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Zweites Kapitel.

Die Familie Sebald. – »Mein Kopf mächtigen Bums gekriegt!« – Romulus und Remus. – »Durch Fragen wird man klug.«

 

Wilhelm, den wir als den Freund des alten Rüstig bereits kennen gelernt haben, war der älteste Sohn eines Herrn Sebald, der sich mit seiner ganzen Familie an Bord des »Pacific« befand, um mit diesem die Reise nach Australien zu machen. Die Familie war bisher in Bremen ansässig gewesen; auf die Nachricht jedoch, daß ein Bruder des Herrn Sebald in Australien gestorben war und ihm einen ausgedehnten Landbesitz hinterlassen hatte, entschloß sich dieser, mit Weib und Kind nach jenem fernen Erdteile überzusiedeln und sich daselbst der Landwirtschaft zu widmen, einem Berufe, für den er, obgleich er bisher Kaufmann gewesen, von jeher eine große Vorliebe empfunden. Die Gelegenheit war eine so günstige, daß er dieselbe nicht ungenützt vorübergehen lassen wollte. Er versah sich mit allem, was er für den Wirtschaftsbetrieb dort draußen für nötig hielt und begab sich dann mit den Seinen voll Hoffnung und Zuversicht an Bord.

Frau Sebald war eine sanfte und liebenswürdige aber leider etwas schwächliche Frau. Sie hatte vier Kinder: außer Wilhelm noch zwei Knaben, den sechsjährigen Thomas und den kleinen Albert, der vor kurzem sein erstes Lebensjahr vollendet hatte. Thomas war ein sehr gutmütiges, aber zu allerlei Streichen aufgelegtes Kerlchen, so daß selten ein Tag verging, ohne daß er im Laufe desselben in irgend eine Klemme geraten wäre. Karoline, ein liebliches Mädchen von sieben Jahren, war der Abgott ihrer Brüder, selbst der kleine Albert streckte verlangend die Ärmchen nach ihr aus, wenn er auf dem Arm seiner Wärterin, der Negerin Juno, in ihre Nähe kam.

Wenn wir nun noch zwei Schäferhunde anführen, die Herr Sebald vor seiner Abreise gekauft hatte, und außerdem einen kleinen Terrier, der Eigentum des Kapitäns war, dann sind unsere Leser mit allen an Bord des »Pacific« befindlichen Wesen bekannt und wir können in dem Gang der Erzählung fortfahren.

Vier Tage hatte der Orkan gewütet, dann flaute der Wind nach und nach ab und auch die Wogen beruhigten sich wieder. Bald wurde die Brise so schwach, daß das Schiff kaum noch drei Knoten durch das Wasser lief.

Die Matrosen, die während der Dauer des Sturmes fast gar nicht unter Deck gekommen waren, hingen ihre durchnäßten Kleidungsstücke zum Trocknen auf, und auch aus den aufs neue gesetzten Segeln verschwand unter dem Einfluß der Luft und der Sonne sehr bald jede Feuchtigkeit.

Frau Sebald war aus der Kajüte heraufgekommen und saß nun in der milden, lauen Luft auf einem Sessel unweit der Heckreeling, umringt von all den Ihren, die sich mit ihr des schönen Wetters freuten.

Der Kapitän, der mit seinem Sextanten die Sonnenhöhe gemessen hatte, trat herzu.

»Na, Tommy,« redete er Herrn Sebalds Sechsjährigen an, »du bist wohl recht zufrieden, daß wir wieder feines Wetter haben?«

»Ach,« erwiderte der Junge, »der große Wind war mir schon recht, aber ich habe mir immer die Suppe über den Leib gegossen, und Juno ist von ihrem Stuhl gefallen und mit dem Brüderchen in die Ecke gepurzelt, und da haben beide gestrampelt und geschrien, bis der Papa kam und sie aufhob.«

»Es war noch ein Glück, daß das Kind von dem Mädchen nicht erdrückt worden ist,« bemerkte die Mutter.

»Das hätte allerdings leicht geschehen können, wenn die brave Juno nicht nur auf das Kind allein und gar nicht auf sich selber geachtet hätte,« erwiderte Herr Sebald.

»So ist's,« nickte der Kapitän, »und ich fürchte, sie hat sich dabei recht weh gethan.«

»Mein Kopf mächtigen Bums gekriegt,« lächelte Juno.

»Das will ich glauben,« sagte der Kapitän, »es ist nur gut, daß die Natur dir eine so dicke Pelzkappe auf dem Schädel wachsen ließ. Aber ein gutes Mädchen bist du doch.«

»Es ist zwölf Uhr nach der Sonne,« meldete der erste Steuermann.

»Gut,« sagte der Kapitän. »In fünf Minuten werde ich Ihnen auf der Karte genau zeigen können, wo wir uns jetzt befinden,« fügte er, zu Herrn Sebald gewendet, hinzu.

Damit ging er mit Rickmers in die Kajüte hinunter.

»Da kommen die Hunde aus dem Zwischendeck herauf!« rief Wilhelm. »Die wollen sich wohl auch ein bißchen sonnen. Komm her, Romulus! Remus, hier!«

Jetzt trat der alte Rüstig, der mit seinem Oktanten in der Hand in der Nähe gestanden hatte, an die Gruppe heran.

»Ich möchte mir eine Frage erlauben, Herr Sebald,« begann er in seiner stillen, freundlichen Weise. »Ihre Hunde haben zwei seltsame Namen, die mir noch nie vorher zu Ohren gekommen sind. Ich denke mir aber, daß sie eine Bedeutung haben, und möchte nun gern wissen, wer Romulus und Remus gewesen sind.«

»Romulus und Remus waren zwei Schäfer und außerdem Brüder, die in der alten Zeit die Stadt Rom gründeten,« antwortete Herr Sebald. »Aus der Stadt Rom ging das römische Reich hervor, einst das mächtigste Reich der ganzen Welt. Die beiden Brüder wurden Roms Könige und regierten gemeinschaftlich.«

»Als Kinder aber waren sie von einer Wölfin gesäugt worden,« fügte Wilhelm hinzu, »was sagen Sie dazu, Steuermann Rüstig?«

»Hm, das ist ja allerdings eine kuriose Amme gewesen,« lächelte der Alte.

»Und später hat Romulus den Remus erschlagen,« erzählte Wilhelm weiter.

»Das ist bei solcher Erziehung kein Wunder,« meinte Rüstig. »Von Leuten, die Wolfsmilch im Leibe haben, ist nicht viel Gutes zu erwarten. Aber warum hat er ihn denn umgebracht?«

»Weil Remus zu hoch gesprungen ist,« erwiderte Wilhelm lachend.

»Treibt Wilhelm seinen Spaß mit mir?« fragte Rüstig, Herrn Sebald anblickend.

»Ja und nein. Die Geschichte berichtet, daß Remus seinen Bruder dadurch beleidigte, daß er über eine von jenem errichtete Mauer sprang, worauf Romulus in aufloderndem Jähzorn ihm das Leben nahm. Es ist hierbei jedoch nicht zu vergessen, daß man sich auf die Geschichte jener alten Zeit keineswegs in allen Stücken verlassen kann.«

»So ganz unglaubwürdig erscheint es mir nicht,« erwiderte der alte Rüstig, »denn auch heutzutage vertragen sich zwei Brüder, die zusammen ein Handwerk betreiben, nur selten. Von einer Stadt, die Rom heißt, habe ich schon gehört, wenn ich nicht irre; ist das derselbe Ort?«

»Ja,« sagte Wilhelm, »das heutige Rom besteht zum großen Teil aus den Überresten jener alten Stadt.«

»Da sieht man wieder, daß man im Leben nie auslernt,« bemerkte Rüstig sinnend. »Habe ich heute doch wieder etwas Neues erfahren; und so kann jeder lernen, solange er aus Erden wandelt, wenn er sich nur nicht scheut, zur rechten Zeit und am rechten Ort zu fragen. Ich bin ein alter Mann und weiß außer dem, was mein Seemannsberuf erfordert, nur herzlich wenig; aber ich wüßte vielleicht noch viel weniger, wenn ich mich nicht immer zu belehren gesucht und mich meiner Unwissenheit niemals geschämt hätte; denn nur so kann man lernen. Durch Fragen wird man klug, lieber Wilhelm.«

»Das ist ein trefflicher Rat, Steuermann Rüstig, und ich hoffe, daß Wilhelm denselben nicht vergessen wird,« sagte Herr Sebald. »Wenn man etwas nicht versteht, so muß man niemals aus falscher Scham unterlassen, sich Belehrung zu erbitten.«

»Das thue ich auch nicht, Vater,« rief Wilhelm eifrig. »Stelle ich nicht genug Fragen an Sie, Papa Rüstig?«

»Das thust du,« antwortete der Alte freundlich, »und sehr kluge und gescheite Fragen sind's obendrein, für einen Knaben von deinem Alter; manchmal wünschte ich nur, daß ich sie besser beantworten könnte.«

Frau Sebald, die diesem Gespräch still zugehört hatte, erhob sich jetzt aus ihrem Sessel.

»Ich möchte wieder hinuntergehen, lieber Mann,« sagte sie; »vielleicht ist der Steuermann Rüstig so freundlich und achtet darauf, daß der Kleine sicher die Treppe hinabkommt.«

»Das soll geschehen, Madam,« antwortete Rüstig bereitwillig, indem er seinen Oktanten auf das Gangspill legte. »Gieb her das Kind, Juno, und geh du zuerst; immer mit dem Heck voran, du Wollkopf, wie oft soll ich dir das sagen? Du wirst noch mal hinunterrasseln, wie ein Sack Kartoffeln, wenn du nicht acht giebst.«

»Und Kopf zerbrechen,« sagte Juno ernsthaft.

»Das kaum, denn solch ein Negerschädel zerbricht nicht so leicht; wohl aber kannst du dir den Arm brechen, und wer soll dann das Kind tragen?«

Als alle in der Kajüte angelangt waren, zeigte der Kapitän Herrn Sebald auf der Karte den Ort, wo der »Pacific« gegenwärtig segelte. Das Schiff befand sich noch hundertunddreißig Seemeilen vom Kap der guten Hoffnung entfernt.

»Wenn der Wind so bleibt, dann sind wir übermorgen in Kapstadt,« wendete Herr Sebald sich zu seiner Frau. »Juno, vielleicht siehst du dort deine Eltern wieder.«

Die arme Juno aber schüttelte den Kopf und eine Thräne lief über ihre schwarze Wange herab. Mit trauriger Miene erzählte sie ihrer Herrschaft in einem Gemisch von gebrochenem Holländisch und Deutsch, daß ihr Vater und ihre Mutter von einem holländischen Bauern, dessen Sklaven sie waren, viele Meilen weit ins Innere gebracht worden seien; sie selber war noch ein ganz kleines Kind gewesen, als dies geschah, und deshalb in Kapstadt zurückgelassen worden. Eine deutsche Kapitänsfrau habe sie später mit nach Bremen genommen.

»Seitdem du in Bremen eine Deutsche wurdest, hast du deine Freiheit erlangt und bist keine Sklavin mehr,« sagte Herr Sebald. »Du bist so frei wie ich und der Kapitän hier, und somit glücklicher dran, als wenn du in Afrika geblieben wärest.«

»Ja, Massa, Juno frei,« nickte die Schwarze trübselig, »aber Juno haben nicht Vater und Mutter mehr.« Und aufs neue strömten ihre Thränen, als aber der kleine Albert mit seinen Händchen ihre Wangen klopfte und streichelte, da mußte sie wieder lächeln und bald spielte und tändelte sie mit dem Kinde so fröhlich wie zuvor.


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