Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9

Auf den Nebengeleisen des Güterbahnhofs, eine Werst vom Hauptbahnhof entfernt, stiegen von der Plattform eines Güterwagens Nikolka und Afonka und schritten, Rucksäckchen über der Schulter wie pilgernde Mönche, beim Schein der Signallaternen an den Weichen in der Morgendämmerung der Stadt zu.

In einer Gastwirtschaft, in der einfaches Volk, das in die Stadt kam, zur Erholung einzukehren pflegte, setzten sie sich an ein Tischchen.

Afonka sagte einschmeichelnd:

»Bezahle du schon, Nikolai …«

Mit dem Finger wies man gerade nicht nach ihnen, wohl aber wurden die seltenen Gäste mit verwunderten Blicken gemustert.

Nikolai sah sich nach allen Seiten um, tastete oft mit dem Fuß nach seinem Rucksack, den er unter den Tisch gelegt hatte, und lauschte auf die Gespräche der Nachbarn.

Gegen sieben Uhr füllte sich die Stube mit Schwingern; ein lautes Stimmengewirr hob an.

»He, Kellner, Tee für die Drakinschen – Beine, Mensch!«

Sie setzten ihre Gespräche fort:

»Das sind mir Sachen! …«

»So'n rothaariger Kerl aus dem Ausland, kein Wort versteht man von seinem Gebabbel, mit dem Finger tupft er hierhin und dorthin. Zum Totlachen!«

»Und der Chef selbst ist wieder fort? Nach Petersburg? Holt wohl seine Nichte ab?«

»Der Kutscher ist ein Landsmann von mir, der hat mir erzählt … ›Hat den Rennwagen anspannen lassen, ich sollte auf dem Bahnhof warten. Na, schön. Ich warte also und warte, schließlich kommt er angejagt, mit dem Fräulein. Wirft mir die Leine zu, hebt Fjokla Timofejewna vom Sitz – wie so 'ne Feder hob er sie hoch – stellt sie auf die Erde. Die Träger – alle die Mütze runter – gibt gute Trinkgelder. An die Kasse, zwei Hunderter raus, Petersburg. Das machte mich neugierig; muß mal rausbringen, was dahintersteckt, denke ich bei mir. Von einer Frau – seine Schwester ist ja so 'ne Wohltäterin alten Schlages, hat die Frau bei sich aufgenommen, Pulcheria Jakowlewna heißt sie – von der also erfuhr ich dann noch einiges. Im kleinen Wagen brachte ich sie mal ins Nonnenkloster. Na, ich frage also: Warum ist denn unser Fräulein, Fjokla Timofejewna, mit ihrem Onkel so plötzlich nach Petersburg gereist? Ganz im geheimen hat sie mir da erzählt, krank sei das Fräulein, müsse operiert werden, der ›Pendix‹ müsse ihr ausgeschnitten werden, habe daran gelitten, seit sie im Sommer mit der Mutter und der Klimowa, der Frau des Großkaufmanns, in der Sommerfrische im Kloster war. Was ist denn das für'n ›Pendix‹, frage ich, und die Kleinbürgerin, die Pulcheria Jakowlewna, sagt, mit so 'nem Lächeln: Was denn schon ein unvorsichtiges Mädel von euresgleichen für'n ›Pendix‹ kriegt …‹ Also abtreiben will sie in Petersburg.«

»Na, ihr Onkel, das ist mir auch einer – der kann alles!«

Afonka lauschte, stieß Nikolai unter dem Tisch mit dem Fuß an.

»Hast du gehört?«

»Ja – also sie ist fort!«

»Was wirst du denn da machen?«

»Die Mutter hat doch selbst geschrieben, ich solle kommen – da werd' ich schon hingehen.«

»Versuch' mal noch was von den Leuten hier herauszubekommen, vielleicht wissen sie noch mehr – damit du weißt, was du sagen sollst.«

Nikolka musterte die Sprechenden, die ihn ihrerseits aufmerksam betrachteten. Schließlich fragte einer von ihnen:

»Was bringt euch in die Stadt, Väter? Wo kommt ihr her?«

»Aus dem Kloster Belobereshsk …«

»Also so seht ihr da aus – darum werden anständige Mädchen bei euch im Kloster auch nicht in Ruhe gelassen? Vielleicht seid gerade ihr beide diejenigen, die Kaufmannstöchterchen zur Sünde verleiten?«

Ganz laut hatte er das gesagt, daß es durch die ganze Stube hallte und alle Anwesenden sich nach Nikolka und Afonka umsahen. Es kam diesen so unerwartet, daß sie rot wurden. Nikolka griff sogar nach seinem Rucksack; auch das bemerkten die Nachbarn. Lachen erscholl.

»Hallo, Vater, wohin denn so eilig? Bleib doch ein bißchen sitzen, erzählt uns mal von euren Heldentaten! Na, los, wie war das mit der kleinen Grakina?«

Nikolai stieß Afonka an, flüsterte unruhig:

»Komm, gehen wir. Es geschieht noch was – die reinen Halsabschneider sind's. Gehen wir lieber, Afon.«

Als der Freund noch zögerte, packte Nikolai kurz entschlossen seinen Rucksack und eilte zur Tür. Der Kellner lief ihm nach:

»He, Vater, zu bezahlen hast du wohl vergessen?«

Die Schwinger riefen lachend:

»Hat einen gelinden Schreck gekriegt! Laß ihn laufen, Mann, für ihren Tee bezahlen wir schon.«

Eilig schlüpften die beiden zur Tür hinaus, Lachen und Johlen scholl ihnen nach. Sie bogen um die Ecke; wo sollten sie hin in der Frühe? In einem kleinen Krämerladen erkundigten sie sich, wo sie unterkommen könnten. Man nannte ihnen die Adresse einer Witwe an der Sitny-Straße, die Zimmer vermiete. –

Nikolai konnte nicht einschlafen. Warum war Fenja nach Petersburg gereist? Es schien ganz unverständlich! Sein Mut sank.

»Sollten sie sie mir doch nicht geben? Sie haben mich doch aber kommen lassen! … Frau Grakina hat ja geschrieben, ihr Bruder sei einverstanden, und nun hat er sie fortgebracht … Sie erwartet mich und ist dabei weggereist … Des Kindes wegen oder wirklich wegen einer Operation?«

Er rechnete nach – drei Monate war es her. Da konnte nichts mehr gemacht werden, entschied er zu seiner Beruhigung.

Gegen Mittag eilte er hin, wagte es aber nicht, an der Vordertür zu klingeln, sondern ging in den Fabrikhof und sah sich um. Nach einer Weile bemerkte er den Schwinger, der sich in der Gastwirtschaft über ihn lustig gemacht hatte. Der Mann trat auf ihn zu.

»Tag, Vater – was suchst du hier?«

»Ich möchte Frau Grakina sprechen.«

»Tü-tü« stieß der Schwinger die Luft durch die Zähne. »Dann bist du's am Ende wirklich? Paß auf, Vater! … Aber wenn's dir damit Ernst ist, so klingle man lieber an der Vordertür, das gehört sich so. Bloß unser Fräulein ist noch nicht zurück … Was sagst du denn kein Wort, als hieltest du Wasser im Munde? Paß du mir auf, sonst ruf' ich ein paar Genossen heran, und wir fühlen dir ein bißchen auf den Zahn!«

Nikolai wich rückwärts zur Pforte zurück, als er ein Fuhrwerk auf Gummirädern heranrollen hörte. Der Schwinger setzte ein breites Lächeln auf, verstummte, riß die Mütze vom Kopf. Nikolai sah sich um – Fenitschka kam angefahren, in Zobelmütze und Hermelinpelz. Sein Herz erzitterte. Vor dem Schwinger hatte er jetzt keine Angst mehr. Er trat auf sie zu und begrüßte sie wie einen nahen vertrauten Menschen.

»Guten Tag, Fjokla Timofejewna – ich komme gerade zu Ihnen.«

»Onkel Kirja, dies ist Vater Nikolai …«

»Freut mich, Sie kennenzulernen. Also Sie kommen gerade zu uns? Bitte …«

Nikolai fühlte sich unsicher und verlegen, setzte darum eine unabhängige Miene auf und suchte durch ein ungezwungenes Auftreten seine Scheu zu verbergen. Doch noch in seiner anmaßenden Ungezwungenheit hatte er mächtige Angst vor dem Ingenieur, bloß auf sein Äußeres hin. Kirill Kirillowitsch war glatt rasiert, trug nur ein kurz gestutztes Schnurrbärtchen, und im linken Mundwinkel hing seine ewige Pfeife; die Unterlippe zog sich im rechten Mundwinkel beim Sprechen nach unten, so daß sein ganzer Mund schief schien und die Worte ein bißchen brummig aus der Kehle kamen, während die Augen unter dem breiten Schirm der Sportmütze scharf und durchdringend hervorblickten.

Der Ingenieur trat beiseite, Fenja und Nikolai den Vortritt lassend.

Die breite Hallentreppe hinauf ging's in die neue Hälfte des Hauses, Nikolai, trotz der Kälte, im Samtkäppchen und seiner alten Lustrinkutte, lang und schwarz, ein wenig vornübergebeugt, und neben ihm die kleine Fenja in ihrem weißen Pelzmäntelchen, schlank und schmal, leichtfüßig und lebhaft.

Sie wußten nicht, was sie miteinander reden sollten. Nikolai spürte, daß sie eine andere geworden war, fremd, ganz fremd. Trotzdem ging er weiter, auf Biegen und Brechen, und suchte die in ihm aufsteigende feige Bitterkeit zurückzudrängen, die sich weniger gegen Fenja als vielmehr gegen eine unbekannte feindliche Macht richtete, die ihm widerstrebte.

Verstört, in scheuer Hast, flüsterte er:

»Fenitschka! …«

Fenja antwortete nicht, blickte ihn nicht an, sondern ließ das Köpfchen noch tiefer hängen und eilte immer schneller die Treppe hinauf, als fürchtete sie, er könnte sie umschlingen und festhalten und sie peinigen, wie er sie im Sommer im Walde mit seinen Liebkosungen gepeinigt hatte, wie ihr jetzt schien. Mit einem großen Satz flog sie ihrer Mutter an den Hals, die ihr an der Zimmertür entgegenkam, und rief lachend:

»Mütterchen, ich komme mit meinem Bräutigam, habe ihn gleich mitgebracht!«

»Mein Kind! … Einen Bräutigam hast du mitgebracht?!«

»Ich meine Vater Nikolai, Mutter – da ist er.«

Nikolai steckte sein Käppchen in die Tasche der Kutte, fuhr sich mit den fünf Fingern durch die Lockenmähne und sah sich, durch Fenjas unerwartetes Lachen aus der Fassung gebracht, wie ein gehetztes Tier im Saale um; er war nahe an der Tür stehengeblieben. An seinen Füßen hingen Schmutzklumpen (vor Erregung hatte er vergessen, sich im Vorzimmer die Stiefel zu säubern), er trat von einem Fuß auf den anderen; zwei große dunkle Flecke erschienen auf dem alten Teppich. Durch die ungewohnte, nicht in Kaufmannshäusern, sondern in vornehmen Adelshäusern übliche Einrichtung, die Kirill Kirillowitsch selber in Moskau bestellt hatte, fühlte sich Nikolai noch unsicherer. Er zuckte wie unter einem Stoß in den Rücken zusammen, als der Ingenieur sagte:

»Warum so scheu, Vater Nikolai – ein Bewerber muß Mut haben.«

Gleichsam unter dem Einfluß dieser Worte ging er wieder in seinen früheren Ton frecher Ungezwungenheit über, den er dann auch beibehielt.

»Antonina Kirillowna, ich habe mit Fenitschka zu sprechen.«

Der Ingenieur antwortete statt der Mutter:

»Mit … Fenitschka?! Schön. Ich schicke sie Ihnen gleich. Komm, Tonja, wir wollen nicht stören.«

Nikolai blieb in der Mitte des stillen Zimmers stehen – selbst das Atmen fiel ihm schwer, und jeder Herzschlag währte wie das endlose Ticken eines Pendels eine schmerzliche Ewigkeit.

Mit hoher kronenartiger Frisur und kleinen Löckchen über Schläfen und Ohren, den Blick der üppig großen Augen durch das Erlebte vertieft, kein junges Mädchen mehr, fast schon eine Frau, kaum noch wiederzuerkennen als das halbreife Ding, das auf der Bank vor dem Landhäuschen weinend Walderdbeeren gegessen hatte, lachend, nachdem der Abgrund überschritten worden war – so trat die kleine Fenja zu Nikolai ins Zimmer.

»Ich war auf Ihren Besuch nicht vorbereitet, Vater Nikolai, und hatte nicht erwartet, daß Sie kommen würden. Was bringt Sie her?«

»Ich komme zu dir, Fenja, auf immer – das Kloster habe ich verlassen.«

»Sie wollen also nicht mehr Mönch sein? Aber nehmen Sie doch Platz, und ich will mich auch hinsetzen. Hier, in den Lehnsessel, ich setze mich aufs Sofa; wenn der Oberpriester uns besucht, sitzt er immer auf diesem Lehnstuhl.«

»Deine Mutter hat geschrieben, daß dein Onkel seine Einwilligung gibt. Morgen gehe ich zum Bischof, um ihn um seinen Segen zum Empfang der Diakonuswürde zu bitten. Du machst so, als verstündest du nicht, weshalb ich gekommen bin, Fenitschka! …«

Er erhob sich halb, streckte die Arme aus, um sie zu umarmen und zu küssen.

»Rühren Sie mich nicht an. Nichts verbindet uns mehr. Ich liebe Sie nicht mehr, habe Sie nie geliebt, merken Sie sich das. Sie haben sich meine Unwissenheit zunutze gemacht …«

»Aber wieso denn? Wir wollen uns doch heiraten, und dein Onkel ist ja einverstanden, und auch deine Mutter hat geschrieben, daß sie einwilligt!«

»Ich aber habe Ihnen nichts geschrieben. Und ich muß Sie bitten, nun zu gehen, Vater Nikolai. Ich liebe Sie nicht, ja – wenn Sie es wissen wollen – ich hasse Sie!«

»Du bist ja nicht nur meine Braut, du bist meine Frau, und ich bin dein Gatte und habe an dir die Rechte des Ehemanns … Ich will dir aber vergeben, will dir alles vergeben … Sage mir nur eins – erwartest du ein Kind? Sprich, du mußt es mir sagen! Sonst müßte ich fordern, daß du es mir sagst. Hörst du, ich fordere es! Ich bin dein Mann!«

»Niemand hat etwas von mir zu fordern oder mir zu befehlen. Ich bin niemandes Frau. Ich erwarte kein Kind. Sprechen wir nicht mehr darüber. Wenn Sie noch etwas zu sagen haben, so sagen Sie es, aber ich möchte Sie bitten, mich nicht zu duzen. Sonst muß ich Sie noch einmal ersuchen, sich zu entfernen, Vater Nikolai.«

Sein Herz schlug heftig vor Wut und Empörung. Er wollte ein letztes Mittel versuchen, legte den Arm um ihre Schultern, sie stieß ihn zurück, wollte entschlüpfen, er umschlang ihre Taille, sie sank auf das Sofa zurück, er ließ sich auf ein Knie nieder und suchte seinen Kopf zwischen ihren abwehrenden Armen durchzustecken und an ihre Brust zu drücken. Sie kämpften stumm, lautlos, mit kurzen, gespannten Bewegungen, und als sich seine Stirn durch ihre Arme zwängte, lehnte sie sich zurück und begann vom Sitz herabzugleiten. Da stieß sie ihm die verschränkten Hände ins Gesicht und drückte ihm die Finger auf Wangen und Augen, als hielte sie sich an ihm fest, ohne zu wissen, woran sie sich hielt. Seine Hände packten ihre Beine unter den Knien.

Die kleine Fenja schrie, in einen Lachkrampf ausbrechend, laut auf:

»Onkel Kirja, zu Hilfe!«

Nikolai sprang auf die Füße und setzte sich in den Lehnstuhl, seine Wangen waren vom Druck ihrer Finger und Nägel dunkelrot.

Kirill Kirillowitsch trat ein, ruhig und gemessen.

»Onkel, er hat nach meinen Beinen gegriffen …«

Der Ingenieur schritt mit geballten Fäusten auf Nikolai zu.

»Schaffen Sie ihn hinaus, Onkel!«

Der Ingenieur zeigte mit den Augen stumm nach der Tür.

Die Wut schlug in Nikolai empor.

»Sie ist meine Frau. Ich bin ihr Herr und Gebieter. Niemand hat sich einzumischen zwischen Mann und Frau. Hinaus! Was ich für Recht befinde, werde ich mit ihr tun.«

»Das ist ja allerhand!« Ein Gedanke kam dem Ingenieur. »Fenja, geh und rufe im Kontor an; jemand soll herüberkommen, gleichviel wer.«

Nikolai sagte dumpf, wütend:

»Ich gehe …«

»Nirgends gehst du hin. Setz' dich auf einen Lehnstuhl. Wird's bald?!«

Kirill Kirillowitsch sprach mit dem rechten Mundwinkel, im linken hing die qualmende Pfeife. Als ein Büroangestellter eintrat, sagte Drakin kurz:

»Schicken Sie mir zwei zuverlässige Schwinger herauf.«

Als zuverlässig erwiesen sich gerade jene beiden, die sich in der Wirtsstube über Nikolai lustig gemacht hatten. Der eine von ihnen hatte ihm vorher auch auf dem Hofe zugesetzt.

»Den Mönch hier bringt auf den Bahnhof, löst ihm eine Fahrkarte und begleitet ihn nach dem Kloster Belobereshsk, wo ihr ihn dem Abt ausliefert. Verstanden? Den Brief hier übergebt auch dem Abt.«

Er händigte ihnen einen Brief, den er vorher geschrieben hatte, und Reisegeld aus.

Nikolai schrie abgerissen in hohem Fistelton:

»Du, du bist nicht meine Frau mehr, ich verfluche dich, verfluche dich! Ein Scheusal bist du! Mein Kind hast du abgetrieben, darum bist du nach Petersburg gereist. Eine Dirne willst du werden!«

Er wandte sich in demselben gellenden Ton an die Schwinger; seine Stimme überschlug sich:

»Bin ich denn ein Dieb, ein Einbrecher, daß man mich gleichsam in Gewahrsam nimmt, unter Bewachung, mit Gewalt aus der Stadt weist?! Ich habe es ehrlich gemeint, und sie hat mir gesagt, daß sie mich liebt. Dann aber ist dieser Teufel in Menschengestalt dazwischengekommen, dieser leibhaftige Satan … Laßt mich, ich gehe allein.«

Kirill Kirillowitsch blickte die beiden Arbeiter an und wies mit den Augen auf Nikolai, der darauf einige Schritte auf den Ingenieur zu machte und verstört, fast weinend rief:

»Ich habe mir doch ein Zimmer in der Stadt gemietet …«

»Bereits gemietet? …«

»Ja doch, und im voraus bezahlt. Dort befindet sich all mein Eigentum, und ich habe auch Ausgaben für Reise und Essen gehabt, das geht doch nicht, daß man mich so fortschleppt! Ich muß doch wenigstens meine Sachen und meine Wäsche abholen!«

Kirill Kirillowitsch sagte zu den Schwingern:

»Geht zuerst in seine Wohnung, damit er seine Sachen abholen kann.« Er entnahm seiner Brieftasche einen Hundertrubelschein und warf ihn, wie angewidert, Nikolai über den Tisch hin zu. »Danach bringt ihn auf den Bahnhof und ins Kloster, und wenn er Krach schlägt, packt ihn etwas derb an.« Er wandte sich wieder an Nikolai: »Gib dich zufrieden. Und wenn du Geschichten machst, lasse ich dich nach Solowki verbannen. Du weißt, du hast es reichlich verdient. Und nun marsch!«

Nikolai zog sein Käppchen heraus und begann wieder der kleinen Fenja zu fluchen. Die Arbeiter packten ihn von beiden Seiten unter den Arm. Fenja war aufgesprungen, hatte sich an die Tür zum Nebenzimmer gelehnt und klammerte sich mit den Händen am Türrahmen an; sie atmete schwer, hatte den Kopf zurückgeworfen und starrte mit weit aufgerissenen Augen, reglos, mit gläsernem Blick auf die Wand gegenüber.

Aus dem Vorzimmer drang Nikolais gellende Stimme:

»Sei verflucht, verflucht!«

Der unerquickliche Auftritt hatte sie tief erschüttert, und als Nikolais Schrei ertönte, brach sie, krampfgeschüttelt, in ein schluchzendes Lachen aus.

Feixend und einander belustigte Blicke zuwerfend, schritten die beiden Schwinger hinter dem Mönch einher. Nach seinem letzten Ausruf hatten ihn die Kräfte verlassen, stumpf und teilnahmlos fügte er sich. Die Arbeiter fragten ihn:

»Willst du deine Sachen abholen?«

»Ja.«

»Na, dann führe uns hin.«

Je näher er dem Häuschen der Maschinistenwitwe in der Vorstadt kam, desto tiefer bedrückte ihn die Vorstellung, Afonka unter die Augen zu treten, sich dem Freunde in Schimpf und Schande zu zeigen und seine Spötteleien hinnehmen zu müssen. Trotzdem ging er weiter; seine Sachen im Stich zu lassen, konnte er sich nicht entschließen. All die geschnitzten Löffel, die Geschenke seiner Verehrerinnen, Ringe mit Edelsteinen, goldene Broschen – jahrelang hatte es gedauert, bis er das alles zusammengebracht hatte, ein ganzes Vermögen war es für ihn! Die Löffel könnte er verkaufen, die glitzernden Andenken hatten Goldwert und so viele Erinnerungen waren mit ihnen verknüpft – an gottergebene und ihm ergebene Kaufmannsfrauen, denen seine Lockenmähne es angetan hatte. Bloß von der kleinen Fenja hatte er nichts zur Erinnerung erhalten; er hatte kein Andenken von ihr, hatte sie selbst mit all ihrem Gelde haben wollen. Und nun war das alles dahin, auch das Amt eines Priesters, auf das er gehofft hatte, und die goldene Freiheit … Wie ein verprügelter Hund zog er mit hängendem Kopf durch die Straßen.

Als sie in das Häuschen traten, sagte die Wirtin:

»Ihr Freund ist bereits umgezogen.«

»Umgezogen?!«

»Er hat eine Stellung in der Stadt gefunden. Die Sachen hat er gleich in die neue Wohnung mitgenommen.«

»Ich ziehe auch aus, will nur meinen Rucksack holen.«

»Es ist nichts zurückgeblieben im Zimmer, Vater. Ihr Freund sagte, Sie wüßten Bescheid und würden gleich zu ihm kommen, Sie hätten das untereinander so abgemacht. Aber Sie können ja selbst nachschauen – Vater Afanaßij hat bestimmt nichts hier gelassen.«

Verstört eilte Nikolai in das kleine Zimmer, blickte unter den Tisch, unter die Betten, streifte die Decken zurück. Seine Hände zitterten; er konnte es nicht fassen, nicht glauben, daß Afonka all sein Hab und Gut gestohlen habe! Er durchsuchte alle Ecken und Winkel, doch sein Rucksack war nicht mehr da.

Die beiden Arbeiter sahen zu und grinsten.

»Na, komm schon, Vater, gehen wir; es wird doch nichts daraus!«

»Hast Pech heute, Vater. Muß übrigens ein sauberes Früchtchen sein, dein Freund.«

»Ja, ja, der eine ist den anderen wert!«

»Laßt mich, ich laufe schnell hin und suche ihn auf! Ich weiß, wo er ist – bei der Klimowa.«

»Bei wem?«

»Bei der Klimowa, der Frau des Großkaufmanns.«

»Also ihre beide sucht euch in Kaufmannshäusern einzunisten? … Auch ein Beruf!«

»Bei Gott, ich bin gleich wieder da – laßt mich gehen.«

»Nein, Vater, das gibt's nicht, wir müssen uns an unseren Auftrag halten.«

»Ach Gott«, mischte sich die Wirtin ein. »Ich hatte ja keine Ahnung davon, sonst hätte ich ihn gewiß nicht fortgelassen, hätte den Schutzmann geholt. Vater Afanaßij meinte freundlich: Meinem Freunde sagen Sie, liebe Frau Wirtin, daß ich die Sachen in unsere neue Wohnung gebracht habe, Vater Nikolai weiß schon Bescheid.«

»Laßt mich gehen, ich gebe euch die hundert Rubel hier! Ich muß, ich muß ihn finden.«

»Was hast du denn in deinem Rucksack stecken?«

»Geschnitzte Löffel, allerlei Sachen …«

»Das müssen ja wertvolle Sachen sein, wenn du ganze hundert Rubel daran wenden willst, um sie wieder aufzutreiben! Trotzdem, wir können dich nicht freilassen, du hast ja den Befehl gehört, und mit unserem Ingenieur ist nicht zu scherzen, wir könnten unser Brot verlieren.«

»Hundert Rubel gebe ich euch, versteht ihr das: hundert Rubel!«

Er zog den zerknüllten Schein aus der Tasche und suchte ihn dem Arbeiter, mit dem er auf dem Fabrikhof gesprochen hatte, in die Hand zu drücken. Die Wirtin schlug die Hände zusammen, rief ächzend:

»So laßt ihn doch gehen! Hundert Rubel gibt er euch, die findet man doch nicht so auf der Straße … Das Geld wird euch schon zustatten kommen, wird euch sehr zustatten kommen, und auf ganz ehrliche Weise könnt ihr's haben!«

»Also komm, Vater, sonst müssen wir Gewalt gebrauchen. Du weißt, wir dürfen dich nicht freilassen. Du hast ihn ja gesehen, den Chef … Na also!«

Der andere Arbeiter packte Nikolai ohne weiteres am Arm.

»So, jetzt gehen wir.«

Sie führten ihn auf die Straße hinaus; Nikolai wollte sich losreißen, schreien.

»Daß du mir ruhig bist und dich anständig benimmst. Sonst erlebst du was, Vater.«

Auch der andere Schwinger packte ihn am Arm, und Nikolai erhielt einen Puff in den Rücken. Er ließ den Kopf hängen; offenbar waren diese Schwinger wirklich zuverlässige Leute, mit denen nicht zu spaßen war.

In dem Durcheinander auf dem Bahnhof ließen sie ihn nicht aus dem Auge. Einer blieb bei ihm, während der andere die Fahrkarten und Weißbrot zur Wegzehrung besorgte. Sie brachten ihn in einen Wagen, einer setzte sich neben ihn, der andere ihm gegenüber. Nikolai kaute hilflos an seinen Nägeln und wandte den Kopf in die Ecke; seine Augen wurden rot und naß.

 

Die kleine Fenja aber konnte sich den ganzen Tag über nicht beruhigen. Wie von einer unendlichen Leere umfangen, irrte sie verloren von Raum zu Raum, von Ecke zu Ecke durch das Haus. Sie wußte jetzt nicht mehr, was vorzuziehen wäre: Haß im Herzen, als Nikolais Frau, als Diakonsfrau ihr Dasein zu fristen, oder ihren Träumen von einem freien, ungebundenen Leben in Petersburg nachzuhängen. Schön ist die Welt, wenn man noch nichts weiß vom Leben, wenn es noch verlockende, unerforschte Geheimnisse birgt, und im Körper, dem die Erkenntnis der Sünde noch nicht gekommen ist, ein traumhaftes Sehnen webt. Dann liegen vor einem noch alle Wege offen, und welchen man auch wählt, es ist ein gerader Weg, der in das unerschlossene Land geheimnisvoller Liebesseligkeit und des Glückes führt. Ist aber der Schleier des Geheimnisvollen einmal von den Dingen gefallen, so ist auch die Liebe dahin; man starrt in eine Leere, man hat sein eigentliches Leben verloren; Schein und Trug ist das Dasein geworden.

Als die kleine Fenja sich niederlegte, bebte sie am ganzen Körper, der den Laut von Nikolais Stimme in sich trug. Ihr Leib zitterte, weil er ihr einst so nahe gestanden, und weil der Klang seiner Stimme ihr ganzes Wesen durchdrungen hatte. Das war in jenen erschauernden Stunden gewesen, als seine Stimme, die Stimme des Geliebten, in den Kreislauf ihres Blutes trat, und seitdem im Blute der Geliebten raunt und tönt und nicht mehr weichen wird bis in die Todesstunde. Auch heute, als er um ihre Liebe rang und flehte, war – obwohl sie nun wußte, daß sie ihn nicht liebte – ein Widerhall, ein Wiegen und Wogen in ihr erwacht, kaum daß er ein Wort gesagt hatte. Und selbst jetzt, als sie zu Bett ging, zitterte sie noch immer.

Sie legte sich hin, und da kamen die Tränen.

Am Tage war sie ihm kalt und höhnisch begegnet, jetzt in der Stille der Nacht aber schluchzte sie; nicht über ihr zerstörtes Glück, nicht über ihre verlorene Liebe – es war ja niemals Liebe, war bloß ein Blendwerk, durch Romane angeregte Einbildung gewesen –, sondern über ihre entweihte Seele und ihren entweihten Leib, die der Stahl des Arztes geschändet hatte. Denn jetzt fühlte sie erst und meinte es zu wissen: für sie gab es kein wahres Glück mehr im Leben, ihr war es nicht mehr beschieden, Seele und Herz in Reinheit auf unbeflecktem Ehebett dem Manne hinzugeben, den das Leben ihr einst zuführen mochte.

Die Kerze brannte nieder und erlosch, die kleine Fenja aber konnte nicht einschlafen; weinend dämmerte sie bis zum Morgen dahin.


 << zurück weiter >>