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Einundsechzigstes Kapitel.

Die Not wird größer. – Rüstig schleicht sich zur Quelle. – »Wir haben Wasser, aber es kommt uns teuer zu stehen!«

 

Der zweite Tag der Belagerung verstrich unter gespanntester Wachsamkeit und in steter Erwartung eines neuen Angriffs. Am Vormittag hielten die Wilden, im Kreise sitzend, wieder einen großen Kriegsrat, wie man von dem Ausguck auf dem Baume wahrnehmen konnte. In dem Kreise stand einer der Häuptlinge und redete eine lange Zeit auf seine Genossen ein, dabei heftig den Speer und die Keule schwingend. Der Kriegsrat währte bis zum Nachmittag, dann zerstreuten sich die Wilden in allen Richtungen und begannen eifrig Bäume zu fällen und auch sonst Holz zu sammeln. Rüstig beobachtete sie lange; kurz vor Sonnenuntergang stieg er wieder vom Baume herab.

»Meiner Meinung nach werden wir in dieser Nacht keinen Überfall haben,« sagte er zu Sebald, »wohl aber wird es morgen etwas sehr Ernstliches geben. Die Wilden hauen Bäume um und zerhacken die Stämme in große Stücke; schnell geht ihnen das nicht von den Händen, weil sie nur steinerne Beile haben, die gewiß nicht sehr scharf sind; aber durch Ausdauer ist alles zu erreichen, besonders, wenn sich so viele Hände auf einmal ans Werk machen; sie werden die ganze Nacht hindurch arbeiten, jedenfalls aber so lange, bis sie für ihren Zweck Holzstücke genug haben.

»Was können sie aber wollen?« fragte Sebald.

»Entweder schichten sie dieselben vor den Pallisaden auf, bis sie bequem herauflaufen und zu uns hereinspringen können, oder aber sie machen mehrere Haufen davon und setzen diese in Brand, um die Verschanzung auf solche Weise zu zerstören.«

»Glauben Sie, daß ihnen das gelingen wird?«

»Nicht ohne große Verluste; vielleicht schlagen wir sie auch noch einmal zurück, aber der Kampf wird sehr hart werden, härter als je zuvor. Das Feuer wird uns nicht viel schaden, aber der Rauch kann uns lästig werden. Unsere Pallisaden bestehen aus grünem Kokosholz, das verkohlt nur sehr langsam, und da die Pfähle aufrecht stehen, werden sie schwer Feuer fangen; den Qualm allein fürchte ich.«

»Aber wie sollen wir dem Angriff lange widerstehen, erschöpft, wie wir bereits sind, wenn der Rauch uns fast erstickt und die Hitze des Feuers unsern Durst noch vermehrt? Wir müssen ja endlich schon vor Ermattung niedersinken!«

»Verlieren wir nicht den Mut, Herr Sebald, und lassen wir die Hoffnung nicht sinken,« entgegnete der alte Rüstig. »Wenn mir während des Kampfes etwas zustoßen und es den Anschein gewinnen sollte, als würden die Wilden die Oberhand kriegen, dann müssen Sie sich den Rauch zu nutze machen, in den Wald fliehen und die Zelte aufsuchen. Ich hoffe zu Gott, daß Ihnen dies gelingen wird. Wollen die Wilden Feuer anwenden, dann geschieht der Angriff von der Windseite und Sie müssen sich auf der Leeseite davonmachen; ich habe Wilhelm gezeigt, wie die Pallisaden im Notfalle am leichtesten zu durchbrechen sind. Gelangen die Wilden in den Besitz des Hauses, dann werden sie zunächst nur an die Beute denken und nicht an die Verfolgung der Verteidiger; es kann auch leicht sein, daß sie sich gar nicht mehr um Sie kümmern, wenn sie erst alles haben, was das Haus ihnen bieten kann.«

»Ihre Worte machen mir Kummer, Papa Rüstig,« entgegnete Wilhelm. »Warum reden Sie so, als ob Ihnen etwas zustoßen müßte?«

»Wenn die Wilden das Holz als Anstieg benutzen und über die Pallisaden zu uns hereinspringen, dann kann es wohl sein, daß ich verwundet oder getötet werde, wie auch du selber oder auch dein Vater.«

»O, natürlich,« erwiderte der Knabe, »aber leicht soll ihnen das Hereinspringen nicht werden.«

Rüstig erbot sich jetzt, die erste Wache zu übernehmen, um Mitternacht wollte er Vater Sebald wecken. Die Belagerten hatten während dieser beiden Tage so gut wie nichts gegessen; zwar war eine Schildkröte geschlachtet und etwas von ihrem Fleisch gebraten worden, aber das Essen vermehrte nur ihren Durst und selbst die Kinder wiesen die Nahrung zurück. Die Qualen der Ärmsten waren auf eine bedenkliche Höhe gestiegen; zuweilen schien es, als werde die arme Mutter den Verstand verlieren.

Als der Vater in das Haus gegangen war, trat Rüstig dicht an Wilhelm heran.

»Höre mir zu, mein Junge,« begann er; »wir müssen Wasser haben; ich kann die Not der armen Kinder und den jammervollen Zustand deiner Mutter nicht länger mit ansehen; auch werden wir morgen den Wilden nicht lange widerstehen können, wenn wir uns nicht vorher durch einen tüchtigen Trunk Wasser erfrischt haben. Rücken sie uns mit Feuer auf den Leib, dann müssen wir mit unseren trockenen Kehlen buchstäblich im Rauch ersticken. Ich will daher eins von den kleinen Fässern nehmen, die ungefähr fünfzehn Quart fassen, und Wasser von der Quelle holen. Vielleicht gelingt es, vielleicht auch nicht, aber gemacht muß der Versuch werden; falle ich dabei, dann war es Gottes Wille.«

»Soll ich nicht lieber gehen, Papa Rüstig?« sagte der Knabe.

»Nein, Wilhelm,« antwortete der Alte, »aus mancherlei Gründen nicht, hauptsächlich aber deshalb nicht, weil ich mich auf solch ein Wagnis besser verstehe als du. Mein Vorsatz steht ganz fest. Wenn ich aus der Thür bin, dann machst du dieselbe wieder zu und schiebst einen Balken dahinter, dadurch ist sie genügend geschlossen, bis du sie vollständig verrammeln kannst, wenn der Feind versuchen sollte, während meiner Abwesenheit einzudringen. Passe genau auf, wenn ich wiederkomme, damit du mich schnell einlassen kannst. Hast du mich verstanden?«

»Ja, Papa Rüstig, aber mir wird schrecklich angst; wenn Ihnen etwas zustieße, was wäre das für ein Unglück!«

»Es hilft alles nichts, mein Junge, wir müssen Wasser haben und jetzt ist gerade die geeignete Zeit, den Versuch zu machen; die Wilden haben die Arbeit liegen lassen und sitzen bei der Mahlzeit; begegnet mir einer von ihnen, so kann das höchstens ein Weib sein. Waffen nehme ich nicht mit, die wären mir nur hinderlich.«

Damit ging er, das Fäßchen zu holen. Die Sperrhölzer, welche die Thür festhielten, wurden von Wilhelm vorsichtig entfernt, und nachdem man sich überzeugt hatte, daß kein Wilder im Schatten der Pallisaden versteckt war, gab der alte Mann dem Knaben noch einen kräftigen Händedruck, eilte schnellen Schrittes über den abgeholzten Platz außerhalb der Verschanzung und verschwand im Walde. Wilhelm schob die schwere Thür zu, legte einen Balken zwischen dieselbe und die inneren Pfosten und sprang auf das Plankengerüst, um Wache zu halten. Der Knabe befand sich in einem Zustande angstvollster Spannung, sein Herz pochte gewaltig und er horchte auf das leiseste Geräusch, sogar das gelegentliche Rascheln der von einem schwachen Winde bewegten Kokosblätter über ihm ließ ihn erschreckt zusammenfahren; so stand er lange, bange Minuten, die Büchse schußfertig in der Hand.

Er sagte sich, daß Rüstig jetzt schon zurück sein müßte, die Entfernung bis zur Quelle betrug doch höchstens zweihundert Schritte. Er lauschte angestrengt in den Wald hinein; alles blieb still. Endlich hörte er etwas knistern – es waren leise Fußtritte. Er konnte sich nicht geirrt haben; Rüstig kam wohlbehalten zurück.

Der Knabe sprang von dem Gerüst herab, huschte zur Thür und stand bereit, den Balken zurückzuziehen und den Eingang zu öffnen; da vernahm er draußen plötzlich stärkere Fußtritte – dann ein Geräusch wie von ringenden Menschen und gleich darauf einen dumpfen Fall, unmittelbar vor der Thür. Blitzschnell riß er den Balken zurück und zog die Thür auf, gerade in dem Augenblick, als er sich von Rüstig gerufen hörte; er ergriff die Büchse und sprang hinaus. Hier sah er Rüstig am Boden liegen und sich gegen einen Wilden wehren, der auf ihm kniete und seinen Speer gegen des Alten Brust gerichtet hielt. Wilhelm gab Feuer und der Wilde stürzte, durch den Kopf geschossen, neben Rüstig zur Erde.

»Nimm schnell das Wasser hinein!« rief der alte Steuermann mit schwacher Stimme. »Ich krieche hinterher, wenn's noch geht.«

Wilhelm schleppte das schwere Faß in den Hofraum, dann eilte er wieder zu Rüstig hinaus, der sich inzwischen auf die Knie gerafft hatte. Fast zugleich mit seinem Sohne erschien auch Vater Sebald aus dem Platze; er hatte den Schuß gehört und war erschrocken aus dem Hause gekommen; als er die Pallisadenthür offen und Wilhelm hinauslaufen sah, eilte er ihm nach und kam gerade zur rechten Zeit. Beide hoben den alten Mann empor, der, von ihnen gestützt, noch in den Hof wanken konnte; sie ließen ihn auf das Lager von Kokosblättern nieder, verrammelten hastig die Thür und kehrten dann wieder zu ihm zurück.

»Sind Sie verwundet, Papa Rüstig?« fragte der Knabe mit bebender Stimme.

»Ja, mein lieber Junge,« ächzte der Alte, »und zum Tode, wie ich glaube; sein Speer ging mir durch die Brust. Reich mir zu trinken!«

»O Gott! Ich gäbe Jahre meines Lebens darum, Ihnen einen Tropfen Wasser reichen zu können, mein bester Freund!« rief Vater Sebald schmerzzerrissen.«

»Wir haben Wasser, Papa,« sagte Wilhelm, »aber es kommt uns teuer zu stehen.«

Er holte eiligst einen Topf, öffnete den Spund des Fäßchens, füllte den Topf voll Wasser und reichte ihn Rüstig hin, der mit Gier den kühlen Trank schlürfte.

»Jetzt laß mich hier liegen, mein lieber Sohn, gieb erst allen andern zu trinken,« flüsterte Rüstig; »hernach komm wieder zu mir. Sage der Mutter nicht, daß ich verwundet bin. Thu, wie ich dich bitte.«

»Papa, nimm du das Wasser,« schluchzte der Knabe; »ich kann ihn nicht verlassen.«

»Das will ich, mein Sohn,« antwortete der Vater; »zuerst aber trinke du selber.«

Wilhelm, der sehr schwach und erschöpft war, trank den Topf in einem Zuge aus und fühlte sich augenblicklich von neuer Lebenskraft durchströmt; während der Vater mit dem Wasser zu den Kindern und Frauen eilte, wendete er sich liebevoll dem alten Rüstig zu, der jetzt mit geschlossenen Augen und mühevoll atmend vor ihm lag.


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