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7

Den ganzen Tag über hatte Wera Alexejewna an Boris gedacht, mit sich gekämpft und endlich beschlossen, ein Zusammensein unter vier Augen herbeizuführen. Am nächsten Vormittag kehrte der Fürst aus der Stadt zurück, seine Tochter würde ihn abholen … Frau Kostizina ging zu ihr, sprach an der Tür nach Art der Mönche in singendem Tonfall den Eintrittsspruch:

»Um der Fürbitte unserer Heiligen willen sei uns gnädig, o Herre Jesu Christ …«

Darauf konnte sie aber nicht länger an sich halten und brach in ein Lachen aus. Hinter der Tür rief die Prinzessin, ebenfalls lachend:

»Amen, Wera Alexejewna, amen!«

»Kommen Sie, Prinzessin, lassen Sie uns ein wenig auf der Treppe vor der Herberge sitzen … Übrigens – Sie holen Ihren Vater morgen wohl von der Bahn ab?«

»Natürlich, er kommt um elf an.«

»Mein liebes Kind, nehmen Sie Sinotschka mit sich.«

»Kommen Sie denn nicht auch mit?«

»Ich bin nicht ganz wohl.«

»Dann täten Sie am besten, sich auf zwei Tage hinzulegen. Ich bin immer ganz krank, wenn ich unwohl bin. Sinotschka nehme ich natürlich gern mit.«

 

Sie saßen auf der Treppe, bis es dunkel wurde. Ringsum hockten und standen Gäste, Geistliche und ihre Frauen, Novizen. Die junge Frau des Bewahrers der Kirchengeräte suchte die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; erregt berichtete sie von einer Wundertat des Klostergründers Simeon; ein Mönch hatte ihr die Begebenheit erzählt.

»Es scheint kaum glaublich, meine Herrschaften, aber der Mönch war selbst dabei, als der Knabe aus der Menge rief: ›Mama, Mama!‹ Doch ich will alles der Reihe nach erzählen … Also einer Mutter war ihr Kind abhanden gekommen; man nahm an, daß Zigeuner den fünfjährigen Knaben entführt hätten. Auf einem Jahrmarkt gab die Mutter einem Pilger ein Almosen, und der alte Mann sagte: ›Du hast Kummer, Mütterchen, schweren Kummer; was bedrückt dich?‹ Unter Tränen stammelte die Frau: ›Mein Junge, mein Mitja ist verschwunden, so ein liebes, hübsches Kind! …‹ Da riet ihr der Greis, zu Fuß nach dem Kloster Belobereshsk zu pilgern und am Grabe des Starez Simeon eine Messe lesen zu lassen; der Starez sei ein großer Wundertäter und würde ihr bestimmt helfen. Die Frau folgte dem Rat, und als sie nach der Messe am Grabe des Starez zu der Waldlichtung wanderte, wo Simeon gelebt hatte, sah sie einen ehrwürdigen weißhaarigen Greis mit einem langen handtuchförmigen Bart, der ihm bis über den Gürtel hinabwallte, auf sich zukommen. Die Erscheinung konnte niemand anderes sein als der Starez Simeon selbst, der sich schon oft Leidgebeugten gezeigt hat. Wie erstarrt blieb die Frau stehen, der Starez aber trat auf sie zu und sagte mit denselben Worten wie jener Pilger: ›Du hast Kummer, Mütterchen; dein Herz blutet.‹ Die Frau brach in Tränen aus. ›Wo ist Mitja, mein kleiner Mitja? …‹ Der greise Starez stand vor ihr, auf seinen Krückstock gestützt, ergriff ihre Hand und sagte, sie solle Plätze, Märkte und Klöster zur Kirchweih besuchen und überall einem Pilger ein großes rundes Brezelchen mit der Bitte geben, der Pilger möge für das Wohl des kleinen Mitja beten; vierzig Brezelchen sollte sie mit auf die Wanderschaft nehmen. Darauf wandte sich der Starez um und ging in den Wald hinein. Reglos blickte sie ihm nach. Und stellen Sie sich vor – ein Storch kam geflogen, verneigte sich vor dem Greis und schritt ihm nach wie ein Novize! Ist das nicht ein Wunder? Fürwahr, der Starez Simeon ist ein Heiliger, ein Vogel folgte ihm als demütiger Dienstbruder … Die Frau rieb sich die Augen, kam zu sich – verschwunden waren Vogel und Starez! Es war eine Erscheinung gewesen. Sie trank Wasser aus dem Brunnen des Heiligen, wusch sich und begab sich auf die Wanderschaft, nach dem Worte des Starez.«

Der Herbergsvater Iona an der Tür seufzte und sagte leise:

»Fürwahr, er wirkt Wunder, unser Starez Simeon …«

Die Prinzessin fragte erregt:

»Hat denn aber die arme Mutter ihr Kind wiedergefunden?«

»Das ist ja gerade das Wunderbare, meine Herrschaften … Sie hat es gefunden! Wie sollte man da nicht glauben! Und wissen Sie wie? … Lange war die Frau durch die Welt gewandert, achtunddreißig Brezelchen hatte sie bereits verteilt, nur zwei waren übriggeblieben. Sie kam in das Kloster Odrin und dort riet ihr ein Mönch, ins Kloster Belobereshsk zu pilgern, um hier zur Gottesmutter zu beten. Sie tat, wie er ihr geheißen, und traf zur Kirchweih hier ein. Das ganze Kloster war voll von Wallfahrern, Pilgern, Bettlern. Sie kam zur heiligen Pforte und reichte einem Bettler das letzte Brezelchen. Wissen Sie, meine Herrschaften, es liegt etwas Geheimnisvolles darin: sie hatte einen Kreis beschrieben: hier hatte sie das erste Brezelchen verschenkt und hier reichte sie nun das letzte einem Darbenden! Und auch das ist ein Zeichen, daß sie Brezeln verteilen sollte, denn auch die Brezelchen haben ja die Form eines Kreises! Sie reichte also das letzte Brezelchen einem Pilger und sprach mit brechender Stimme die Bitte aus, die der Starez ihr geboten hatte. Man muß sich den Zustand der unglücklichen Mutter vorstellen: es war das letzte Brezelchen, das sie aus der Hand gab; damit schwand jede Hoffnung! … Schluchzend rief sie: ›Bete um das Wohl des kleinen Mitja, meines kleinen Mitja …‹ Und in diesem Augenblick ertönte hinter ihr aus der Menge der Schrei: ›Mama, Mama! Nimm mich zu dir, hier bin ich, hier …‹ Sie wandte sich um, stürzte auf ihr Kind zu … Es war in Lumpen gehüllt, abgezehrt und – o Entsetzen! – blind auf einem Auge! Zwischen entzündeten Lidern blickte nur das Weiße des Auges hervor, von roten Äderchen durchzogen. Sie drückte die kleine Jammergestalt an sich, küßte und herzte ihr Kind. ›Mitja, mein kleiner Mitja! Habe ich dich wieder …‹ Vor aller Augen war es geschehen, die Menschen scharten sich erregt um die Beiden. ›Wo warst du denn, mein Liebling?‹ – ›Bei einem Onkel, Mama.‹ Dabei drückte sich Angst und Schreck auf seinem Gesicht aus, der Knabe zitterte am ganzen Leibe und bat weinend: ›Laß mich, laß mich, ich muß wieder zu ihm, sonst wird er böse …‹ Sie sah sich um, die Leute wichen auseinander, man suchte nach dem ›Onkel‹, aber er war in der Menge verschwunden. Die Mutter brachte das Kind zur Grabstätte des Starez, bat, sofort eine Messe zu lesen, und erzählte den Mönchen die wunderbare Geschichte. Dann ging sie mit dem Kind in ihr Zimmer in der Herberge, der Knabe drückte mit den Fingern auf das blinde Auge, es drehte sich um, kehrte in seine frühere Lage zurück, und das Kind konnte wieder auf ihm sehen! Die Mutter bekam einen Weinkrampf; auch das habe der Starez Simeon vollbracht, stammelte sie. Der Knabe aber sagte: ›Der Onkel hatte mir das Auge so verdreht, damit die Leute uns reichlicher Almosen gäben …‹ Entsetzlich! Aber ein Wunder ist es doch, daß sie ihr Kind auf solche Weise wiedergefunden hat.«

Wera Alexejewna war zusammengeschauert und rief erschüttert – es klang wie ein unterdrückter Schrei –:

»Gott, wie grauenhaft! Das arme Kind … Ich kann gar nicht daran denken …«

Sie stand auf und ging ins Haus. Die Prinzessin eilte ihr nach.

Der Herbergsvater Iona sagte abschließend:

»Dieses Wunder des Starez Simeon hat die Bruderschaft zusammen mit den Aussagen der Zeugen und der Mönche, die dabei waren, in ein besonderes Buch eingetragen.«

 

Wera Alexejewna, die die Geschichte von dem unglücklichen Knaben seltsam erregt hatte, erzählte Sina fast weinend von dem Wunder.

»Wie entsetzlich, Sina! Stell' dir das vor: Scharen von Wallfahrern, Bauern, Krüppel, Bettler, Mönche, Lärm, singende und bettelnde Stimmen, das verkrüppelte Kind, die unglückliche Mutter – und das heißt dann ein Wunder! Ein Grauen kommt mich an, wenn ich daran denke …«

»Aber die Geschichte ist doch gewiß nicht wahr, Wera Alexejewna, kann nicht wahr sein.«

»Doch, ich habe hier solche verkrüppelte Bettler gesehen, und die Mönche – sind sie nicht alle seelische Krüppel? Und Boris? Ein lieber Junge aus gutem Hause … und seelisch verkrüppelt! Er fürchtet sich, einen Menschen anzusehen, ein Wort zu sagen, ist menschenscheu, weltentfremdet … In jeder Frau sieht er, wie alle hier, den Verführer, den Satan … Zerrüttet sind seine Gesundheit, sein Körper, seine Seele durch Fasten und Kasteien. Auch er ist solch ein gestohlenes und verkrüppeltes Kind.«

»Aber er glaubt doch.«

»Ein solcher Glaube ist eine Krankheit. Er müßte fort von hier, eine Kur durchmachen, im Süden, im Ausland, das Leben sehen, es kennenlernen, unter Menschen kommen, lieben, kämpfen, arbeiten … Hier verkommt er, geht zugrunde …«

»Ach, wenn man ihn retten könnte! Ich weiß ihn nicht zu nehmen, er hat Angst vor mir … Ich bin wohl noch zu unerfahren. Helfen Sie mir, Wera Alexejewna!«

 

Frau Kostizina verbrachte eine schlaflose Nacht. Sie starrte auf die weißgraue Decke, und ihre Gedanken drehten sich um Andrej Lasarew, um den entführten und verkrüppelten Knaben, um Boris, und ein unerklärliches Grauen quälte sie … Erst gegen Morgen schlummerte sie mit dem festen Vorsatz ein, Boris zu retten. Aber noch in ihrem unruhigen Halbschlaf verfolgten sie dunkle, bedrückende Vorstellungen und Bilder. Als sie aufstand, glänzten ihre Augen fiebrig. Aus jeder ihrer Bewegungen sprach Spannung und Entschlossenheit. Sie wusch sich mit kaltem Wasser Gesicht, Hände, Arme, steckte ihr Haar mit zwei Haarnadeln zu einem Knoten auf, hüllte sich in einen Schlafrock und legte sich wieder aufs Bett, über das sie die Decke gezogen hatte.

»Sinotschka, mir ist nicht wohl … Ich gehe heute nirgends hin.«

Es klopfte, und die Prinzessin trat ein, hoch und schlank, in einem weißen Kleide; sie hatte braunes Haar, eine etwas gebogene Nase mit außerordentlich feinen rosigen Flügeln, die fast durchsichtig schienen; sie war leicht parfümiert; der Farbstift hatte ein wenig nachgeholfen, um die schmalen Augenbrauen und Lippen stärker zu betonen. Scherzend sagte sie:

»Was ist mit Ihnen? Hat Sie am Ende das Wunder so mitgenommen?«

»Mir ist nicht wohl.«

»Verzeihung, Liebste, ich hatte es vergessen. Und Sinotschka? Ist sie auch von diesem Unwohlsein befallen?«

Sina errötete, antwortete verlegen:

»Ich bin ganz gesund, Valeria Sergejewna …«

»Prächtig! Also kommen Sie mit? Wir holen Papa ab. Durch den Wald gehen wir zum Bahnhof, Begleiter werden sich finden, wenn es auch nur Mönche sind.«

Sie warf Wera Alexejewna einen forschenden Blick zu, als spürte sie mit feinem Fraueninstinkt, daß es sich hier um etwa anderes handelte, und sie konnte sich denken, um was; nicht umsonst hatte ihre Freundin bereits am Tage vorher durchblicken lassen, daß sie allein bleiben wollte.

 

Frau Kostizina blieb noch eine Weile liegen. Hartnäckig, bohrend arbeitete in ihr der Gedanke, es müsse gleich, unverzüglich geschehen, nachher würde es zu spät sein. Was eigentlich geschehen müßte, was sie sagen, was tun würde, wenn er eintrat, war ihr selbst noch nicht klar; sie gab sich keine Rechenschaft darüber. Im Unterbewußtsein wirkte noch die Geschichte von dem unglücklichen Knaben, die – was sie sich nicht recht erklären konnte – sie so tief beunruhigt hatte und die sie vielleicht darum irgendwie mit Boris zusammenbrachte. Mit verzweifelter Entschlossenheit erhob sie sich schließlich, sann einen Augenblick nach und schritt dann langsam zur Tür. Sie drückte auf die Glocke, meinte das Klingelzeichen unten zu hören; dann kam jemand eilig die Treppe herauf. Erschrocken setzte sie sich auf einen Stuhl. Wartete. Das Eintrittsgebet erklang hinter der Tür, ein leises Klopfen … Mühsam sagte sie:

»Herein …«

Sie saß am Tisch, sah Boris an, fing seinen klaren Blick auf und fühlte sich erleichtert.

»Darf ich Sie um den Samowar bitten?«

Sie hatte seinen Namen nicht genannt. Während sie auf seine Rückkehr wartete, preßte sie eine Hand gegen die Brust; ihr Herz schlug so heftig, daß es schmerzte.

Boris brachte auf einem Tablett blaugeränderte Tassen, darauf auch den Samowar. Der Novize Michail war ihm heimlich gefolgt und lugte durch das Schlüsselloch …

Der Abt hatte dem Herbergsvater zwei zuverlässige Novizen zur Aushilfe gesandt und ihnen eingeschärft, Augen und Ohren offenzuhalten, wenn nötig auch an den Türen zu lauschen und herauszubringen, was die Gäste über das Kloster sprachen, vor allem über die Verpflegung, um etwaige Beanstandungen und Wünsche berücksichtigen zu können. Boris wurde als Adliger und Student, der dazu noch auf Anordnung des Abtes die vornehmsten Gäste bediente, weil er zu denselben Kreisen gehörte, von den übrigen Novizen gehaßt, die darum jeden seiner Schritte belauerten …

»Ich habe auf Sie gewartet, Borja; ja, auf Sie. Sie werden jetzt nicht gleich wieder fortgehen. Sehen Sie mich an, ich bin ebensolchein Mensch wie Sie, Sie aber würdigen mich niemals auch nur eines Blickes! Weichen Sie nicht so ängstlich zurück, nehmen Sie Platz. Ich will Ihnen kein Leid zufügen.«

Er antwortete unruhig, mit leiser Stimme:

»Es ist uns verboten, in den Zimmern der Gäste zu verweilen.«

»Bei mir ist das etwas anderes, Borja. Ich werde Sie einfach Borja nennen, wie früher, denn für mich sind Sie kein Mönch, sondern Borja Smoljaninow. Also setzen Sie sich, sonst müßte ich Sie bei den Händen nehmen und zu einem Stuhl führen. Sie wissen doch, daß Sie sich bei mir und bei der Prinzessin ganz frei fühlen können. Wenn jemand Sie anschwärzen sollte, so stehe ich für Sie ein; niemand soll Ihnen ein Haar krümmen. Sie können ganz ruhig sein.«

Er setzte sich seitlings an den Tisch, ließ die Arme hängen und blickte auf den Fußboden; ohne den Kopf zu heben, hörte er ihr zu. Er fühlte sich bedrückt, atmete schwer und langsam.

»Ich gieße Ihnen eine Tasse Tee ein … Trinken Sie, während ich spreche.«

Mechanisch nahm er die Tasse in Empfang, legte keinen Zucker in den Tee, rührte ihn nicht an.

»Warum sind Sie hier, Borja? … Wissen Sie denn nicht, daß das Leben da draußen ist, bei uns, in den Städten und Dörfern? Hier ist doch alles tot, und auch Sie sucht man bei lebendigem Leibe abzutöten, dazu peinigt man Sie noch in häßlicher Weise. Sie merken es nicht, aber Sie haben bereits das Aussehen eines halb zu Tode Gequälten. Warum stecken Sie in diesem schwarzen Sack, diesem Leichengewand – brrr …«

Schmerzlich berührt, verletzt, rief er:

»Ich fühle mich hier wohl; ich glaube, ich bete …«

»Das können Sie überall tun, Borja … Sagen Sie mir die Wahrheit: Sie haben geliebt? Und sie ist gestorben? Ich weiß …«

»Ja … Gestorben …«

»Aber dann ist noch etwas geschehen, was? Sie studierten … Und Sie haben ein anderes Mädchen liebgewonnen? Und sie hat Ihre Liebe wohl nicht erwidert, ist Ihnen untreu geworden? … Sie armer Junge … Und da sind Sie dann ins Kloster geflüchtet? … Und hier gehen Sie nun zugrunde …«

Wera Alexejewna schritt erregt im Zimmer auf und ab, zwischen Tür und Fenster. Boris saß mit gesenktem Kopf auf seinem Stuhl, die langen Haare fielen nach vorn, verdeckten sein Gesicht.

»Wie soll ich Lebenslust, Liebe zum Leben in Ihnen erwecken? Helfen Sie mir ein bißchen … Ich weiß, Sie leiden, aber wir alle leiden, Borja, wir alle. Sollten darum alle Menschen aus dem Leben flüchten, Borja? … Die Männer leiden durch die Frauen, die Frauen dadurch, daß sie Leid bringen … Aber die Frauen bringen nicht nur Leid, sie bringen auch Freude und Glück und Seligkeit, Borja, sie richten auf und wecken Lebenslust und Lebensmut … Wir sind da auf der Welt, um zu leben, Borja! Um zu leben, mit jedem Atemzug, mit jedem Herzschlag, gierig, nimmersatt! Verstehen Sie das, Borja?«

Er lauschte ihrer vor Erregung bebenden Stimme, und ihm wurde schwül und heiß, sein Herz schlug dumpf, er wollte fortgehen, nichts mehr hören, blieb aber sitzen, wie gefesselt, reglos, mit gesenkter Stirn. Auf ihre letzten Worte antwortete er:

»Nein, das verstehe ich nicht …«

»Aber Sie müssen, Sie sollen es verstehen … Denken Sie an Ihre alten Eltern, deren einzige Hoffnung Sie sind, Borja! … Es ist nicht wahr, daß das Leben schlecht und verderbt und verrucht und nichts als Sünde ist. Das Leben ist rein und sündlos, erst die Menschen bringen Sünde hinein, weil sie nicht selbstvergessen zu lieben verstehen, von falschen Hemmungen beeinflußt. Liebe ist rein, die Menschen aber, Ihre Mönche hier, nennen sie Sünde und Laster, verleugnen sie, verzerren und entstellen sie. Auch ich bin innerlich bereits verzerrt und verkrüppelt, aber meine Seele lebt noch und leidet und hofft. Und wenn mir das Leben auch nicht mehr zu geben vermag, was mein eigentliches Leben ist, so steht Ihnen ja doch die ganze Welt offen, und ich will Sie dem Leben zurückgeben … Nur die Frau kann die Seele des Mannes ins Leben zurückführen, durch ihren Leib der erstarrenden Seele neues Leben einflößen. Die Seele des Weibes ist aufgelöst in ihrem Körper, ihr Leib drängt zum Leben, ihr Herz treibt das Blut heiß durch die Adern, und in diesem heißen Blut sehnt sich und schmachtet ihre gefesselte Seele, bis die Seele des Mannes sie erlöst.«

Wera Alexejewna blieb am Fenster stehen, starrte einen Augenblick hinaus, ohne daß ihre Augen etwas sahen, trat dann mit schnellen Schritten auf Boris zu. Sie kniete neben ihm nieder, legte ihren Kopf auf seine Knie und suchte, die Arme um seinen Leib geschlungen, ihm in die gesenkten Augen zu blicken. Ihr Haar, das sie flüchtig aufgesteckt hatte, löste sich und rieselte herab, zwei Haarnadeln fielen zu Boden.

Erschrocken zog Boris seine Hände von den Knien, preßte sie an die Brust und schloß die Augen.

»Borja, mein lieber Junge, wachen Sie auf, wenden Sie sich, wenn auch nur auf einen Augenblick, dem Leben zu! Wenn Ihre Seele erschauert, Ihr Herz heißer pocht, so ist das schon die Stimme des Lebens, das wieder in Ihnen erwacht … Kranken, Geschwächten, Sterbenden flößt man Blut eines anderen Menschen in die Adern, und sie leben wieder auf, gesunden, freuen sich ihres Lebens. Und so will auch ich meine Seele, meinen Leib in Sie hineinströmen. Ich leide um Sie, weil Sie leiden … Borja! …«

Er spürte die Wärme ihrer Brust, ihrer Arme, der aufreizende Duft ihres Haares verwirrte ihn, ein Schwächegefühl überkam ihn, seine Kehle preßte sich zusammen. Sein Kopf war leer, er konnte nicht denken, dumpfes Entsetzen schlug ihn in Bann, so daß er sich nicht regen konnte. Er versteckte das Gesicht in den Händen, ohne die Arme von seiner Brust zu lösen.

Das Herz der jungen Frau schlug immer heftiger. Vor Erregung versagte ihre Stimme, sie sprach fast flüsternd, abgerissen, von der Angst übermannt, er könnte sie zurückstoßen, aufstehen und wortlos fortgehen. Diese Vorstellung barg in diesem Augenblick etwas so tief Verletzendes, daß ihre Arme seinen Leib krampfhaft umklammerten, um ihn am Aufstehen, an jeder Bewegung zu hindern. Da ihre Brust fest an seine Knie gedrückt war, stockte ihr der Atem; sie rang nach Luft. Ihre Haare fielen ihr auf die nackten Schultern, in den Brustausschnitt, kitzelten sie, sie wollte sie zurückstreifen, fürchtete aber, sich zu bewegen. Das Blut hämmerte in ihren Schläfen. Sie sagte mit geschlossenen Augen, vor denen sich rote und schwarze Kreise drehten:

»Borja, Sie sehen … Jetzt, gleich … Borja …«

Plötzlich lösten sich ihre Arme, ihr Kopf stürzte zurück, sie sank auf den Fußboden, ein unterdrücktes Schluchzen schüttelte sie.

Er stand erschrocken auf, sah verstört auf sie hinab, hörte sie stammeln:

»Helfen Sie mir … aufs Bett …«

Mit Anstrengung, ungeschickt, so daß er ihr weh tat, hob er sie auf. Trug sie stumm auf das Bett.

»Wasser, hier … Kaltes Wasser …«

Sie wies, den Schlafrock zurückstreifend, auf ihre Brust, zerriß den Spitzensaum des Hemdes, zerrte krampfhaft an ihren Brüsten.

Boris feuchtete im Wasserkrug ein Handtuch an.

Sie ergriff seine Hände zusammen mit dem nassen Handtuch und drückte sie gegen ihre Brust. Durch den Kopf huschte ihr der Gedanke: Einerlei … Mag geschehen, was will … Den anderen Arm schlang sie um seinen Hals. Es kam ihm so unerwartet, daß er taumelte; sein Kopf sank auf ihre Brust. Sie meinte, Leidenschaft habe ihn überwältigt, sein Leib sei verlangend zusammengezuckt, und zog ihn ungestüm an sich. Es strömte heiß durch ihre Glieder, als sein Kopf ihre Brust berührte; die Spannung trieb ihr leise Tränen in die Augen.

Ein Knäuel rollte ihm die Kehle herauf, er zuckte, Tränen netzten ihre Haut. Sie dachte, Verlangen jage Schauer durch seinen Leib, flüsterte:

»Borja, ich bin dein, nimm mich hin, nimm mich hin … Erwache zum Leben … Borja …«

 

Der Gang war leer. Michail starrte gierig, wie angeklebt, durch das Schlüsselloch; vor Lüsternheit zitternd sah und hörte er Dinge, die bloß in seiner Einbildung vor sich gingen. Er hatte gesehen, daß der »scheinheilige« Novize die junge Frau auf das Bett getragen hatte, und malte sich das Weitere aus.

Schritte ertönten auf der Treppe; er hörte das Lachen der Prinzessin und eine fremde Männerstimme. Mit einem Satz war Michail am Waschtisch, ergriff den Eimer mit schmutzigem Wasser und schritt an den Herrschaften vorbei die Treppe hinab.

Die Prinzessin sagte fröhlich:

»Sehen Sie, Valentin Viktorowitsch, wie schön es hier ist; und Sie wollten nicht kommen!«

Die Männerstimme antwortete in liebenswürdigem, etwas hartem Tenor:

»Ihrem Vater schlägt man nicht leicht eine Bitte ab …«

Sina sagte, um Barmanskij zu necken:

»Valentin Viktorowitsch liebt es, sich bitten zu lassen.«

»Es riecht hier sogar nach Weihrauch … Und von Ihnen geht ein Hauch von Heiligkeit aus, Sinotschka. Mir scheint …«

Sie näherten sich dem Zimmer 33, Barmanskij brach mitten im Satz ab und sagte lachend:

»Halt! Ich will Wera Alexejewna überraschen …«

Ehe die Prinzessin etwas sagen konnte, hatte er die Tür aufgestoßen und rief fröhlich:

»Ein unerwarteter Gast, Wera Alexejewna …«

Er brach ab, als er Boris und Frau Kostizina in verfänglicher Lage erblickte, fuhr aber sogleich, ohne jede Verlegenheit, in schneidend frechem Tone fort:

»Ach, pardon, ich sehe, wir stören …«

Damit wandte er sich an die Prinzessin und Sina, die gerade eintraten:

»Kommen Sie, meine Damen, hier scheint ein Drama vor sich zu gehen …«

Bei Barmanskijs ersten Worten war Wera Alexejewna, Boris' Kopf zurückstoßend, zusammengezuckt, aufgesprungen, hatte den Schlafrock über der Brust hastig zusammengerafft und sagte, an die Prinzessin und Sina gewandt:

»Keinerlei Drama geht hier vor, Valentin Viktorowitsch … Die Prinzessin weiß …«

»Ach so, Valeria Sergejewna ist mitbeteiligt … Niedlich das …«

Boris, dessen Gesicht, durch die Berührung des Frauenkörpers und durch Tränen erhitzt, in roten Flecken glühte, stand stumm und verstört da. Noch halb benommen, verstand er nicht, was um ihn geschah, was eigentlich gewesen war; seine Schultern zuckten noch.

Sina sah bald Frau Kostizina, bald Boris verständnislos an. Während Barmanskij langsam auf Smoljaninow zuschritt, bat Wera Alexejewna die Prinzessin im Flüsterton:

»Führen Sie Barmanskij in Ihr Zimmer. Entsetzlich, der arme Junge!«

Die Augen hinter dem Klemmer halb zusammengekniffen, die Hand an seinem schwarzen Spitzbärtchen, war Barmanskij auf Boris zugetreten und sagte, fortfahrend, zwischen den Zähnen hindurch:

»Niedlich das, für einen frommen Mönch …«

Und jäh aufbrausend, schrie er ihm voll Verachtung ins Gesicht:

»Hinaus mit dir!«

Sina war auf Boris zugeeilt, kam aber zu spät, um Barmanskij in den Arm zu fallen; sie umschloß Boris' Kopf mit ihren Händen; der Schlag traf ihre Hand.

Wera Alexejewna hatte vor Schreck die Augen geschlossen; als sie den Schlag hörte, schrie sie auf:

»O Gott, Prinzessin! …«

Valeria Sergejewna nahm Barmanskij zornig bei der Hand und führte ihn zur Tür.

»Valentin Viktorowitsch, was erlauben Sie sich! Entfernen Sie sich sofort.«

»Verzeihung, Prinzessin, aber es ist meine Pflicht, für die Ehre einer Dame einzutreten …«

Sie verließen zusammen das Zimmer.

Frau Kostizina hatte sich auf das Bett geworfen; ein Schluchzen schüttelte sie. Unter Tränen stammelte sie immer wieder:

»Da habe ich neues Leid auf ihn herabbeschworen …«

Sina, die noch immer Boris' Kopf hielt, flüsterte betreten:

»Was bedeutet das alles, Borja, armer Borja? …«

Er machte eine abwehrende Bewegung, entfernte ihre Hände, hob plötzlich die Lider und schritt, den verzückt strahlenden Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet, zur Tür; halblaut sprach er vor sich hin:

»Herr, freudig nehme ich die Prüfung auf mich. O Herr! …«

Sina blickte ihm lange nach. Sie konnte sich noch immer nicht zusammenreimen, was eigentlich vorgefallen war und wieso Wera Alexejewna unter diesen Umständen ihr ans Herz gelegt hatte, sich des unglücklichen jungen Mannes anzunehmen. Sie stand reglos, wie erstarrt, bis die Prinzessin wieder eintrat, um sie und Frau Kostizina zu dem Mittagessen in der Abtei abzuholen.

»Wera Alexejewna, Liebste, Sie wissen ja, was Barmanskij für ein altes Ekel ist! … Nehmen Sie sich zusammen und kommen Sie mit, Sie können nicht gut fortbleiben. Ich bin überzeugt, daß noch alles gut enden wird, ich will mich auch bei dem Bischof für Boris verwenden. Seine Eminenz ist so liebenswürdig und wird dem Jungen bestimmt vergeben.«

»Ich bin an allem schuld, Prinzessin.«

Frau Kostizina beschloß, zu dem Essen zu gehen, um Boris vor einer Strafe, einer Kirchenbuße zu retten; sie würde den Abt bitten, von ihm hing ja Boris' Schicksal ab. Sie zog sich schnell an und holte mit Sina die Prinzessin in ihrem Zimmer ab.

Barmanskij stürzte auf die beiden zu und küßte ihnen stürmisch die Hände.

»Um's Himmels willen, vergeben Sie mir! Ich weiß selbst nicht mehr, was in mich gefahren war … Ich wußte ja nicht … Bitte, seien Sie mir nicht böse …«

Wera Alexejewna lächelte belustigt; sie löste ihre Hände aus den seinen und sagte:

»Ich vergebe Ihnen, aber …«

Er ließ sie nicht zu Ende reden, sagte verbindlich:

»Alles, was Sie befehlen, will ich tun, Wera Alexejewna … Ich bin Ihr untertänigster Diener …«

 


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