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Fünfundfünfzigstes Kapitel.

Tommy im Boot. – Rüstig in Lebensgefahr. – Wilhelms Edelmut.

 

Vierzehn Tage lang hatte man ohne Unterbrechung an dem Pallisadenzaun gearbeitet, als sich etwas ereignete, was unsere Insulaner in große Aufregung und heftige Angst versetzte.

Die Arbeiter waren eines Tages heimgekommen; Frau Sebald empfing sie freundlich, fragte dann aber etwas erstaunt:

»War denn Tommy nicht bei euch?«

»Nein,« antwortete der Vater; »er lief zwar nach dem Frühstück mit uns, blieb auch wohl eine Viertelstunde da, dann aber sahen wir nichts mehr von ihm.«

Juno berichtete, daß sie Tommy aufgefordert habe, ihr die Kokosblätter auf einen Haufen tragen zu helfen, darauf aber habe er sich nicht eingelassen, sondern sei spornstreichs fortgelaufen.

»Mein Gott, wo kann der Junge stecken!« rief die Mutter in schnell erwachender Besorgnis.

»Er wird Muscheln am Strande suchen, Madam,« antwortete Rüstig, »vielleicht sitzt er auch im Garten. Ich will mich nach ihm umsehen.«

»Ich gehe mit Ihnen, Papa Rüstig,« sagte Wilhelm. Da aber stieß Juno einen lauten Schrei aus. »Ich sehen ihn!« rief sie. »O, Gott! Ich sehen ihn – im Boot, weit auf See!«

Damit deutete sie in höchster Erregung in die Ferne.

Es war wie sie sagte; Tommy saß im Boot, das aber war vom Strande abgetrieben und schaukelte jetzt eine Kabellänge vom Ufer entfernt mitten in der schäumenden Brandung des Riffs.

Schnell wie der Wind jagte Wilhelm davon, auf dem Fuße gefolgt von dem Vater und dem alten Rüstig; Frau Sebald und Juno liefen hinterdrein, die erstere bleich vor Schreck und Entsetzen; es war auch keine Minute Zeit zu verlieren, denn der Wind wehte seewärts und in kurzer Zeit mußte das Boot ins offene Meer hinausgetrieben sein.

Am Strande angelangt warf Wilhelm Hut und Jacke ab und rannte in das Wasser hinein. Schon reichte ihm die Flut bis zur Leibesmitte, als der alte Rüstig, der ihm gefolgt war, ihn beim Arm ergriff.

»Augenblicklich gehst du zurück!« herrschte der Alte den Knaben an. »Du begiebst dich umsonst in Gefahr, denn du weißt nicht, was hier zu thun ist; wenn einer noch helfen kann, dann bin ich es. Geh zurück, Wilhelm, ich bestehe darauf! Es sollen hier nicht zwei Leben umsonst aufs Spiel gesetzt werden! Herr Sebald, rufen Sie Ihren Sohn, befehlen Sie ihm, daß er umkehrt! Ihnen wird er gehorchen.«

»Wilhelm,« rief der Vater, »Du kommst auf der Stelle ans Land, ich befehle es dir!«

Der Knabe gehorchte; noch ehe er das Wasser hinter sich hatte, war Rüstig bereits bis zu den ersten Felsen des Riffs hinausgeschwommen und eilte nun durch das hochaufschäumende seichtere Wasser zwischen den Klippen auf das Boot zu.

»O, Vater!« rief Wilhelm, die Hände ringend, »wenn der gute alte Mann sein Leben verliert, dann kann ich mir niemals wieder verzeihen! Es ist mir als hätte ich unrecht gethan, dir zu gehorchen! Sieh doch, Vater, o sieh doch – zwei, drei, vier Haifische hier dicht am Strande! Er ist verloren, es giebt keine Rettung für ihn! Jetzt stürzt er sich wieder ins tiefe Wasser! O, lieber Gott, beschütze ihn! O, Gott im Himmel, erhöre mein Gebet!«

Sebald, dessen Frau jetzt an seiner Seite stand und schaudernd den Vorgang beobachtete, hatte, einen kurzen Blick auf die Haie abgerechnet, kein Auge von seinem alten Freunde da draußen in der schäumenden Brandung abgewendet. Wenn Rüstig glücklich durch den Streifen tiefen Wassers gelangte, dann konnte er als gerettet angesehen werden, da das Boot jetzt in dem flachen Wasser von einer der Außenklippen angehalten wurde. Es war ein Augenblick der äußersten Spannung und höchsten Angst. Mit kräftigem Arm durchschwamm der alte Seemann den breiten Wasserstreifen – jetzt ergriffen seine Hände die zackige Klippe – jetzt kletterte er an derselben aufwärts.

»Ist er gerettet?« fragte Frau Sebald mit schwacher Stimme.

»Ja, ich glaube und hoffe es,« erwiderte ihr Gatte, tief aufatmend, denn Rüstig hatte auf dem Felsen Fuß gefaßt, wo das Wasser ihm nur bis an die Knöchel ging. »Er hat jetzt kein tiefes Wasser mehr zwischen sich und dem Boot, wenn ich nicht sehr irre.«

In wenigen Augenblicken war Rüstig über die Felsen hingeeilt und hatte den Rand des kleinen Fahrzeuges ergriffen.

»Er ist im Boot!« jubelte Wilhelm. »Dank sei Gott.«

»Ja, danken wir Gott, und zwar aus tiefstem Herzen,« sagte der Vater. »Schau nur diese Ungeheuer,« fuhr er fort, indem er auf die Haifische deutete, »wie sie unruhig und erwartungsvoll hin und her schießen! Sie haben eine Beute gewittert; welch ein Glück, daß sie hier am Strande sind! Hätten sie doch ebenso gut dort draußen sein können, wo Rüstig das Wasser durchschwimmen mußte!«

»Ja, Vater, welch ein Glück!« rief Wilhelm. »Sieh, jetzt stößt er mit dem Bootshaken das Boot vom Riff ab und hinaus in das tiefe Wasser. O, nun ist er gerettet!«

Des Knaben Freude aber war verfrüht. Das Boot, ohnehin schon leck, hatte bei dem Herumwerfen auf den spitzen Klippen ein Loch im Boden davongetragen und kaum befand es sich im tiefen Wasser, da begann es sich mit reißender Schnelligkeit zu füllen. Rüstig arbeitete aus Leibeskräften mit seinen Bootshaken, und um das Sinken des Bootes zu verzögern, riß er sich das Halstuch ab und verstopfte damit das Loch, so gut es gehen wollte. Das war der beiden Rettung; schon hatte sich das kleine Fahrzeug bis an die Duchten mit Wasser gefüllt, und die geringste unvorsichtige Bewegung Rüstigs oder auch des kleinen Tommy hätte es unfehlbar zum Sinken gebracht. Noch war die ganze Entfernung durch das tiefe Wasser zwischen dem Riff und dem Strande zurückzulegen, wo die Haie gierig herumstreiften.

Mit schnellem, geübten Blick hatte der alte Rüstig die Gefahr erkannt und mit aller Kraft seiner Lungen rief er den am Strande Stehenden zu, große Steine nach den Ungeheuern zu werfen, damit dieselben verscheucht würden. Vater Sebald und Wilhelm folgten sogleich dieser Weisung, auch Juno half nach Kräften und sogar die Mutter, deren Mut durch diese neue Gefahr angespornt wurde, beteiligte sich an dem allgemeinen Steinwerfen.

Die Wirkung dieser Maßregel blieb nicht aus. Die Haie zogen sich zurück und der Steuermann trieb mit seinem Haken das Boot glücklich bis in die nächste Nähe des Ufers, wo es sich im letzten Moment noch vollfüllte und wegsank.

Rüstig ergriff Tommy und watete mit langen Schritten aufs Trockene, wo er den Jungen auf einen Stein niedersetzte.

Tommy war noch so entsetzt über den Verlauf, den seine Seefahrt genommen hatte, daß er keinen Laut hervorbringen konnte; bleich und regungslos saß er auf seinem Stein und starrte offenen Mundes und stieren Blickes ins Leere.

»Dank sei Gott, daß Sie gerettet sind!« rief Wilhelm und warf sich weinend in die Arme seines alten Freundes.

Während einiger Augenblicke redete keiner ein Wort, dann aber traten Vater Sebald und seine Frau herzu, erfaßten Rüstigs Hände und drückten sie tiefbewegt. Aus Rüstigs Armen eilte Wilhelm in die seiner Mutter, die, jetzt endlich von der schrecklichen Erregung überwältigt, ihren Kopf auf ihres Sohnes Schulter neigte und in Thränen ausbrach. Juno, die den alten Rüstig mit ihrem freundlichsten und zärtlichsten Grinsen angesehen hatte, nahm Tommy bei der Hand und ging mit ihm ab.

»Komm nur, Massa Tommy,« schalt sie auf diesen ein, »abscheuliches, nichtsnutziges Schlingel! Warte nur, heute abend Peitschenhiebe, wenn Arbeit vorbei, aber mächtig!«

Diese Aussicht gab dem Jungen die Stimme wieder; er brach in ein jämmerliches Geheul aus und ließ sich von der Negerin fortziehen wie ein Kalb, das zur Schlachtbank geführt wird.

»Das wäre bei einem Haar schlimm abgelaufen,« sagte Rüstig zu Wilhelm, als sie miteinander dem Hause zuschritten. »Wieviel Unglück doch durch die Gedankenlosigkeit eines solchen kleinen Jungen angerichtet werden kann! Andrerseits aber kann man auch nicht erwarten, daß ein Kind den Verstand alter Leute besitzen soll, und aus diesem Grunde muß man dem Massa Tommy die vorwitzige Seefahrt wohl verzeihen.«

»Ja,« meinte Wilhelm, »denn durch seine entsetzliche Angst ist er genug bestraft und ich stehe dafür, daß er fürs erste nicht wieder allein in das Boot geht.«

»Das glaube ich auch; aber nun beantworte mir eine Frage, lieber Wilhelm; du hast gesehen, wie wir in dem Boote noch soeben den Strand erreichen konnten; wenn du nun statt meiner die Schwimmfahrt unternommen hättest, glaubst du, daß du imstande gewesen wärst, in dem sinkenden Fahrzeug ebenso weit zu kommen wie ich?«

»Nein, Papa Rüstig, daran ist gar nicht zu denken; es wäre mir niemals eingefallen, mein Halstuch in das Loch zu stopfen, aber selbst wenn ich dies zugeben wollte, so hätte ich das Boot ohne ein Ruder und nur mit der Hakenstange doch nimmermehr so schnell und geschickt fortbewegen können wie Sie, und wir wären sicher schon untergegangen, noch ehe wir die Mitte der Bucht erreicht hätten.«

Der Alte nickte lächelnd.

»So wäre es gekommen,« sagte er. »Ich bin ein alter Seefahrer, du aber nicht, deshalb ist es auch nicht Eitelkeit von mir, wenn ich meine, daß ich ein Boot besser zu führen verstehe als du. Da aber mir das Fahrzeug schon unter den Füßen wegsank, ehe ich noch völlig das Ufer erreicht hatte, so wäre dir dies schon draußen in der Bucht passiert; daran ist gar nicht zu zweifeln. Ich erwähne dies nur, um dir zu beweisen, daß ich im Rechte war, als ich deinen Vater aufforderte, dich zurückzurufen.«

»Das kann und werde ich nicht bestreiten, Papa Rüstig,« entgegnete der Knabe mit Wärme; »aber Tommy ist mein Bruder und es war eher meine Pflicht, als die Ihre, das Leben für ihn zu wagen.«

»Schon recht, mein Junge, aber du hast noch andere Pflichten, und zwar die, deinem Vater und deiner Mutter eine Stütze und ein Trost zu sein. Auch ist dein Leben viel wertvoller als das meine. Ich bin ein alter Mann und stehe am Rande des Grabes und ein Jahr mehr oder weniger macht bei mir keinen Unterschied. An deinem Leben ist mehr gelegen; denke doch, welcher Schmerz und welche nie versiegende Quelle des Grams wäre es für deine Eltern gewesen, hättest du hier vor ihren Augen ein so schreckliches Ende gefunden!«

»Aber lieber Papa Rüstig, meinen Sie denn, der Schmerz meiner Eltern wäre geringer gewesen, wenn Sie umgekommen wären?«

»Ich glaube wohl, daß ihnen dies im Anfang recht weh gethan haben würde, aber mit der Zeit hätten sie es vergessen, obgleich Tommys Verlust ihnen auch schweren Kummer verursacht hätte; aber zwei Söhne zu verlieren, wovon der älteste so zu sagen schon herangewachsen war, das wäre ein harter Schlag gewesen, den sie nur mit Hilfe ihrer aufrichtigen Frömmigkeit in Ergebung zu tragen vermocht hätten. Da aber sind wir am Hause, laß uns nun davon schweigen.«


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