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6

Die kleine Fenja wußte nicht, was tun, wo bleiben. Am liebsten hätte sie den Kopf unter das Kissen gesteckt, damit niemand sie sähe, und wäre liegengeblieben, ohne sich zu regen, ohne sich zu rühren, bis das schreckliche Gewitter vorüber war und wieder klare frische Luft um sie wehte.

Marja Karpowna kam vorüber, sah sie an, sagte gleichsam zu sich selbst:

»Ja, ja, Fenitschka, wie hattest du dir denn das gedacht? Hattest wohl gemeint, das Glück würde dir nur so zufliegen? … Auch ich habe einst tagelang so herumgelegen … Mach' nur keine Dummheiten, wenn die Mutter zurückkommt. Vielleicht wird noch alles gut.«

Spät am Abend kehrte Antonina Kirillowna zurück, küßte ihre Tochter und machte sich daran, die mitgebrachten Pakete zu öffnen und die Lebensmittel kalt zu stellen.

Am nächsten Morgen stand Fenja auf und setzte sich auf die Bank vor dem Häuschen in die Sonne, um ihrer Mutter nicht unter die Augen zu kommen.

Der Wald spann sie ein in sein Leben und Weben, warme Hauche durchzogen ihn, brachten allerlei Beeren zum Reifen; unter leichten Winden wurden sie prall und trocken, flimmernde Sonnenstrahlen malten ihnen rote Bäckchen. Die Luft, die aus dem Walde strömte, war ganz durchzogen von dem Duft reifer Beeren, und aus der Ferne klangen, von Fichte zu Fichte hüpfend, Wechselrufe beerensammelnder Frauen.

Volle Körbchen am Arm kamen die Frauen gemächlichen Schrittes vorüber, als hätten sie nicht soeben im Walde getollt und gelacht.

»Beeren gefällig?«

»Frische Walderdbeeren? …«

Die kleine Fenja ließ sich ihr Taschentuch vollschütten, bezahlte einen Zehner dafür. Saß still da, steckte eine Beere nach der anderen in den Mund, zuerst die kleinen, dann die großen, tiefroten.

Jeden Tag ging sie aus dem Gärtchen hinaus, setzte sich auf die Bank, damit ihre Mutter sie nicht sähe und frage, weshalb sie so still und schwermütig sei.

Die kleine Fenja wollte so gern mit ihrem Kolenka zusammentreffen, ihm in die Augen blicken, seine weichen braunen Haare streicheln, ihn leise küssen – dann würde es wieder so stürmisch in ihr aufsteigen, daß ihr ganz schwindelig wurde. Sie hoffte, er würde vorüberkommen, sie würden von ferne einen Blick wechseln. Viele Tage saß sie wartend auf der Bank; er kam nicht. Verlassen und verletzt fühlte sich die kleine Fenja.

Sie ging früh zu Bett, um den prüfenden Blicken ihrer Mutter auszuweichen und aus Furcht, sie würde einmal nicht an sich halten können, würde verzweifelt in Tränen ausbrechen. Seltsame Träume kamen ihr. Sie sah Nikolai an ihrem Hause vorübergehen, Nikodim kam ihr entgegen, bei dessen Anblick Nikolai stiere Augen bekam und vor Zorn oder Angst ganz schwarz im Gesicht wurde. Nikodim blieb stehen und sah seinerseits Nikolai finster und durchdringend an. Sie litt unter diesen Träumen, die meist gegen Morgen kamen. Sie erwachte, und es lag ein Druck, schwer wie ein Stein, auf ihrer Brust. Sie spürte das Verlangen zu weinen und zu fliehen, sich vor allen Menschen zu verkriechen, und ganz wirr waren ihre Gedanken. Auch von Afonka träumte ihr, und er hatte nicht mehr seine zottige Mähne, sondern sein Haar war kurz geschnitten und stand aufrecht wie die Stacheln eines Igels. Und aufs neue erschien Nikolai und starrte Afonka mit rollenden Augen und dunkelrot im Gesicht wütend an. Die kleine Fenja erwachte und erinnerte sich plötzlich ungemein klar und deutlich, wie sie mit Marja Karpowna und Afonka im vorigen Sommer bei der Klostermühle standen und auf die Rückkehr des Bootes warteten. Und jetzt kam der kleinen Fenja unerwartet in den Sinn, daß Afonka bemüht war, ihre Arme zu berühren; sie, noch ein kleiner Backfisch, hatte dabei nur gelacht, hatte nicht verstanden, nicht gespürt, warum er ihre nackten Arme über den Ellenbogen gestreichelt hatte, als sie, an Marja Karpowna gelehnt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt hielt. Afonka hatte, neben ihr stehend, ihre Oberarme umfaßt und mit Schulter und Kopf ihre Brust, ihren Hals zu berühren versucht. Sie spürte jetzt noch den Geruch seiner Kutte, seiner Haare, seines Atems: es war ein Gemisch von erlöschenden Wachskerzen, Weihrauch, von Öl in heiligen Lämpchen, von Schwarzbrot und frischen Zwiebeln. Dann hatte sie gespürt, wie seine breiten, groben Hände an ihren Armen kitzelnd herabgeglitten waren und ihre verschlungenen Finger zu lösen versucht hatten. Sie entsann sich, daß sie ausgelassen gelacht hatte – es war so komisch und kitzelig gewesen! Und auch Marja Karpowna hatte gelacht, denn während Afonkas Hände Fenjas Arme streichelten, hatte er wohl zugleich mit Arm und Ellenbogen Marja Karpownas Hüfte gestreift, denn Marja Karpowna hatte nervös gelacht und Schauer waren durch ihre Glieder gehuscht. Und als Afonka Fenjas Hände beinahe gelöst hatte, war das Boot ans Ufer gestoßen und ein bildschöner Mönch war auf sie zugetreten. Es war Nikolai. Und Marja Karpowna, Afonka und sie hatten verlegene Gesichter gehabt und waren errötet. Um der Verlegenheit ein Ende zu machen, hatte Afonka ihnen Vater Nikolai vorgestellt. Und seltsam, Fenja hatte den jungen Mönch mit den großen schwarzen Augen nicht mehr vergessen können. Vater Nikolai hatte die Herrschaften, mit denen er Boot gefahren war, nicht begleitet, sondern sich an Fenjas Seite gehalten, war, ohne ein Wort zu sagen, ins Boot gesprungen, hatte mit der Kelle das Wasser ausgeschöpft, Schilf, Stengel von Wasserrosen, Wasserlinsen über Bord geworfen und Fenja, Marja Karpowna und Afonka aufgefordert einzusteigen. Während der Fahrt hatte Nikolai fast gar nicht gesprochen, hatte gerudert und sie nur immer mit einem verschlagenen Lächeln angeblickt. Fenja war unter seinen Blicken errötet und hatte eifrig mit Afonka gesprochen … Wie klar stand diese erste Begegnung mit Nikolai noch vor ihr! Seitdem war er immer zusammen mit Afonka zu ihnen gekommen, und sie hatte sich gefreut, den schönen Mönch wiederzusehen … Wenn sie aus unruhigen Träumen erwachte, kam ihr immer dieser sonnige Tag in den Sinn, da sie zum ersten Male mit Nikolai zusammengetroffen war. So viel Unausgesprochenes, Unklares lebte und webte in ihr, und es bewegte sie schmerzlich, daß sie alles stumm in sich tragen mußte, zu niemandem darüber sprechen konnte, ja ihrer Mutter nicht einmal ihre Liebe zu Nikolai gestehen durfte. Wie ein ständiger Druck war dieses Lockende, Verheißende, Unausgelebte und dabei so Aussichtslose!

Nur Marja Karpowna wußte, wie es um die kleine Fenja stand, und wartete auf einen günstigen Augenblick, um mit Frau Grakina zu sprechen. Als sie aber eines Tages beschloß, am Abend mit Antonina Kirillowna zu reden, fügte es sich so, daß am selben Tage Nikolai selbst Fenjas Mutter seine Liebe gestand und um Fenjas Hand anhielt. Vielleicht hatte er damit alles verdorben. Von sich aus hätte er wohl noch einige Zeit gewartet, aber sein Freund Afonka hatte ihm den guten Rat gegeben, sich selbst an Frau Grakina zu wenden.

 

Eines Abends hatte Nikolai Vater Michail zum Dank für seinen Dienst damals Schnaps vorgesetzt und danach seinen Freund Afonka aufgesucht, um sich nach dessen Befinden zu erkundigen. Nikolai war halb betrunken und hatte noch eine halbe Flasche Branntwein mitgebracht.

Neben dem Vorzimmer in der Abtei befand sich eine kleine Kammer, eine Art Vorratskammer, mit einem winzigen Guckfenster nach dem Klostergarten; hier lag Afonka mit einem Verband über der Nase und träumte auch von der kleinen Fenja. Schon lange hatte er sich im Kloster nicht blicken lassen, um sich nicht den Spötteleien der Bruderschaft auszusetzen. Den ganzen Tag rekelte er sich in der halbdunklen Kammer auf seinem Lager, und um sich die Zeit zu vertreiben, fing er Fliegen, die ihn nicht schlafen ließen. Die toten Fliegen tat er fein säuberlich in eine Schachtel, in der einmal billige Bonbons waren, und vermerkte jeden Abend mit einem Stückchen Kohle die Anzahl der Tagesbeute an der Wand.

Erst gegen Abend ließ die Fliegenplage nach, dann lag Afonka mit geschlossenen Augen im Halbschlummer und malte sich in ohnmächtiger Wut aus, wie Nikolka die kleine Fenja in den Wald führe und ihr in heißem Flüsterton von seiner Liebe spreche, immer auf einen günstigen Augenblick lauernd, da er sie überrumpeln könne. Und sobald Afonka in seinen Gedanken bis hierher kam und sich vorstellte, wie Nikolka das junge Mädchen niederdrückte und auf das Moos sinken ließ, pochte sein Herz vor Wut und Erbitterung. Er konnte sich nicht damit abfinden, daß er die kleine Fenja an Nikolka hatte abtreten müssen, und hätte es wohl auch nicht dazu kommen lassen, wenn er durch seine Krankheit – die gebrochene Nase – nicht ans Haus gefesselt gewesen wäre. Er hoffte, daß jemand bei ihm vorsprechen und ihm Neuigkeiten über Fenja und Nikolka bringen würde. Der eine oder der andere Novize würde die beiden im Walde schon erspähen und ihm seine Beobachtungen mitteilen.

Er konnte den Tag im vorigen Sommer nicht vergessen, da er bei den Balken an der Mühle Fenjas Arme geliebkost und Frau Klimowa durch seine Berührungen geneckt hatte; immer noch spürte er Fenjas frischen Atem, der nach Ananas-Äpfeln geduftet hatte, und den Duft ihres Haares und ihrer Haut, der ihm wie das Aroma eines feurigen Weins zu Kopf gestiegen war, und sein Herz hallte in einer dumpfen Leere laut bei dem Gedanken, daß nicht ihm, sondern dem gierigen Nikolka beschieden war, diesen feurigen Wein zu schlürfen.

Er lag am Abend auf seiner Bank und dachte an Nikolka, als dieser eintrat; Afonka war erfreut über den Besuch.

»Ich bin gekommen, um mit dir Frieden zu schließen, Afon. Ich hätte besser getan, das Mädel dir abzutreten, wenn ich gewußt hätte, daß nichts dabei herauskommen würde!«

Freudig erregt blickte Afonka auf; am Ende war es Nikolka gar nicht gelungen, die kleine Fenja zu erringen! Neugierig, mit freundschaftlichem Spott warf er hin:

»Läßt dich nicht heran? Ha, das ist mir ein Mädel! Und ich hatte gemeint, es sei schon längst geschehen, du habest bereits das Siegelchen erbrochen …«

Und Afonka lachte leise; es war ein girrendes, frohlockendes Kichern.

Nikolai furchte die Stirn und erwiderte nichts. Stumm setzte er sich auf die leere Kerzenkiste neben Afonkas Lager und zog die Schnapsflasche aus der Kutte.

»Es drückt mir die Seele ab, Afon – ganz schwermütig bin ich geworden … Trinken wir eins gegen die trüben Gedanken! Ich weiß gar nicht, was ich nun tun soll. Es ist alles aus.«

»Was ist denn aus – hat dich dieses nicht herangelassen, so suche dir einfach ein anderes Mädel. Bloß daß du mich unnütz verunstaltet hast, ich kann mich nirgends zeigen – sie lachen mich aus! Selbst der Abt glaubt nicht daran, daß ich mir die Nase im Fluß an einem Stein zerschlagen habe. Es muß wohl jemand gehört haben, daß wir uns in die Haare geraten sind, und der hat es dem Abt gesteckt … Aber erzähle mir lieber was von der kleinen Fenja, ich möchte alles wissen … Daß du Schnaps mitgebracht hast, ist nett von dir, lange schon habe ich keinen getrunken.«

Nach Bauernart öffnete Afonka die Flasche, indem er den Flaschenboden gegen die flache Hand stieß; der Pfropfen flog heraus, Afonka kniff die Augen zusammen und trank glucksend.

»Ich bleibe liegen, Nikolka – mir ist im Kopf ganz wüst von der Stubenhockerei, du aber erzähle alles der Reihe nach.«

»Was gibst's denn da viel zu erzählen? Beeren haben wir zusammen gesammelt, wir beide ganz allein, und alles ging wie am Schnürchen: Ich sage dir, das ist kein fischblütiges Mädchen – den Atem verschlägt's einem, wie der Monopolschnaps hier! …«

»Also hast du doch das Siegelchen erbrochen? So rücke doch endlich mit der Sprache heraus!«

»Zum Weibe habe ich sie gemacht …«

»Nu?«

»Was denn, nu?! Geheult hat sie, na, ich habe sie tüchtig getröstet … Liebt mich – Stricke kann ich aus ihr drehen. Dann hat sie sich aber verplaudert, hat es dieser Klimowa gestanden, und nun ist alles zu Ende. Ich sage dir das in aller Heimlichkeit, Afon – daß du mir reinen Mund hältst.«

Afonka ächzte, erhob sich sogar halb auf seinem Lager, lehnte sich auf den Ellenbogen und starrte mit bohrendem Blick Nikolai an, als wollte er in sein Inneres dringen, um besser herauszubekommen, was sich hinter Nikolais Worten in seiner dunklen Seele verbarg.

»Sie war erschrocken, fragte, ob man davon nicht ein Kind bekäme, und da kam mir in den Sinn, sie wirklich schwanger zu machen – vielleicht gibt man sie mir dann, dachte ich. Die Klimowa aber hats an ihren Augen gemerkt – kennt die Sache aus dem ff! – und mich kommen lassen. Zuerst fiel sie über mich her, schließlich aber versprach sie, uns zu helfen.«

»Die ist die Rechte! Da kannst du lange warten. Sie wollte dich einfach los werden, glaube ihr nur nicht. Die ist geil wie eine Katze, und auf solche Weiber ist kein Verlaß, mein Lieber, nur schaden wird sie dir …«

Afonka neigte sich zu seinem Freund hinüber und sprach in eindringlichem Flüsterton vertraulich auf ihn ein. Dabei glommen böse Fünkchen in seinen halb geschlossenen Augen, was Nikolka in dem Halbdunkel aber nicht bemerken konnte.

»Ich will dir einen guten Rat geben, Nikolai: du selbst mußt die Sache in die Hand nehmen, trau der Klimowa nicht, traue keinem Weibe! Lauere der Mutter im Walde auf und gesteh ihr alles, offen und ehrlich wie bei der Beichte. Suche ihr Herz zu rühren, und wenn sie weich wird, dann lege los: Ihr Töchterchen, die kleine Fenja, ist meine Frau geworden, und ich will sie heiraten, bin ich doch jetzt schon vor Gott ihr Mann.«

»Womit soll ich denn anfangen? Ich kann doch nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen?«

»Dir braucht man doch nicht erst zu erklären, wie man das macht! Na, sagen wir, du erzählst ihr zuerst was über deine Vergangenheit, die mach' ein bißchen schön, dann sprich über deine Zukunftsaussichten, ein bißchen hochtrabend, na und dann lege los. Die Klimowa aber führt dich bestimmt bloß an der Nase herum. Eines schönen Tages sind sie dann alle ausgerückt, fort ist das Vögelchen, und du hast das Nachsehen.«

»Glaubst du das wirklich? Meinst du es auch ehrlich mit mir?«

»Da muß auch ich dich fragen, Nikolai: Bist du mein Freund oder bist du's nicht? Wenn du mein Freund bist, mußt du mir auch vertrauen. Daß wir uns mal geprügelt haben, macht doch nichts weiter aus, das kommt auch unter den besten Freunden vor … Mit der Wut hatte ich's bekommen, eifersüchtig war ich, wollte dir das Mädel nicht abtreten, jetzt aber ist das ja einerlei. Als Freund spreche ich zu dir – wende dich geradeswegs an die Mutter.«

Afonka berührte ihn sogar an der Schulter, blickte ihm fest in die Augen, und da glaubte ihm Nikolai, daß er es ehrlich meine.

 

Nun suchte er, Frau Grakina allein zu treffen. Zwei Tage lang lauerte er ihr auf, lief bald zur Einsiedelei, bald zur Königstanne, zum fernen Brunnen des Klostergründers, zu der alten Einsiedelei des frommen Starez – an all die Orte, wohin die Sommerfrischler Ausflüge zu machen pflegten; selbst das Mittagessen versäumte er, kaum sah er noch die Bruderschaft. Oft täuschte er sich, meinte Antonina Kirillowna zu sehen – zwischen den Stämmen flimmerte es –, lief der erspähten Gestalt nach, näherte sich ihr dann mit langen Schritten, aber immer wieder war es eine andere. Ärgerlich wandte er sich ab und verschwand aufs neue im Walde.

Einst eilte er nach dem Mittagessen nach der alten Einsiedelei, um nachzuschauen, ob sie nicht hingegangen sei. Da sah er sie auf dem Steg, der über das Flüßchen Swin führt, ein Handtuch über der Schulter – sie hatte gebadet und wärmte sich in der Sonne.

Frau Grakina lächelte ihm von fern freundlich zu.

»Warum besuchen Sie uns gar nicht mehr, Vater Nikolai?« richtete sie selbst das Wort an ihn. »Kommen Sie doch mal hin und holen Sie uns zu einem Spaziergange ab …«

»Ich möchte gern mit Ihnen über eine Angelegenheit sprechen, Antonina Kirillowna«, begann Nikolka entschlossen. »Vielleicht gehen wir ein wenig zurück, sonst langt die Zeit nicht … Und ich möchte es gleich vorbringen, ein anderes Mal fände ich wohl nicht den Mut dazu …«

Nikolai hatte die Stirn gefurcht und stieß die Worte kurz und schwer hervor, als ringe er sie sich mühsam ab. Sie bogen in eine junge Eichenschonung ein. Frau Grakina spitzte die Ohren und blickte ihm prüfend in die Augen, als schwante ihr Unheil.

»Ich will zu Ihnen sprechen offen und ehrlich, als wären Sie meine Mutter, als beichtete ich. Meine Mutter liegt schon lange im Grabe, auch mein Vater ist gestorben, ich habe niemand, dem ich mein Herz ausschütten könnte. So komme ich zu Ihnen, Antonina Kirillowna. Ich bin aus geistlichem Stande; mein Großvater und Urgroßvater waren Oberpriester, nur mein Vater fristete sein Dasein als armer Diakonus, zweimal ist unser Hof niedergebrannt, da konnten wir nicht mehr hochkommen, meine Mutter ist darüber gestorben …«

Nikolka stockte, grübelte, riß von einem Bäumchen einen trockenen Zweig, biß die dürren Sprößlinge ab, blieb stehen, wußte nicht, wie er fortfahren sollte, spuckte die Holzstückchen aus, als hinderten sie ihn am Sprechen.

»Ich stehe ganz allein in der Welt, Antonina Kirillowna, ganz allein. Ich bin ja nicht aus eigenem Antrieb ins Kloster gegangen, der Bischof hat mich hergesandt, ich sollte hier das Ritual lernen, nachher wollte mich Seine Eminenz dann zum Geistlichen erheben. Und nun bin ich hier schon so endlos lange … Als Achtzehnjähriger kam ich her, und jetzt sind seitdem bereits acht Jahre vergangen, als hätte sie ein dunkler Abgrund verschlungen. Ich bin ja noch nicht Mönch … Mir ist, als wäre ich in Sumpf, in Morast geraten – und finde den Weg nicht hinaus. Alles verschlingt der dunkle Abgrund.«

Frau Grakina konnte nicht verstehen, wo hinaus das sollte, und wurde unruhig. Vielleicht wollte er sie um seine Hilfe bitten oder ihr, der jungen Witwe, seine Liebe erklären, damit sie ihn tröste in seiner Einsamkeit. Und wirklich tat er ihr leid, sah sie doch, daß er litt; nicht Liebe, wohl aber Mitleid empfand sie mit ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte herzlich:

»Nun heraus mit der Sprache, was haben Sie?« Sie trat ganz nahe an ihn heran. »Reden Sie!«

»Ich liebe Fenitschka, liebe sie herzinniglich, Antonina Kirillowna …«

Hätte Frau Grakina ihm nicht die Hand auf die Schulter gelegt, so hätte er es wohl nicht gewagt. Als sie aber so warm zu ihm gesprochen hatte, machte er einen tiefen Atemzug, der ihm gleichsam durch alle Glieder ging, und da war es heraus. Nun sprach er hastig und überstürzt auf sie ein, aus Furcht, sie könnte ihn unterbrechen, ihm das Wort abschneiden. Er dachte in diesem Augenblick nicht an Fenjas reiche Mitgift, vielleicht darum nicht, weil ihn sein Geständnis ganz in Anspruch nahm und weil er sich hinaussehnte aus dem Hin und Her des Klosterlebens, hinaus in die freie Welt; so kam es, daß er aufrichtig sprach, so aufrichtig, wie vielleicht nie zuvor in seinem Leben. Wie ein Lichtstrahl durch ein frostbedecktes Fenster bricht, brach sich seine leidende Seele durch alle Hemmnisse hindurch, dem Licht entgegen.

Frau Grakina hob ihre Augen erstaunt zu ihm empor, der Strahl seiner Pupillen durchdrang die ihren und sank erstarrt in ihr kaltes Herz, schwer wie ein Stein, so schwer, daß ihr Atem stockte. Sie schwieg, und ihre kalten Augen schwiegen.

»Seit dem vorigen Sommer habe ich keine Ruhe mehr gefunden, den ganzen Winter über bis in das Frühjahr träumte mir von ihren Zöpfen und Augen. Ich konnte Ihre Ankunft gar nicht mehr erwarten! Endlich kamen Sie, und seitdem gehe ich wie verstört umher. Antonina Kirillowna, ich würde die Priesterweihen nehmen, der Bischof würde mich in die Stadt berufen … und ich würde Ihre Tochter auf Händen tragen. Ich will nichts, nichts, als nur die kleine Fenja! Nein, warten Sie, lassen Sie mich zu Ende sprechen, ich weiß ja, was Sie sagen wollen: Ein Mönch, ein Nichtstuer, ein Schürzenjäger! Antonina Kirillowna, beten lernen würde ich in der Welt, hier aber ist nichts als Habgier und Neid auf die Welt! Seit dem vorigen Sommer …«

»Fenja muß lernen, aber nicht heiraten …«

»Antonina Kirillowna, was nützt denn das viele Wissen, Liebe ist doch das Wichtigste für den Menschen, und Fenja ist …«

»Fenja ist noch ein unreifes Mädel!«

»Wenn sie mich nicht lieben würde, aber sie liebt mich ja, hat es mir selbst gesagt, hat mir selbst gesagt, daß sie mich ihr Leben lang lieben wird! Machen Sie uns nicht unglücklich …«

»Sie hat Ihnen das gesagt? Wann?«

»Als Sie fort waren, da hat sie es mir gesagt. Wir fuhren zusammen Boot, zu zweien …«

»Zu zweien?«

»Ich spreche zu Ihnen wie vor Gottes Angesicht – Fenja hat versprochen, meine Frau zu werden, wir lieben uns auf immerdar, und ich brauche gar keine Mitgift …«

Aus Angst, Frau Grakina könnte meinen, er habe es auf ihr Geld abgesehen, hatte er glatt herausgesagt: »Ich brauche gar keine Mitgift.« Wie ein Aufschrei waren ihm diese Worte entfahren, so daß Antonina Kirillowna zusammenzuckte.

»Antonina Kirillowna, ich liebe Fenja wie meine Frau, und unser Kindchen, wenn wir eins bekommen, werde ich ebenso herzlich lieben – ich stehe ja ganz allein in der Welt, ganz allein, ich habe ja niemand außer ihr. Und sie ist ja meine Frau, Fenitschka ist vor Gott meine Frau, bis an ihr Lebensende meine geliebte Frau …«

Wie Steine von einem Berghang rollten seine Worte klirrend in die Seele der Mutter, schlugen ihr gegen Kopf und Hände. Ohne ihn anzusehen, vor Entsetzen auf Du übergehend, herrschte sie ihn an:

»Deine Frau? … Also hast du sie unglücklich gemacht?! Hast es gewagt? …«

»Aus Liebe! Ich habe keine Gewalt angewandt, ich sage es Ihnen offen, wie vor Gottes Angesicht, wie meiner Mutter, und ich bin jetzt gleichsam Ihr Sohn, und ich will Fenja ehelichen in Treue und Ehrlichkeit …«

»In Treue und Ehrlichkeit? Und dabei hast du sie ehrlos gemacht? … Meine kleine Fenja? … Du hast es gewagt? Du?!«

Sie würdigte ihn weiter keines Blickes, wandte sich ab; es wurde dunkel vor ihren Augen, ihr war, als taumelte sie. Schweigend schritt sie davon.

Jammernd wie ein Hündchen lief ihr Nikolai nach.

»Wie der eigenen Mutter, wie vor Gottes Angesicht habe ich Ihnen alles gestanden. Ich liebe Ihre Tochter, liebe sie ewiglich, das Glück Ihrer Tochter, das Glück Ihrer kleinen Fenja, unser Glück ruht in Ihren Händen. Geben Sie mir Fenitschka!«

Sie wandte sich um, und es war, als sei etwas in ihr in Stücke gebrochen, fortgeschwemmt worden im Ansturm der Gefühle, als sie ausrief:

»Du Lump! Hörst du, was ich sage – ein gemeiner Lump bist du! Hast wohl Angst, daß ich mich bei dem Abt beklage, beim Bischof über dich beschwere … Heiraten will er sie! … Die Priesterweihen nehmen! … Braucht gar keine Mitgift, nur Fenja allein will er haben! Ausspeien werde ich vor dir, du Lump mit dem scheinheiligen Gesicht!«

Sie spie wirklich vor ihm aus und schritt hastig davon.

Nikolai war stehengeblieben und dachte: Nun ist alles zu Ende. Das ist keine Mutter, das ist ein Stein. Kein Mensch – eine Bestie. Entflammte Habgier sprach aus ihr. Hockt zitternd über ihrem Gelde! … Und nur ganz entfernt in einem Winkel seines Hirns tauchte flüchtig der Gedanke auf: Daß sie sich nicht beklagen will, ist übrigens gut … Dann überkam ihn Wut: Wie vor Gottes Angesicht hatte er vor ihr seine Seele ausgeschüttet, und sie hatte geantwortet: Du Lump! … und hatte vor ihm ausgespien! …

In ohnmächtigem Zorn warf er sich zu Boden, riß Erdstückchen mit Pflanzen und Wurzeln aus, schleuderte sie von sich. Seine Augen blickten höhnisch aus weitaufgerissenen Lidern, mit bitterem Hohne knirschte er:

»Mag sie jetzt ihre Tochter nur an den Mann bringen, mag sie nur! Solch eine prügelt der Mann, unglücklich macht die Alte ihr Kind. Mag sie, mag sie nur. Einen Mann wird sie schon finden, bei ihrem Geld ist das nicht schwer. Und um des Geldes willen wird er sie auch nicht prügeln, aber unglücklich macht sie ihre Tochter doch.«

Er lag, grübelte, verzehrte sich in Wut, tröstete sich mit erbitterten Worten, doch unerbittlich brannte die Erkenntnis auf seiner Seele: »Es ist aus, all meine Hoffnung auf ein besseres Leben ist aus und zu Ende. Es ist nichts draus geworden!«

Bis zum Abend lag er im Walde, bis es dunkel wurde; dann stahl er sich durch die Nebenpforte bei den Pferdeställen ins Kloster und hinten herum zu Afonka. Die ganze Nacht wurde wüst gezecht, Afonka stand schließlich von seiner Bank auf, hob den betrunkenen Freund auf sein Lager. Er selbst legte sich auf seine wattierte Winterkutte, die er auf dem Fußboden ausgebreitet hatte. Er war selig, daß er seinem Freunde so gut geraten hatte.

Nikolka erwachte, blickte wie irr um sich, hatte den Schlucken, stammelte, betrunken weinend:

»Ausgespien hat sie vor mir … Ich habe meine Seele vor ihr aufgetan, verstehst du, Afonka, meine Seele, sie aber hat mich einen Lumpen genannt und in diese Seele gespuckt. Wie zu meiner Mutter habe ich zu ihr gesprochen. Und die Mutter hat vor mir ausgespuckt – vor Fenja hat sie ausgespuckt …«

Nikolka ließ seine Zwanziger springen und trank zusammen mit Afonka ganze Tage lang …

 

Frau Grakina wußte nachher nicht, wie sie nach Hause gekommen, welchen Weg sie gegangen war. Verstört, ganz außer sich, trat sie ins Zimmer, es kochte alles in ihr, nur ihre Stimme war kalt und hart und ihre Worte vor Kummer grausam.

Marja Karpowna und die kleine Fenja tranken Tee, aßen dazu Weihbrot und Walderdbeeren. Frau Klimowa warf einen Blick auf ihre Freundin, und sofort war ihr alles klar; sie sammelte sich. Antonina Kirillowna wandte sich an ihre Tochter:

»Was hast du angestellt? Sprich! … Nun?«

Sie trat hart an die kleine Fenja heran. Das Herz des jungen Mädchens pochte laut, ihre Hände wurden kalt, ihre Stirn feucht.

»Aus dem Hause jag' ich dich, schamloses Geschöpf! Mit Männern läßt sie sich ein. Rede – wie, was ist geschehen?«

Flüsternd – vor Angst versagte ihr die Stimme – hauchte die kleine Fenja:

»Mütterchen … Mütterchen! …«

»Hat er dich geküßt?«

»Ja …«

»Und was war weiter? Hat er Gewalt gebraucht? Nein?! Du selbst hast dich ihm an den Hals geworfen! Wußtest du nicht, was das heißt, was das für Folgen hat? Hat er dir wirklich die Unschuld geraubt? Sprich!«

»Ich habe mich ihm selbst hinge … Ich liebe ihn!«

»Ach, du bildest dir noch was ein darauf?!«

Und sie schlug die Tochter ins Gesicht, links und rechts, mit beiden Händen, so daß das Köpfchen der kleinen Fenja hin und her taumelte. Im Nu wurden deren Wangen ganz rot, Tränen stürzten ihr aus den Augen, fluteten die Wangen herab, benetzten die Handflächen der Mutter. Frau Klimowa war emporgesprungen und stellte sich schützend vor das junge Mädchen.

»Nicht schlagen … komm zu dir, ich laß das nicht zu! Lieber schlage mich, mich! Ich bin schuld daran, mich kannst du zur Rechenschaft ziehen, mich kannst du schlagen.«

Die kleine Fenja hatte sich an den Tisch gesetzt und das Gesicht in die verschränkten Arme vergraben. Ihre Tasse war umgestürzt, die Erdbeeren aus dem Tellerchen über das Tischtuch verstreut, über welches farbige Bächlein liefen, und die zerdrückten Erdbeeren sahen aus wie blutige Tränen. Die kleine Fenja schluchzte so herzzerbrechend, daß ihr ganzer Körper zuckte.

Durch die Exekution hatte Frau Grakina ihrem bedrängten Herzen Luft gemacht, ihr Zorn war verraucht; gebrochen, tränenlos, aber mit schneidend harter Stimme sagte sie:

»Du hast nicht acht gegeben auf das Kind … Denkst immer nur an deine Mönche, darum kommst du ja auch her. Ich weiß, ich bin schuld. Ich habe dir vertraut. Aber was fangen wir jetzt mit ihr an? Sage mir das! Sollen wir sie jetzt zu der weisen Frau schleppen, die Frucht abtreiben, sie nach Moskau schicken – angeblich zu einem Besuch bei ihren Tanten?! Ach, verbergen kann man es doch nicht, und wieder gut machen kann man es auch nicht. Mit Geld die Schande bedecken? … Um ihre Hand hält er an – auch ein Bräutigam! Ausgespuckt hab' ich vor diesem Bräutigam. Oberpriester will er werden durch unser Geld. Nicht das erste Mädel hat er auf dem Gewissen. Von unserem Geld bekommt er nichts zu sehen, und auch das Mädel kommt ihm nicht mehr unter die Augen. Mit scheinheiliger Miene kam er auf mich zu, wollte mir was weismachen.«

Frau Klimowa sagte eindringlich:

»Tonja, sieh mich an! Auch mich hat man gegen meinen Willen verheiratet, um einen Fehltritt zu decken. Und du weißt, was daraus geworden ist … Gib sie ihm schon lieber … Sie lieben sich, so laß sie sich denn lieben, in Gottes Namen … Du weißt ja noch, wie lieb ich ihn hatte, unseren ersten Verkäufer … Hast ja zusammen mit mir geweint, als meine Brüder ihn in seiner Kammer halbtotschlugen. Ich hörte ihn stöhnen, die ganze Nacht durch. Hätten sie ihm lieber den Garaus gemacht! Hatten ihm die Nieren beschädigt und den Bewußtlosen in den Schnee auf den Hof hinausgeworfen. Einen ganzen Monat lang hat er sich gequält, bis der Tod ihn erlöste. Und dann haben sie mich verheiratet. Und haben Krokodilstränen geweint, als mein armer Waßenka starb, die Mörder! … Mach' dein Mädel nicht unglücklich, Tonja. Was habe ich denn vom Leben an der Seite meines Alten? Er bringt einem nur das Blut in Wallung, nachher liegt man da und weint das Kissen naß … Und am Morgen macht er einem Vorwürfe darüber, daß man nicht als unbescholtenes Mädchen in die Ehe getreten ist. Mein Leben lang habe ich keine rechte Freude gekannt. Wenn er mir nur einmal ein zärtliches Wort sagen wollte! Aber außer Vorwürfen höre ich nichts von ihm. Die Sehnsucht des Körpers kann man noch stillen, aber die Sehnsucht der Seele bleibt ewig ungestillt, daß es immer wie ein Stöhnen in dir ist. Du mußt nicht danach urteilen, daß ich leichtfertig bin, mich mit fremden Männern abgebe; nicht aus Übermut tue ich das, sondern so wie ein Trinker zur Flasche greift, es ist wie ein Rausch, ein Weiberrausch. Bei anderen mag es anders sein, bei mir ist es ein Dürsten nach Sinneslust, um die Seele zu betäuben, auf daß sie alles vergißt, im Rausch der Erbsünde sich selbst vergessend … Gib ihm das Mädel, mögen sie sich lieben. Wir leben nur einmal … Ich weiß, ich trage die Schuld, so strafe mich, aber laß das Mädel in Ruhe … Bist du ihr eine rechte Mutter oder eine Stiefmutter? … Und verheiratest du sie mit einem jungen Manne, so macht er ihr das Leben zur Hölle …«

Frau Klimowa verstummte. Sie hatte ausgesprochen, was sie als Lebenswahrheit erkannt hatte. Nun schwieg sie.

Die kleine Fenja schluchzte noch immer, über den Tisch gebeugt; die Tränen versengten ihr die Lider, ließen sich aber nicht aufhalten und flossen unaufhörlich die Wangen hinab auf die nassen Manschetten.

Frau Grakina erhob sich und verkündete ihren Entschluß:

»Morgen reise ich mit ihr fort von hier! Nachher werden wir weiter sehen …«

Eilig wurde gepackt. –

Aus dem Zuge rief Antonina Kirillowna der Freundin zu:

»Ich werde dir schreiben … Wie's auch werden mag! … Bleibe einstweilen hier.«

 


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