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6

Mutter Jewdokia pflegte im Herbst früh schlafen zu gehen; um sechs, gleich nach der Abendmesse, legte sie sich zu Bett. Ein Stückchen Zucker im Munde, trank sie vor dem Schlafengehen Tee von der Untertasse und schob die vollen Lippen vor, während sie zur Abkühlung auf das heiße Naß blies – darüber schnelle kleine Kreise zogen – und überlegte, wie sie wohl das Gespräch mit Schwester Arischa beginnen könnte und ob sie überhaupt vorher mit ihr reden sollte; vielleicht wäre es richtiger, sie in der Nacht einfach zu rufen und zu befehlen …

Nachdenklich blickte sie das junge Mädchen an. Ihr rothaariger Afonka kam ihr dabei in den Sinn; seltsam, Arischa sah ihm ähnlich, bloß statt der eingebrochenen Nase hatte sie ein feines Näschen mit einem kleinen Höcker, und ihre Augenbrauen berührten sich leicht, wie bei ihm; auch rotes Haar hatte sie, nur ein wenig dunkler in der Färbung …

Dunjas gierige Augen blinkten auf, während sie die Novize betrachtete, ja verschleierten sich, wenn ihr Blick an dem Mädchen vom Kopf bis zu den Füßen hinabglitt.

Arischa konnte es gar nicht erwarten, daß der Tag endlich zu Ende ginge. Sie goß sich Tee auf die Untertasse, der Tee blieb stehen, wurde kalt. Sie rührte ihn nicht an, es ekelte sie davor.

»Was trinkst du denn nicht, Arischa?«

»Ich will nicht.«

»Was hast du eigentlich? Ißt kein Mittag und jetzt trinkst du nicht einmal Tee? …«

Arischa wollte antworten, da war's wieder, als stieg ein Knäuel ihr in die Kehle, widerlich lief der Speichel im Munde zusammen, Brechreiz überkam sie.

»Was hast du denn? Bist du krank?«

Arischa preßte die Hand gegen den Mund …

»So etwas kommt doch nur bei Schwangeren vor, du aber bist ja eine Nonne, ein jungfräuliches Mädchen, was soll man denn da von dir denken? Es sieht wahrhaftig so aus, als wärest du schwanger? …«

Unter Tränen brachte Arischa mühsam hervor:

»Ich weiß nicht, ich weiß selber nicht, was es ist …«

Sie wollte ins Vorzimmer gehen, brach aber plötzlich zusammen. Ihr Körper glitt hilflos vom Stuhl auf den Boden; sie richtete sich halb auf und näherte sich beinahe kriechend, den Kopf gesenkt, der Nonne. Es war eine Leere in ihr, bloß wie ein Bohren im Kopfe quälte sie der Gedanke, daß sie ja doch sprechen müsse, beichten müsse und flehen, Mutter Jewdokia möchte sie nicht von sich jagen, Schweigen bewahren, ihren Fehltritt verdecken, ihr helfen. Auf den Knien kroch sie bis vor ihre Füße, streckte die gefalteten Hände, das Gesichtchen zwischen die Arme gepreßt, Mutter Jewdokia entgegen und neigte sich stumm mit der Stirn gegen den Boden. Da konnte Dunja nicht widerstehen, ein menschliches Rühren regte sich in ihr, vielleicht darum, weil sie der Zeit gedachte, da auch sie diese Qual durchgemacht, auf der großen Truhe im Gang sich abgequält hatte, von Übelkeit bis zum Brechreiz gewürgt, während ihr Geliebter, Afonka, die Nächte bei Marja Karpowna verbrachte. Die alten Wunden, die nicht vernarbt waren, die sich bloß mit einem dünnen Häutchen überzogen hatten, öffneten sich schmerzlich, und Dunja beugte sich zu Arischa hinab, legte ihr die Hand auf den Scheitel und suchte ihr Köpfchen emporzurichten, während sie im jammernden Ton der Dorfweiber, Tränen in den Augen, auf das junge Ding einsprach:

»Wie ist es denn nur gekommen, Mädelchen? Wie hast du ihm bloß nachgeben können? … Was hast du nun mit dir gemacht? …«

»Mutter, ich selber bin schuld, ich selber sehnte mich nach seiner Liebe … Ich wollte nicht im Kloster verkümmern, ohne je gelebt zu haben! Einmal wenigstens wollte ich Liebe kennenlernen, wollte wissen, wie es ist, wenn sich zwei Menschen liebhaben, wollte von der Seligkeit kosten, mochte sie noch so kurz und flüchtig sein! Ein bißchen Glück! … Und bin ich denn nicht glücklich gewesen?! Wie eine Wahnsinnige, wie eine Irre habe ich nach meinem Glück gehascht …«

»Und jetzt, Arischa, was soll denn jetzt weiter geschehen? Jetzt sitzt du da und hast die Qual! Was soll uns Frauen ein Glück, das nachher in Leid und Qual untergeht? … Was soll es uns? …«

»Vielleicht würde ich noch ärger leiden, wenn ich nicht geliebt hätte, Mutter. Vielleicht wäre mein ganzes Leben bis ans Grab nichts als Leid und Qual gewesen, wenn ich nicht dieses kurze selige Glück erhascht hätte! Ich bin schuld, ich selber, Mutter … Mein Herz wollte brechen vor Sehnsucht nach Liebe und Glück! Im Garten des Seminars schlugen die Nachtigallen, mir aber war, als zerreiße mein Herz, meine Seele, so daß ich ganze Nächte hindurch ohne Schlaf matt und erschöpft dalag. Mein Herz pochte so laut und hohl, und den ganzen Tag über quälte mich ein unendliches Sehnen. Die Sehnsucht nach Glück war so heftig, weil es hinter diesen Mauern ja kein Glück gibt, nie, nie … Da ist es selber zu mir gekommen, mein Glück, mein kurzes, sonniges Glück! Und ich wußte wohl, daß es nur kurz sein könnte, und gab gar nicht acht auf seine Worte über Heirat und Ehe. Ich wollte ja nur eins: einmal nur meine Seele von der Qual der Sehnsucht befreien, einmal nur Menschenglück kennenlernen! Nachher würde ja doch alles wieder nichts als Leid und Qual sein, ob so oder so; und so weiß ich doch wenigstens, was das ist: Glück! … Und weiß nun auch, warum ich leiden muß …«

»Alle sind sie so, die Männer, Arischa. ›Ich liebe dich,‹ behaupten sie, und bringen dabei Leid und Qual über uns! ›Das Leben bring ich dir,‹ erklären sie, ›dein Leben, dein Glück, sei bloß nicht bange!‹ Und dann sind sie fort, und du sitzt da in Qual und Not. Erwürgen sollte man so einen, wenn man's nur vorher wüßte! Wir aber sind ja so dumm, so dumm. Um dieses flüchtigen Glückes willen geben wir uns selbst auf, und dann tragen wir die Qual unser Leben lang. Wie Bonbons in der Wärme schmelzen wir, wenn ›er‹ zärtlich ist, uns küßt und herzt, honigsüße Worte spricht; wir vergessen uns selbst und müssen nachher dafür leiden. Können wir denn aber nicht auch ohne sie auskommen? … Doch, wir können es! Jetzt weiß ich, daß wir es können … Zuerst mußte ich durch all die Qual und Pein hindurch, jetzt aber weiß ich's! Und so steht's auch um dich, mein Mädelchen … Wir können uns auch ohne sie behelfen, und dann gibt's weder Leid noch Qual …«

Sie richtete Arischa auf, nahm ihren Kopf in die Hände, strich ihr über die Schultern und liebkoste sie, von Mitleid mit dem Mädchen und Haß gegen Afonka, den Mann, ergriffen, liebkoste sie auf eine besondere Art, und spürte dabei dunkel, daß bei ihrer Neigung zu dem Mädchen etwas mit hineinspielte, das sie sich nicht zu erklären wußte. Sie blickte ihr forschend ins Gesicht, und dieses Gesicht schien ihr vertraut und bekannt, so daß sie spürte, wie ihr Leib ihr entgegenstrebte … Schwester Arischa war von diesen Liebkosungen nicht ruhiger geworden, sie weinte still vor sich hin und klagte leise:

»Mutter, nicht darum weine ich, weil mir Qualen bevorstehen. Ich war ja glücklich, vielleicht war nie ein Mensch auf Erden so glücklich wie ich! Aber ich habe solche Angst, daß man es im Kloster erfahren könnte … Was soll dann mit mir geschehen? Dann werde ich ausgestoßen und kann doch nirgendhin, nirgendhin … Ich wußte ja, daß es so kommen würde, aber hieran habe ich damals nicht recht gedacht, war ich doch so unendlich glücklich! Es kam ja alles so ganz von selbst … Jetzt aber graut mir. Mütterchen Jewdokia, jagen Sie mich nicht fort, jetzt sind Sie ja wie meine eigene Mutter … Ich bin ganz in Ihrer Gewalt. Schwester Warenka hat versprochen, mir zu helfen … Mutter … Wenn bloß niemand etwas davon erfährt … Ich will gar nicht mehr Ihre Zelle verlassen, den ganzen Tag will ich hier in der Ecke sitzen.«

Dunja beruhigte sie, versprach zu schweigen, nichts über ihren Fehltritt über die Schwelle der Zelle dringen zu lassen, und fügte bloß so seltsam flüsternd, mit verschleierter Stimme hinzu, Arischa solle ihr in allem gehorchen, ihr zu Willen sein, dann würde sich schon alles finden …

Zum erstenmal seit sie im Kloster war, schlief Dunja zufrieden ein, quälte sich nicht, warf sich nicht mehr unruhig hin und her. Sie hatte beschlossen abzuwarten, bis das Mädchen zur Ruhe gekommen sei. Die Gaukelbilder, die Dunja vorschwebten, waren so verheißend, daß sie vor Entzücken mit offenem Munde einschlief.

Arischa konnte bis in die Morgenstunden keinen Schlaf finden. Sie weinte nicht mehr, sie hatte sich ausgeweint, bloß ihre Augen brannten schmerzhaft, wie versengt. Und schwer wie ein Stein lag ihr Herz in der Brust. Die ganze Nacht kniete sie im bloßen Hemdchen vor dem Heiligenbild und dachte nicht mehr daran, daß sie um des kurzen Glückes willen ihr Leben lang würde leiden müssen, sondern flehte nur um Kraft, das Schwere, das ihr bevorstand, tragen zu können.

All die Nächte durch hatte sie gebetet, seit jenem Tage, da sie nicht mehr auf den Friedhof gegangen war. Sie betete nicht reuevoll, um Vergebung flehend, sondern bat um Beistand und Schutz, und ihre Seele erglühte jede Nacht in Glückseligkeit, fühlte sie doch ihn, den Geliebten, in sich, in Seele und Leib, und segnete ihn um der Liebe willen, die er ihr geschenkt.

Voll Freude und Dankbarkeit begegnete sie Dunja, bemühte sich, es ihr in allem recht zu machen, las ihr jeden Wunsch an den Augen ab. Und als das Gefühl der Übelkeit nachließ, wurde sie ruhig und gesammelt, als blicke sie in ihre Tiefe, und nur des Nachts kam die Unruhe wieder über sie.

Mutter Jewdokia ging früh zu Bett; Schwester Arischa aber betete bis zum Morgen. Sie war blaß und mager geworden, nur ihre Augen glühten, und durch die eingesunkenen Wangen und das dunkler gewordene Gesicht erschienen ihre rotblonden Haare noch üppiger.

Ging Jewdokia um sechs zur Ruhe, so hatte sie um drei Uhr nachts ausgeschlafen und warf sich dann unruhig im Bette hin und her. Lange lag sie ohne wieder einschlafen zu können; allerhand Gedanken zogen ihr durch den Kopf, und unter dem Bett hervor schlüpfte der ekle Teufel der Fleischessünde, der ihr in dunklem Menschenbilde vor Augen schwebte, ihr ins Ohr flüsterte, ihr das Herz versengte. Sie hörte Schwester Arischas Gemurmel in der Kammer, und dann war es nicht mehr der Teufel, sondern die junge Novize, die sich ihr zärtlich näherte, und bloß ängstliche Unentschlossenheit hielt sie noch davor zurück, das Mädchen zu rufen.

Als sie es schließlich tat, bebte ihre verschleierte Stimme, und ihr Herz pochte laut.

»Du betest, Arischa? …«

Leise klang es zurück:

»Ja, ich bete, Mutter …«

»Du tust mir so leid, komm doch einmal her.«

Still trat sie heran.

»Komm, leg' dich zu mir; es wird dir leichter ums Herz werden, wenn wir beisammen sind …«

Folgsam legte sich die Ermüdete zu ihr, und in der Wärme und Geborgenheit wurde es ihr wirklich leichter ums Herz.

Als aber Dunja sie umschlang, sie an sich drückte und in ihrer Bedrängung ihr flehende Worte ins Ohr flüsterte, schrak das junge Mädchen zurück wie vor etwas Unheimlichem und lauschte verständnislos.

»Ich quäle mich ja auch, gerade so wie du, bloß daß du nicht weißt, was es damit auf sich hat, ich aber weiß es … Dann ist's aus mit der Qual …«

Jäh preßte Arischa die Knie zusammen. Sie entwand sich der Umklammerung, sank neben Dunjas Bett zu Boden und brach in ein tränenloses, krampfhaftes Schluchzen aus, während Dunja in rasender Wut, flach auf dem Bauch ausgestreckt, aus dem Bett nach dem jungen Mädchen langte, ihre Finger in dem blonden Haar verkrallte und Arischas Kopf hin und her riß, wobei sie zischte:

»Kommst du oder kommst du nicht? … Hörst du, was ich sage? … Ich rate dir, mach' fix! Du willst wohl, daß ich zur Äbtissin gehe? Paß du mir auf, Luder! Nun, wird's bald! … Du bist in meiner Hand; fügst du dich nicht, so fliegst du morgen aus dem Kloster hinaus. Und wirst auf die Polizei gebracht, obendrein … Da kriegst du einen gelben Kontrollschein … Hast du solch einen Schein, so läßt man dich in kein anständiges Haus mehr hinein, und jeder Schuster darf sich für einen Sechser die ganze Nacht mit dir vergnügen, und nichts kannst du dagegen tun … Hast du verstanden? Wähle. Also komm lieber!«

Tausend Gedanken schossen dem Mädchen durch den Kopf, zerrissen ihr das Herz, wie ein Messer fuhr es durch ihr Inneres. Wählen sollte sie! Hinausgejagt würde sie werden … Auf die Straße … Ein gelber Kontrollschein … Jedem rettungslos, hilflos ausgeliefert sein … Verzweiflung und stumpfer Gleichmut überkam sie … Ach, einerlei, einerlei … Schlaff sanken ihre Hände herab, erschöpft schloß sie die Augen, verharrte reglos, und erst als Dunja sie vor Wut wieder an den Haaren zerrte und flüsterte: »Na, komm, so komm doch! …« glitt sie ein wenig näher heran, konnte den Schmerz in den Haarwurzeln nicht ertragen, beugte sich vor, während Dunja immer kräftiger riß und zerrte, und weiter an die Wand rückend, das junge Ding allmählich zu sich ins Bett zog …

Als Arischa am Morgen aufstand, war ihr, als sei alles Leben aus ihr gewichen, alles erstorben in ihr; wie leblos bewegte sie sich in der Zelle, antwortete auf Dunjas Fragen mit leiser, klangloser Stimme, und nur über ihren Augen lag es den ganzen Tag wie ein Schatten von erstarrten Tränen; sie weinte nicht, bloß dieser Tränenschatten war da, lag ätzend auf den Augen, so daß ihre Lider sich rot entzündeten …

Und als Dunja sie in der nächsten Nacht mit einem gierig lüsternen Lächeln wieder herbeirief, legte sie sich ergeben zu ihr, bloß ein Zucken ging durch ihre Glieder, und vor Schwäche schwindelte ihr. Wie aus Traumesferne hörte sie:

»So doch, so … Dumme Trine du … So …« und sie spürte gierige Lippen, die sich an ihren Körper saugten.

 

Vom Morgen bis zum Abend saß Schwester Arischa in ihrer Zelle, hatte das Empfinden ihres Selbst verloren, magerte ab, die Augen sanken tief in die Höhlen; ihre Lider waren vom Weinen gerötet. Schwester Warenka kam zuweilen zu ihrer Freundin herübergelaufen, fragte nach ihrem Befinden. Arischa erzählte ihr, sie sei ganz zerquält, nicht durch die Schwangerschaft, sondern durch Mutter Jewdokia. Warenka konnte sich aus Arischas wirren Worten nichts zurechtreimen und sagte, Arischa solle durchhalten, denn ein jeder Mensch müsse für sein Glück bezahlen; es gebe vielleicht keinen Menschen, der nicht mit Leid für Glück bezahlt habe. Darum scheine uns ja unser Glück ein strahlender Stern, dessen Licht auch unseren ferneren Lebensweg erhelle. Im Kloster sei das Glück noch schmerzlicher und noch süßer und verwandle sich in der Erinnerung in Gebet, in Gott …

»Auch mit mir war es so. Ich habe zu dem Geliebten gebetet und ihm vor Gott zärtliche Worte gesagt. Und diese Gebete waren mein eigentliches Leben. Auch mich hat meine Apollinaria gequält. Sie nutzen unseren Fehltritt aus, um uns gefügig zu machen … Halte durch, was sie mit dir auch tun mag … Ich lasse mich bald einkleiden, dann beginnt mein Leben, dann wird mir niemand mehr auf dem Kopf herumtanzen. Dulde! Leid läutert die Seele. Und bete zu ihm, denke immer an ihn, den du liebst. Deine Gedanken werden zu ihm fliegen, und ein Sehnen nach deiner Liebe wird in ihm erwachen, und einer wird den anderen um sich fühlen.«

 

Zwei Seelen lebten jetzt in Arischa, eine zerquälte, demütig passive, und eine lichte und freudige. Sie betete zu dem Allmächtigen, gedachte jedes Wortes, jedes Blickes des Geliebten, jedes der auf ewig erloschenen Abende ihres Zusammenseins. Und je tiefer sie sich in ihre Träume einspann, desto mehr entrückte alles Körperliche.

Wenn Mutter Jewdokia sie zu sich rief, erhob sich Arischa von den Knien und ging ergeben zu ihr. Auch die Nacht zerriß Arischa in zwei Wesen; das eine fügte sich demütig Dunjas Wünschen, berührte gleichsam abwesend den Körper der liebestollen Nonne, das andere, in die Tiefe ihres Herzens geschlossen, löste sich auf in der Erinnerung an den Geliebten. Je ungestümer Dunja wütete, desto näher spürte Arischa Wladimir, und im grünen Lichtflämmchen der heiligen Lampe erschimmerte sein Gesicht. Sie riß die Augen weit auf, nach seinem Blicke haschend. Und je wilder und gieriger Dunja wurde, je leidenschaftlicher Arischa ihr erwiderte, desto deutlicher sah sie Wladimirs Gesicht vor sich und sein Lächeln. Ja, sie suchte Dunja bis zur Raserei zu reizen, die ihr Herz stocken machte und seine Augen aufleuchten ließ, und wartete heimlich auf Dunjas Ruf, wenn sie des Nachts auf den Knien betete und sich in Sehnsucht nach dem Geliebten verzehrte. Und wenn Dunjas Ruf erscholl, schauerte Arischa zusammen und ging mit aufgerissenen Augen wie eine Verzauberte zu ihr und ergab sich der Qual bis zur Erschöpfung, bis zur Bewußtlosigkeit …

Das Kind in ihr rührte sich. Arischa sagte niemand etwas davon, weder Mutter Jewdokia noch Warenka. Des Morgens aber, wenn sie, aufgelöst, mit fiebrigem Blick nach der nächtlichen Qual, dalag, spürte sie jedesmal einen stumpfen, zermürbenden Schmerz im Leibe. Dann stieß sie Dunja von sich, und das Bild des Geliebten erlosch. Dunja wurde wütend, schrie sie an, schlug auf sie ein, kniff und kratzte sie, und erst, als Arischa einmal in heftiges, krampfartiges Schluchzen ausbrach und gar nicht mehr aufhören wollte, begriff Dunja, daß Arischa sich krank fühlte, und fragte:

»Was ist? Was hast du?«

»Es bereitet ihm Schmerzen … Er regt sich, er strampelt … Auch ich hab' dabei Schmerzen.«

»Warum hast du das denn nicht früher gesagt, dumme Trine!«

Dunja gedachte ihrer eigenen schweren Schwangerschaft, hatte Mitleid mit dem Mädchen und schickte es schlafen.

Am nächsten Morgen kam Arischa zu Jewdokia herein und bat sie um Verzeihung.

»Mütterchen, vergeben Sie mir, daß ich gestern meinem Dienst nicht nachkommen konnte … Verzeihen Sie mir!«

»Warum hast du mir das denn nicht früher gesagt? Ich wußte ja nichts davon. Lassen wir jetzt eine Pause eintreten, sonst nimmst du noch Schaden … Du meinst wohl, ich hätte nicht gelitten im Leben? Ach, wie ich gelitten habe! Erst hier im Kloster ist mir leichter geworden, und seit ich dich habe, beginne ich zu vergessen … Auch du wirst Vergessen finden, indem du die Pein der verzehrenden Sehnsucht stillst … Einstweilen aber wollen wir warten.«

Je näher ihre schwere Stunde rückte, desto weniger litt Arischa unter sinnlichem Verlangen, desto seltener rief auch Dunja sie des Nachts zu sich. Jeder Regung ihres werdenden Kindes lauschte Arischa nach, und jede Regung ihres Herzens gehörte dem Geliebten. Sie betete unablässig und verließ die Zelle nicht mehr. Die Nachbarinnen, Nonnen und Novizen, wußten, wie es um sie stand, und schwiegen; zuerst hatten sie untereinander getuschelt, dann aber empfanden sie nach Frauenart Mitleid mit ihr. Im Herzen einer jeden von ihnen nistete Sünde, jede hatte in der Welt oder hinter den weißen Klostermauern geliebt und gelitten, sich in Sehnsucht verzehrt und gesündigt.

 


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