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Einundfünfzigstes Kapitel.

Noch mehr Tiergeschichten.

 

Der nächste Tag war ein Sonntag, den unsere Schiffbrüchigen in gewohnter Ruhe und Beschaulichkeit verbrachten.

Während der Vater das Kapitel aus der Bibel laß, schlich Tommy sich aus dem Zelt hinaus, um einen Blick auf die Schildkrötensuppe zu werfen, die auf dem Herde kochte.

Juno schöpfte jedoch Verdacht und faßte ihn gerade in dem Augenblick am Kragen, wo er den Deckel vom Topfe nahm. Er wurde tüchtig ausgescholten und schon fürchtete er, zu Mittag wieder leer auszugehen, als die Mutter ihm noch großmütig verzieh.

Am Abend bat Wilhelm den Vater, in dem Gespräch über die Verstandeskräfte der Tiere fortzufahren.

»Das thue ich gern,« antwortete dieser, »da eine solche Unterhaltung sich wohl für einen Sonntagabend schickt. Betrachten wir zuerst die geistigen Fähigkeiten, die bei den Tieren wahrnehmbar sind. Da ist zunächst das Gedächtnis, namentlich in Bezug auf Personen und Orte, und dieses Gedächtnis steht dem unsern kaum nach. Der Hund erkennt einen früheren Herrn noch nach vieljähriger Trennung. Ein Elefant, der wieder in seine Wälder entflohen war, erkannte nach zwanzig Jahren seinen ehemaligen Wärter. Hunde finden den Weg nach Hause, wenn man sie auch viele Meilen von dort entfernt hatte. Das Gedächtnis der Papageien und Kakadus ist ebenfalls ein sehr starkes. Ein weiterer Beweis für das Erinnerungsvermögen der Tiere sind die Träume derselben. Ein Traum ist eine verworrene Rückerinnerung an allerlei vergangene Begebenheiten, und du hast gewiß schon oft Romulus und Remus im Schlafe bellen, knurren und winseln hören.«

»Ja, Vater, das habe ich.«

»Wenn eine Katze stundenlang vor einem Loche lauert, aus welchem eine Maus herauskommen soll, so ist das eine Handlung der Überlegung; dieselbe Triebkraft spornt das Raubtier zur Verfolgung seiner Beute an. Wenn ein Hund einen anständigen Menschen ruhig in das Haus treten läßt, einem Strolch oder Bettler aber wütend den Eingang wehrt, so thut er dies ebenfalls aus Überlegung. Ich kannte einen wachsamen Hofhund, der stets auf die niedrige Mauer sprang, wenn draußen ein Mensch vorüberging; er lief dann so weit neben dem Fußgänger her als die Mauer reichte. Ein Tier von hervorragendem Verstand ist der Elefant; er versteht, was zu ihm geredet wird, besser als alle übrigen Tiere. Verspricht man, ihn für eine Arbeit zu belohnen, so macht er die äußersten Anstrengungen, die Belohnung zu verdienen. Auch ein gewisses Ehrgefühl besitzt dieses gewaltige Geschöpf. In Indien dienen die Elefanten zur Bespannung der schweren Artillerie. Eins der größten und schönsten Tiere quälte sich eines Tages vergeblich, sein Geschütz durch einen tiefen Sumpf zu bringen. »Nehmt die faule Bestie fort und schafft einen andern Elefanten her!« befahl der Geschützführer. Diese Beleidigung ging dem edlen Tier so zu Herzen, daß es sich über seine Kräfte anstrengte und, als sich das Geschütz auch durch Schieben mit dem Kopfe nicht fortbewegen ließ, an dem metallenen Rohr seinen Schädel einrannte. Ein Elefant, der daheim für Geld gezeigt wurde, pflegte mit seinem Rüssel kleine Münzen aufzuheben, die man vor ihn auf den Boden warf. Eine der Münzen rollte so dicht an die Wand, daß er sie nicht erfassen konnte; eine Weile stand er und überlegte, dann sog er den Rüssel voll Luft und blies dieselbe mit aller Gewalt gegen die Wand oberhalb der Münze, daß die letztere von der rückprallenden Luft bis vor seine Füße geschleudert wurde, wo er sie dann aufhob.«

»Das war wirklich gescheit von ihm,« sagte Wilhelm.

»Ja, es war ein Beweis für sein Nachdenken sowohl, als auch für seine Kenntnis von Ursache und Wirkung. Tiere haben auch einen Sinn für die Zeit. Ich kannte zwei Wachtelhündchen, die von ihrer Herrin bei deren Ausfahrten an Wochentagen stets mitgenommen wurden; am Sonntag jedoch, wenn die Dame in ihrer Kutsche zur Kirche fuhr, mußten sie daheim bleiben. Diese Hunde wußten so genau wie ihre Herrin, wenn der Sonntag da war. Fuhr der Wagen in der Woche vor, dann kamen sie sogleich freudig herbeigelaufen und kaum war der Schlag geöffnet und der Tritt heruntergelassen, so saßen sie auch schon darin; am Sonntag aber blieben sie sehr ruhig im Hausflur stehen und machten nicht einmal den Versuch, die Herrin zu begleiten.«

»Auch das waren sehr liebe und kluge Tierchen,« bemerkte Wilhelm.

»Ohne Zweifel,« fuhr der Vater fort. »Ein anderer Beweis für die Verstandesgaben der Tiere ist die Thatsache, daß man eine ganze Anzahl von ihnen abrichten kann. Elefanten und Pferde, Hunde und Schweine, Löwen, Bären und auch Vögel vermögen eine Menge Dinge zu lernen; Kanarienvögelchen schießen sogar Kanonen ab, und was dergleichen mehr ist.«

»Wo aber liegt wohl die Grenze zwischen Instinkt und Vernunft?« fragte der Knabe.

»Darauf wollte ich soeben kommen, lieber Sohn. Wenn die Tiere, von Instinkt getrieben, ihre Nahrung suchen, ihre Jungen aufziehen und sich gegen Gefahren schützen, so folgen sie feststehenden Gesetzen, von denen sie niemals abweichen. Tritt aber etwas an sie heran, dem gegenüber ihr Instinkt nicht ausreicht, so müssen ihre Verstandeskräfte zu Rate gezogen werden. Hier ein Beispiel. Ein Tier, bei dem der Instinkt ganz besonders stark entwickelt ist, ist die Biene. Nun giebt es eine Motte, Totenkopf genannt, die sehr gern Honig leckt; zuweilen gelingt es dieser, sich Eingang in den Bienenstock zu verschaffen. Natürlich fallen die Bienen sofort über den Räuber her, der auch sehr bald ihren Stichen erliegen muß. Der tote Körper ist jedoch so groß, daß sie ihn nicht zum Stocke hinausschaffen können, wie dies stets mit den Leichen anderer Feinde geschieht. Um nun zu verhüten, daß der verwesende Kadaver der Motte die Luft im Stocke verdirbt, überziehen sie denselben vollständig mit Wachs.«

»Aber, Vater, hätte ihr Instinkt sie nicht veranlassen müssen, Vorkehrungen gegen solche Eindringlinge zu treffen?« bemerkte Wilhelm.

»Diese Frage wäre berechtigt, wenn es sich hier um wilde und nicht um zahme Bienen handelte. Die wilden Bienen wohnen in hohlen Bäumen und der Eingang zu ihrer Behausung ist so klein, daß immer nur eine Biene hindurchschlüpfen kann; Tiere, die größer sind als die Bienen, können daher nicht eindringen. Die Bienen im Stock leben aber gewissermaßen in unnatürlichen Verhältnissen; die von Menschenhänden hergestellte Thür ist zu groß, das Erscheinen der Motte war also ein Ereignis, auf das ihr Instinkt nicht vorbereitet sein konnte.«

»Jetzt wird mir der Unterschied klar, lieber Vater.«

»Noch ein Beispiel. In Indien stürzte ein zahmer Elefant in einen tiefen Wasserbehälter; alle Versuche, ihn herauszuziehen, waren vergeblich und er hätte elend umkommen müssen, wenn sein Wärter, der des Tieres Klugheit kannte, nicht den Rat gegeben hätte, eine Menge Holzbündel in den Behälter hinabzuwerfen. Das Tier begriff sogleich, was es damit anzufangen hatte. Es brachte die Holzbündel unter sich und stellte sich darauf; je mehr man von den Holzbündeln hinabwarf, desto höher türmte es dieselben auf, bis endlich der Behälter soweit angefüllt war, daß es heraussteigen konnte.«

»Der Elefant hat hier wirklich soviel Klugheit entwickelt wie ein Mensch,« sagte Wilhelm bewundernd. »Ja, viele Menschen hätten gar nicht einmal gewußt, was sie mit den Holzbündeln beginnen sollten.«

»Das ist schon möglich. Zum Schluß nun noch eine Bemerkung. Obgleich der Schöpfer die geistigen Fähigkeiten der Tiere ebenso verschiedenartig gestaltet hat, wie die äußeren Formen der unzähligen Klassen und Arten derselben, so will mir doch scheinen, als ob er auch hierbei die Interessen und die Bedürfnisse des Menschen nicht unberücksichtigt gelassen hat. Die Geschöpfe, die der Mensch hauptsächlich zu seinem Dienst und Beistand verwendet, wie das Pferd, der Hund und der Elefant, stehen auch geistig am höchsten, wodurch sie für uns doppelt wertvoll werden.«

»Der Gedanke ist schön, Herr Sebald, und ebenso wahr, als schön,« sagte der alte Rüstig. »Ja, Gott meint es mit seinen Menschenkindern herzlich gut.«


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