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Fünfzigstes Kapitel.

Der Briefträger. – Fleißige Leute. – Instinkt und Verstand.

 

Als die ganze Ladung endlich in Sicherheit gebracht war, legten sie das Boot für die Nacht fest und begaben sich zum Wohnhause, wo sie Nachtquartier zu nehmen gedachten. Sie wollten eben in die Thür treten, als Remus in langen Sätzen herbeigesprungen kam, am Halse das Papier.

»Hier ist der Hund ja wieder,« sagte der alte Rüstig; »er hat doch wohl keine Lust, nach Hause zu gehen.«

»Wie ärgerlich,« meinte Wilhelm; »und ich glaubte schon so fest, er wäre dort; nun, ich habe mich getäuscht. Wir wollen ihm nichts zu fressen geben, dann geht er vielleicht ab; aber, Papa Rüstig, das ist ja gar nicht das Papier, das ich ihm umgebunden hatte!«

Wilhelm band das Papier los, öffnete es und las:

Lieber Wilhelm!

Dein Brief ist glücklich angelangt und wir freuen uns, daß ihr euch wohl befindet. Schreibe doch jeden Tag, mein guter Sohn; das war sehr gescheit von dir, wie auch von Remus.

Deine dich liebende Mutter
Selina Sebald.

»Das ist wirklich sehr nett,« lächelte der alte Rüstig; »ich traute dem Köter nicht recht und nun hat er so gehorsam und verständig den Weg sogar zweimal gemacht.«

»Komm her, Remus, du guter Hund,« rief Wilhelm, das sich wedelnd an ihn drängende Tier streichelnd; »bist ein braver Bursche, Remus, ein sehr braver Bursche; sollst auch ein gutes Abendbrot haben, denn das hast du verdient.«

»Das hat er,« bestätigte Rüstig. »Du aber, mein Junge, kannst dich rühmen, die erste Post auf dieser Insel in Betrieb gesetzt zu haben, was eine große Verbesserung unserer Verhältnisse bedeutet. Im Ernst, Wilhelm, deine Erfindung kann sich noch einmal sehr nützlich erweisen.«

»Jedenfalls gewährt sie meiner Mutter einen großen Trost,« entgegnete der Knabe.

»Das will ich meinen,« nickte der Alte. »Besonders willkommen wird ihr der Briefträger sein, wenn später wir alle drei am Vorratshause die besprochenen Veränderungen vornehmen. Jetzt aber wollen wir uns niederlegen, denn morgen müssen wir mit der Lerche wieder auf sein, wie man daheim im deutschen Vaterlande sagt.«

»Hier wird es heißen müssen mit den Papageien, denn das sind ja wohl die einzigen Vögel auf diesem Eilande.«

»Du vergißt die Tauben, mein Junge; ich sah neulich eine im Walde fliegen; es wird jetzt ihre Brutzeit sein. Gute Nacht, Willy.«

Am nächsten Morgen machten sie sich schon vor dem Frühstück auf und da der Wind nur schwach war, wurde ihnen das Rudern nicht so schwer. Das Boot war bald beladen und sie kehrten unter Segel zurück. Um nicht zu viel Zeit zu verlieren, ließen sie die Güter vorläufig auf dem Strande liegen und machten sich sogleich auf die zweite Fahrt; schwer beladen kehrten sie von dieser zwei Stunden vor Sonnenuntergang zurück; sie landeten die Güter und legten dann das Boot fest. Im Hause angekommen, schrieb Wilhelm folgenden Brief:

Liebe Mama!

Heute haben wir zwei Ladungen hergebracht; wir befinden uns wohl und sind sehr müde.

Dein Wilhelm.

Diesmal bedurfte es bei Remus keiner Belehrung. Wilhelm streichelte ihn und hieß ihn nach Hause gehen. Der Hund wedelte und lief sogleich von dannen.

Ehe sie sich noch zur Ruhe gelegt hatten, war er mit der Antwort wieder da.

»Wie er gerannt sein muß, Papa Rüstig,« sagte Wilhelm; »er ist nur zwei Stunden unterwegs gewesen.«

»Eine gute Leistung. Was schreibt Mama?«

»Die schreibt nur: »Alles wohl; wollen den Briefträger nicht aufhalten«.«

Remus erhielt ein reichliches Abendbrot und wurde geklopft und gehätschelt.

Am folgenden Tage konnte man nur eine Fahrt nach der Strandungsbucht unternehmen, da die beiden Ladungen von gestern untergebracht werden mußten. Wiederum machte der Briefträger den Weg nach den Zelten und brachte auch die Antwort zurück.

Am Sonnabend unternahmen sie ebenfalls nur eine Bootsfahrt, denn das war der Tag, an dem sie heimkehren mußten. Sie thaten dies auf dem Wasserwege, nachdem sie zuvor eine Schildkröte ins Boot geschafft hatten; als sie im Hafen anlangten, fanden sie die ganze Gesellschaft zu ihrem Empfange am Ufer versammelt.

»Du hast also wirklich dein Versprechen gehalten, lieber Wilhelm, und mir durch die Post Briefe gesendet,« sagte die Mutter. »Das war wirklich zu hübsch; jetzt fürchte ich mich auch nicht mehr, und wenn ihr alle von mir ginget.«

»Wir müssen Romulus und Fix auch noch für den Postdienst ausbilden, Mama,« antwortete Wilhelm.

»Und ich zeige es den jungen Hunden,« sagte Tommy; »ich schreibe auch Briefe.«

»Wenn du erst Briefe schreiben kannst,« lächelte Rüstig, »dann werden die kleinen Hunde auch schon alt genug sein, sie zu bestellen. Dein Gesicht ist noch nicht ganz wieder heil, wie ich sehe; hoffentlich wirst du nun keine toten Schweine mehr schießen wollen.«

»Nein, das thue ich nicht wieder, aber wenn ihr wieder eins totschießt, dann esse ich mächtig viel davon.«

»Das ist vernünftig, Massa Tommy. Komm auf meinen Arm, Albert, mein Kleiner; wir beide haben lange nicht miteinander gespielt. Wie steht's mit dem Graben und der Hecke, Herr Sebald?«

»Ich habe tüchtig geschafft, Freund Rüstig; zwei Seiten des Vierecks sind beinahe vollendet. Ich denke, daß Ende nächster Woche die Umwallung fertig sein wird.«

»Sie brauchen sich nicht so anzustrengen, Herr Sebald, die Sache ist nicht eilig und Wilhelm und ich wissen damit bald umzuspringen.«

»Ich betrachte diese Arbeit als eine Pflicht, lieber Rüstig; und ich kann wohl sagen, sie ist mir auch ein Vergnügen. Jetzt aber wollen wir zum Abendessen gehen.«

Bei Tische kam das Gespräch auch auf die Klugheit, die der Hund als Postbote bewiesen hatte.

Vater Sebald nahm daraus Veranlassung, noch andere Beispiele von der Gelehrigkeit der Tiere anzuführen, bis Wilhelm die Frage an ihn richtete, was eigentlich der Unterschied zwischen Instinkt und Überlegung sei.

»Dieser Unterschied ist sehr groß,« antwortete der Vater, »wie ich dir sogleich erklären will; zunächst möchte ich aber noch bemerken, daß die allgemeine Annahme, der Mensch werde von seinem Verstande, das Tier nur von seinem Instinkt geleitet, irrig ist. Der Mensch hat sowohl Instinkt, wie Verstand, und die Tiere verfügen neben ihrem Instinkt ebenfalls über einen mehr oder weniger bemerkbaren Verstand.«

»Wann kann man bei einem Menschen erkennen, daß er seinem Instinkt folgt?«

»In seiner frühsten Kindheit handelt der Mensch nur nach seinem Instinkt, da seine Verstandeskräfte noch nicht entwickelt sind; dieselben reifen mit dem Heranwachsen und gewinnen bald die Oberhand über den Instinkt, der in demselben Verhältnis abnimmt.«

»Dann ist in ganz alten Leuten der Instinkt wohl vollständig erloschen?«

»Keineswegs, mein lieber Sohn; ein Instinkt, und zwar ein sehr starker, bleibt dem Menschen, so lange er auf Erden lebt. Es ist dies die Furcht, nicht vor dem Tode, aber vor dem Zurückfallen in das Nichts nach dem Tode. Dieses instinktive Gefühl, das allen Menschen innewohnt, kann als ein Beweis dafür gelten, daß nach dem Tode nicht alles mit uns zu Ende ist, sondern daß unsere Seele fortleben wird, wenn auch unser Körper in Staub zerfällt.«

»Das ist sehr richtig, Herr Sebald,« bemerkte der alte Steuermann.

»Der Instinkt der Tiere,« fuhr Vater Sebald fort, »ist ein Gefühl, welches dieselben zwingt, gewisse Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen, ohne zuvor nachzudenken oder zu überlegen; diesen Instinkt bringen sie mit sich auf die Welt, er bleibt immer derselbe. Die Schwalbe hat ihr Nest gebaut, die Spinne ihr Gewebe und die Biene ihre Wabe hergestellt vor vielen tausend Jahren genau so wie heute. Die Bienenwabe mit ihren mathematisch gebauten Wachszellen ist eins der größten Wunder des Tierreiches und doch nur ein Werk des Instinktes. Überhaupt tritt der Instinkt am auffälligsten bei Tieren zu Tage, die gesellig in Herden und größeren Gemeinschaften leben.«

»Möchtest du mir das nicht näher erklären, lieber Papa?«

»Zu den gesellig lebenden Tieren gehören zum Beispiel die Schwalben, die Hühner und die Gänse, viele Arten von Seevögeln, auch die Dohlen und Krähen. Der Instinkt derselben offenbart sich bei ihren Wanderungen von einer Gegend zur anderen; die Wildgänse richten ihren Flug so ein, daß sie dem Winde nur den geringsten Widerstand darbieten, indem jeder Vogel in der Flugordnung auf seiner ganz bestimmten Stelle bleibt, als folge er dabei einer geheimen höheren Weisung; merkwürdig ist es auch, wie solche Vögel Wachposten ausstellen, wenn sie schlafen, und wie sie einander Warnungssignale zukommen lassen. Das ist weiter nichts als Instinkt, und dieselben Beobachtungen kann man bei den vierfüßigen Tieren machen.«

»Du sprachst auch von Geschöpfen, die in größeren Gemeinschaften leben, Papa.«

»Ganz recht, wie die Ameisen, die Bienen und viele andere Insekten, auch die Biber. Nicht nur die Arbeiten derselben sind bewunderungswürdig, sondern auch die Art ihres Verkehrs untereinander und das strenge Pflichtbewußtsein in jedem dieser Tiere.«

»Das alles ist Instinkt, lieber Vater; du erwähntest vorhin aber auch, daß bei den Tieren mehr oder weniger Verstand bemerkbar sei; möchtest du mir sagen, wie und wann sich solches zeigt?«

»Gewiß, lieber Sohn, ich meine aber, wir verschieben dies auf einen andern Abend; heute müssen wir zur Ruhe gehen. Karoline schläft bereits und auch Tommy gähnt schon gewaltig.«

»Der beiden Instinkt und Verstand sind also gegen mich,« antwortete Wilhelm lachend; »da muß ich mich schon gedulden; ich bin aber wirklich sehr gespannt auf deine weiteren Belehrungen.«

»Mir geht es ebenso, mein Junge,« sagte der alte Rüstig; »ich bin aber auch ganz zufrieden, jetzt Zeit zu haben, über das Gehörte nachzudenken. Die Natur ist doch wunderbar!«

»Das ist sie, mein alter Freund, wo man auch hinschaut,« antwortete Sebald. »Nun aber, gute Nacht.«


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