fort, »wir müssen einen tüchtigen Rauch machen, damit sie sehen, daß hier Menschen wohnen.«

Die Kokosblätter waren bald in Brand gesetzt und ein dichter Qualm stieg windwärts in die Höhe. Sie standen und beobachteten das immer näher kommende Schiff, als plötzlich Wilhelms Eltern und mit ihnen Karoline, Tommy und auch Juno, die den Kleinsten trug, in größter Eile zum Strande herabgelaufen kamen. Kurz vorher war Tommy, der Arbeit im Hause müde, zum Wasser geschlendert und hatte hier zuerst die Flaggen und dann draußen auf dem Meere das Schiff bemerkt. Sogleich war er in hellem Eifer zurückgerannt. »Papa! Mama!« rief er, »Kapitän Osborn kommt in einem großen Schiff!« Bei dieser Kunde stürzten der Vater und die Mutter aus dem Hause; sie gewahrten das Fahrzeug und die Flaggen und eilten, so schnell sie nur konnten, nach der Landspitze, wo Wilhelm und der Steuermann bei dem Flaggenmast standen.

»Warum haben Sie uns das nicht früher gesagt, Rüstig!« rief Sebald ganz außer Atem.

»Ich wollte, Sie wüßten es auch jetzt noch nicht,« entgegnete der Alte; »doch nun ist's geschehen. Ich schwieg, weil ich es gut meinte, Herr Sebald.«

»Ja, Vater, das kannst du glauben,« bestätigte Wilhelm.

Die Mutter setzte sich auf einen Felsblock und brach in Thränen aus; auch der Vater befand sich in hoher Aufregung.

»Hat das Schiff uns wahrgenommen, Rüstig?« fragte er.

»Noch nicht, ich wartete auf ein Signal von ihm, dann hätte ich Sie gerufen.«

»Die Brigg ändert ihren Kurs!« rief Wilhelm.

»Ja, sie hat dichter an den Wind herangeholt, sie will den Riffen nicht zu nahe kommen.«

»Sie wird uns doch nicht im Stiche lassen,« rief Frau Sebald angstvoll.

»Bis jetzt hat sie uns noch gar nicht gesehen, Madam.«

»Jetzt aber, jetzt sieht sie uns!« rief Wilhelm, indem er seinen Hut schwenkte, »sie zieht ihre Flagge auf.«

»Bei Gott, sie hat uns entdeckt! Dem Himmel sei Dank!« rief auch der Vater.

Er umarmte seine Frau, die sich schluchzend an seine Brust geworfen hatte, er küßte seine Kinder und schüttelte dem alten Rüstig die Hand. Er war beinahe außer sich vor Freude. Ebenso ging es Wilhelm. Juno zeigte lachend die weißen Zähne, während die Thränen ihr über die Wangen liefen, und Tommy ergriff seine Schwester bei den Händen und hüpfte und sprang mit ihr lustig auf dem Sande umher.

»Herr Sebald,« nahm Rüstig das Wort, als die armen Schiffbrüchigen sich in ihrer Freude wieder etwas beruhigt hatten, »gesehen hat man uns auf dem Schiffe, das ist sicher; wir müssen nun daran denken, unser Boot zu Wasser zu bringen, denn wir kennen die Durchfahrt zwischen Riff und Küste, die dort aber nicht. Auch werden sie kaum wagen, jetzt ein Boot an Land zu schicken, da die Brise immer stärker wird.«

»Es wird einen Sturm geben, Rüstig, meinen Sie nicht auch?«

»Gewiß meine ich das, und ehe der nicht vorüber ist, wird das Schiff in vorsichtiger Entfernung bleiben. Noch einige Stunden Geduld, dann hat sich alles entschieden.«

»Aber wenn das Wetter auch noch so schlecht wird,« sagte Frau Sebald ängstlich, »so wird das Schiff doch sicherlich nicht wieder fortsegeln, ohne uns mitzunehmen, nicht wahr, lieber Rüstig?«

»Wenn es dem Schiffer möglich ist, wird er uns holen, Madam; man kann zwar nie wissen, es giebt Menschen, deren Herzen so hart sind wie Stein und die gar kein Mitgefühl für das Elend anderer haben.«

Inzwischen hatte die Brigg mehrfach ihren Kurs verändert, endlich aber richtete sie ihren Bug nordwärts und entfernte sich wieder von der Insel.

»Sie lassen uns im Stich!« sagte Wilhelm traurig.

»Die herzlosen Wichte!« knirschte sein Vater empört.

»Das ist ein übereiltes Wort, Herr Sebald,« sagte der alte Steuermann; »wenn ich das Kommando auf jenem Fahrzeuge hätte, so würde ich jetzt genau ebenso gehandelt haben. Der Sturm wächst von Minute zu Minute, die Leute dort müssen daher die offene See zu gewinnen suchen, sonst würden sie zwischen diesen Inseln und Klippen in die größte Gefahr geraten. Es ist damit durchaus nicht gesagt, daß sie uns nicht zu Hilfe kommen wollen; jedenfalls müssen sie zunächst an ihre eigene Sicherheit denken; wenn der Sturm vorüber ist, werden wir das Fahrzeug hoffentlich wiedersehen.«

Auf diese verständige Erklärung des Alten gab niemand eine Antwort. Die Schiffbrüchigen sahen und dachten weiter nichts, als daß die Brigg sich wieder von ihnen entfernte und ihre Herzen wurden schwer wie Blei. Schweigend schauten sie dem davoneilenden Segler nach, und wie dieser in der Ferne immer kleiner und undeutlicher wurde, so schwand auch ihre Hoffnung immer mehr dahin. Der Sturm brauste jetzt mit aller Gewalt daher, eine schwere Regenbö nahm ihren Blicken die Aussicht, das Schiff war nicht mehr zu sehen.

Stumm bot Sebald seiner Frau den Arm und führte sie dem Hause zu; die andern folgten, nur Rüstig blieb noch zurück. Noch lange hielt der alte Mann seinen Blick nach der Gegend gerichtet, wo er das Fahrzeug zuletzt gesehen hatte. Es wurde ihm trüb zu Mute, denn ein Vorgefühl sagte ihm, daß man das Schiff nie wiedersehen würde. Endlich holte er die Flaggen nieder, warf sie über die Schulter und folgte seinen traurigen Genossen in das Haus.


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