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5

Still und ruhig lebte Dunja im Kloster; ihre Zelle war hell und sauber, ihre Dienstschwester, die rothaarige Arischa, die im Kirchenchor sang, flink und geschickt; und keinerlei Sorgen bedrängten sie. Erleichtert atmete Dunja auf.

Jung war Arischa ins Kloster gekommen, hatte sich an das zurückgezogene Leben, an die herrschende Ordnung gewöhnt. Still und demütig war Arischa, schlug sie aber die Lider auf und umfing einen mit einem sanften Blick, so meinte man goldene Teufelchen in ihren Augen hüpfen zu sehen, die aber gleich wieder verschwanden, sich in den goldroten Haaren versteckten.

Denn heimlich fühlte sich Arischa hier als Gefangene, die Klosterzellen schienen ihr Gefängniszellen. Es zog sie hinaus in die Freiheit, obwohl sie wußte, daß das Leben in der Welt noch schwerer war. Mutter Valeria, streng, aber gutherzig, hatte ihr erzählt, wenn sie die Schwermut der jungen Novize bemerkte, daß nicht so sehr die weltlichen Versuchungen im allgemeinen, nicht die Ehe das Heil eines alleinstehenden jungen Mädchens bedrohten, als vielmehr die dunklen Straßen des Nachts und die Häuser mit den roten Laternen in der Kleinbürgergasse, aus denen ein Mädchen nicht mehr lebend herauskomme; es gehe zugrunde an üblen Krankheiten.

Es war unheimlich, an die Welt zu denken, und doch zog es Arischa in die Freiheit. Davon hatte sie auch zu ihrer Freundin Warenka, der Diskantsängerin, gesprochen; aber Warenka hatte gelacht.

»Du bist ein Dummchen, Mädel! Wie lange schon lebst du im Kloster und hast von nichts eine Ahnung … Bloß wir, die Novizen, sind hier nicht frei, weil unsere Nonnen Dienstmädchen und Köchinnen brauchen, die nichts kosten; was würden sie ohne uns anfangen! Sieh sie dir an, die fetten Heiligen … Es gibt welche, die streng sind, zu sich und anderen, daß man seines Lebens nicht froh wird. Aber warum sind sie streng? Weil sie erbittert sind über ihr gescheitertes Leben in der Welt; sie hassen darum alle Menschen. Junge Witwen, die ihrem verstorbenen Gatten nachtrauern; doch ihre Trauer entspringt nicht selbstloser Liebe, sondern sinnlichem Verlangen. Sie denken an ihren Mann, an seine Liebe, seine Zärtlichkeiten, und um die fleischliche Begierde abzutöten, kasteien sie sich mit Fasten und Beten. Davon trocknen sie, schrumpfen sie zu Mumien ein bei lebendigem Leibe und werden verbittert und sind ergrimmt über die Männer, über ihr eigenes mißratenes Leben und hassen alles und alle. Und wir befinden uns ganz in ihrer Gewalt, haben es schlimmer als Dienstmädchen, die doch wenigstens frei sind, während wir vom Kloster nicht loskommen. Die schlimmsten aber sind die fetten Nonnen. Für die ist eine Novize überhaupt kein Mensch. Lassen sich von oben bis unten bedienen. Den ganzen Tag machen sie Besuche bei Kaufleuten und Gönnern, essen, trinken, schwatzen, klatschen, vermitteln Heiraten. Inzwischen müssen wir für sie arbeiten, und wenn der Abend kommt, über dem Stickrahmen sitzen und an Brautaussteuern nähen. Und wenn sie nach Hause kommen, können sie nicht einschlafen, rufen ihre Novize zu sich, erklären, es wäre ihnen kalt. ›Komm, leg' dich zu mir, wärmen wir uns aneinander …‹ Und dann wärmen sie sich an dir die ganze Nacht durch, daß dir heiß und kalt wird und du am Morgen mit schwarzen Ringen um die Augen aufstehst … Das ist unser Leben. Du weißt nichts davon, warst unter Mutter Valerias Schutz gut aufgehoben … Und die Kinder, die bei ihnen in den Zellen leben und als ihre verwaisten Nichten gelten … Nichten! Hat sich was! Ihre eigenen Kinder sind's …«

Mit klopfendem Herzen lauschte Arischa den Reden ihrer Freundin über die heimlichen Dinge, die im Kloster vorgingen, hatte doch auch sie etwas zu verheimlichen …

 

Mutter Valeria lebte noch, als eine vornehme Dame mit ihrem Sohn, einem frischgebackenen Studenten, in der Zelle der Nonne vorsprach. Sie brachte allerlei Süßigkeiten aus der Stadt mit.

»Mutter Valeria, Sie haben mir versprochen, mich in der Kunst des Teppichstickens zu unterweisen …«

»Gern, Wladimir Nikolajewitsch, ich habe den Kanevas bereits in den Stickrahmen gespannt … Arischa, stelle uns den Samovar auf und hilf mir dann, dem jungen Herrn das Sticken beizubringen.«

Arischa fand es komisch, daß ein junger Mann sticken lernen wollte, und betrachtete ihn verstohlen.

Den ganzen Abend über saßen die drei beim Teetrinken beisammen. Arischa pauste die Zeichnung auf den Kanevas und suchte zusammen mit dem Studenten die richtigen Farbfäden aus. Als er unbeholfen die Nadel einzufädeln versuchte, wollte sie ihm helfen und beugte sich zu ihm; ihre Blicke trafen sich, Arischas Herz machte einen Sprung, und seine Hände wurden ganz schwach unter dem Blick der Mädchenaugen. Darauf hob Arischa den ganzen Abend über kein einziges Mal mehr die Lider, während Wladimir Belopolskij sie immerfort von der Seite ansah und ihren Blick aufzufangen versuchte.

Er besuchte Mutter Valeria noch mehrere Male, um sticken zu lernen, und stickte ein buntes Muster in das Mädchenherz. Er kam nicht gleich in die Zelle, sondern ging zuerst in die Kirche zur Abendmesse, stellte sich neben den Chor und warf Schwester Arischa schmachtende Blicke zu. Mutter Valeria konnte ihm nicht viel behilflich sein, ihre alten Augen versagten den Dienst; so mußte denn Arischa einspringen.

Der Herbst kam, und Wladimir Nikolajewitsch reiste nach Petersburg; den Teppich hatte er kaum angefangen. Mutter Valeria sagte:

»Stick' du ihn zu Ende, Arischa, und dann schenken wir ihn ihm. Er ist ein guter Junge, bescheiden und züchtig wie ein junges Mädchen. Die ganze Familie ist so, auch seine Schwester Sina. Ich will dich mal mitnehmen, wenn ich nächstens wieder hingehe …«

Es wurde nichts daraus; Mutter Valeria erkrankte, quälte sich viele Monate, und im Frühjahr ging ihre Seele zum Herrn ein.

Arischa aber saß den ganzen Winter hindurch über den Stickrahmen gebeugt und nähte mit jedem Nadelstich ein Stückchen von ihrem Herzen in das Muster hinein. Sie wußte noch nicht, daß sie liebte, mußte aber immer an ihn denken; auch daran mußte sie denken, wie sie eng beieinander gesessen und zusammen am Teppich gestickt hatten.

Nachdem Mutter Valeria gestorben war, kam Arischa in die Obhut von Jewdokia Semjonowna Denissowa. Sie verbarg den noch nicht ganz beendeten Teppich und träumte davon, wie sie ihn Wladimir nach seiner Rückkehr schenken würde.

Arischas neue Herrin wandte sich bald an die Äbtissin mit der Bitte, man möge sie einkleiden; sie spendete dem Kloster eine größere Summe, empfing die Weihen und hüllte sich in die Soutane.

Die junge, schwarzhaarige Mutter Jewdokia befleißigte sich eines streng klösterlichen Lebens. Arischa hatte es schwer bei ihr, kam nie zur Ruhe. Das Singen im Chor war ihre einzige Freude. Wie ein Vogel sein Lied, so schmetterte sie die frommen Weisen hinaus, den Blick auf die Stelle gerichtet, wo Wladimir zu stehen pflegte. Sie hoffte, daß er im Frühjahr zurückkehren und wieder die Abendmessen besuchen würde, um einen Blick auf sie zu werfen.

Er hatte sie nicht vergessen, erschien eines Tages und stellte sich wieder neben den Chor. Nach der Messe schritt er vor der Kirche auf und ab. Arischas Herz klopfte, sie ordnete langsam die Noten, wartete, bis die Kirche sich geleert hatte, trat zu ihm hinaus.

»Wladimir Nikolajewitsch, jetzt können wir nicht mehr zusammen sticken …«

»Warum nicht, Schwester Arischa?«

»Mutter Valeria ist gestorben. Ich bin Dienstschwester bei einer anderen Nonne, die ist streng …«

Sie merkte nicht, wie ein Knäuel ihr die Kehle heraufrollte und ein feuchter Schleier ihre Augen noch sanfter erstrahlen ließ … Sie standen wohl eine Minute lang stumm da, während es schmerzlich in ihren Seelen zuckte.

»Zur Abendmesse werde ich aber doch kommen, Arischa.«

Erwidernd hallte es zurück:

»Kommen Sie …« Sie erschrak über ihre Worte, senkte den Kopf. Doch als sie ging, flüsterte sie: »Auf Wiedersehen …«

Er kam wieder, haschte nach ihren zärtlichen, traurigen Blicken. Schwester Warenka bemerkte es, hielt Arischa zurück, fragte geradeheraus:

»Liebt er dich?«

»Wer?«

»Der Student, der immer herkommt.«

»Ich weiß nicht …«

»Lüg nicht, Arischa. Du liebst ihn, ich sehe es an deinen Augen, und auch er liebt dich, auch ihn verraten die Augen.«

»Ich weiß nicht …«

»Ich würde ihn lieben an deiner Stelle. Er ist jung und hübsch … Was willst du mit deiner Keuschheit? Für wen sparst du dich auf Hoffst du als Nonne zu heiraten, im Kloster einen Mann zu finden?!«

»Ich weiß nicht …«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht! Du solltest es aber wissen … Wie viele Jahre lebst du schon im Kloster und bist wie blind! Auch ich war früher solch ein Dummchen; die Liebe aber hat mich klug gemacht, sie wird auch dich belehren.«

»Ich weiß nicht …«

»Du wirst schon wissen, wenn die Liebe dich bedrängt. Mir hat sie die Augen geöffnet, und ich will sie dir öffnen … Er wird noch ein paarmal herkommen, wenn er aber merkt, daß du ihn immer nur anguckst, wird ihn die Sache bald langweilen, und er wird es aufgeben … Es gibt ja genug hübsche Mädchen in der Stadt. Vielleicht bist auch du hübsch, aber er sieht ja unter Kappe und Kutte nichts von deiner Schönheit. So ein Stadtfräulein aber hat hier ein Bändchen und dort ein Schleifchen, im Brustausschnitt schimmert ein goldenes Medaillon, ihre Haare ringeln sich … Vielleicht hat die Brennschere nachgeholfen, während du goldenes Lockenhaar hast, aber es ist verborgen … Soll ich dir einen Rat geben? Soll ich? …«

»Ich weiß nicht …«

»Also dann höre: Sowieso bleiben wir bis an unser Lebensende im Kloster; für wen sollten wir da unsere Unschuld hüten? Du siehst, ich bin nicht daran gestorben, habe aber geliebt … einen Seminaristen … Und wie! Auf dem Friedhof trafen wir uns. Meine Dicke geht mit den Hühnern schlafen, und kaum war sie im Bett, so war ich zur Hintertür hinaus und stahl mich auf den Friedhof. Du denkst, die Nonnen wissen nichts davon? … Sie haben es selbst ebenso gemacht! Wir alle sind Sünderinnen, und gibt es einmal eine Ausnahme, so ist es eine Kranke, halb Verrückte … Flüstere ihm zu … Wie heißt er übrigens?«

»Wladimir.«

»Also flüstere deinem Wladimir zu, er möge am Abend auf den Friedhof kommen. Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben; liebe ihn, sei nicht bange … Es wird dir nichts geschehen, und wenn doch etwas geschieht, so will ich dir in allem helfen; ich weiß schon wie. Wirst davon nicht gleich sterben. Sieh mich an: ich habe geliebt, und solange ich jung bin, werde ich wieder lieben, wenn ich jemand finde, den ich mag. Also sei kein Dummchen. Ach du! Ich wäre an deiner Stelle schon längst mitten drin …«

 

Arischa verbrachte eine schlaflose Nacht; sie grübelte. Ihr war heiß auf der harten Unterlage. Bald kitzelten die Haare ihre Brust, bald pochte heftig ihr Herz, bald erstarb es, bald verschränkte sie die Arme unter dem Kopf, dachte an den Geliebten, und ein unheimliches Beben rieselte ihr über den Leib. Wie sollte sie ihm sagen, er möchte auf den Friedhof kommen? … Sie würde sich schämen … Der Teppich kam ihr in den Sinn; er sollte auf den Friedhof kommen, um den Teppich abzuholen …

Schon lange lebte Arischa im Kloster, aber außer Mutter Valerias Zelle und dem Kirchenchor hatte sie nichts gesehen, hatte nichts von den heimlichen Umtrieben im Kloster bemerkt, vielleicht darum nicht, weil ihr Jungmädchenherz noch schlummerte. In den sauberen Zellen mit den Mullgardinen, den Geranien, den Samtdeckchen ist nichts von Sünde zu bemerken; die Sünde im Kloster ist lichtscheu, sie verbirgt sich tagsüber, kriecht erst des Nachts aus ihren Schlupfwinkeln hervor und umstrickt das lüsterne Fleisch. Solange Arischas Herz ruhig schlug und sie sich in Mutter Valerias Obhut befand, die alt war und nur dem Gebet und der Buße lebte, hatte die junge Novize nichts von den Heimlichkeiten der Nonnen bemerkt. Erst jetzt, da ihr Herz ungestüm pochte, erinnerte sie sich an mancherlei Dinge, die sie früher nicht beachtet, deren Sinn ihr erst Warenkas Erklärung erschlossen hatte …

Während der Abendmesse kämpfte sie die ganze Zeit gegen aufsteigende Tränen; ihr bangte vor dem entscheidenden Augenblick. Wie, wenn die Nonnen es bemerkten? Was würde man von ihr denken! … Wieder verließ sie als letzte die Kirche, trat zögernd auf die Stufen hinaus. Er wartete. Sie gab sich den Anschein, als wolle sie an ihm vorübergehen. Doch Wladimir trat auf sie zu.

»Schwester Arischa, ich möchte Sie gern sprechen … Wo könnten wir uns treffen? …«

»Wladimir Nikolajewitsch, das ist unmöglich … Im Kloster geht es anders zu als draußen in der Welt; ich bin Nonne. Ich möchte Ihnen nur gern Ihren Teppich abgeben, vielleicht brauchen Sie ihn.«

»Gut, ich will hier warten. Bringen Sie ihn.«

»Hierher kann ich ihn nicht bringen. Gehen Sie hinten um das Kloster herum, da ist ein Pförtchen, durch das man auf den Friedhof gelangt. Ich bringe Ihnen den Teppich dorthin, auf den Friedhof. Aber Sie müssen sich ein wenig gedulden, gleich kann ich nicht fort; es ist noch hell, man könnte mich bemerken.«

Sie eilte in Jewdokias Zelle. Wie langsam verstrich die Zeit! Wann würde Mutter Jewdokia sich endlich zur Ruhe begeben! Die Angst plagte sie, Wladimir könne ungeduldig werden und fortgehen; dann würde sie ihn niemals wiedersehen! Sie suchte den Teppich hervor, der fast ganz fertig war; nur an einer Ecke fehlten ein paar Stiche. Es war ein kleiner Wandteppich; das Muster stellte einen sagenhaften Helden dar, der nachdenklich einen Markstein anblickte; zu Füßen seines Rosses lag ein weißer Totenschädel. Arischa betrachtete das Bild, und der Gedanke huschte ihr durch den Kopf, daß Wladimir der Held und der Schädel zu seinen Füßen ihr Schädel sei.

Endlich war es still und dunkel geworden; Arischa schlich sich hinten an den Zellen vorbei und längs der Mauer zu dem kleinen Pförtchen in der Umzäunung. Sie fürchtete, es könnte geschlossen sein, aber ein Schlüssel stak im Schloß. Sie öffnete und eilte auf den Friedhof.

Wladimir wartete dicht am Eingang auf sie.

»Arischa!«

Sie schauerte erschrocken zusammen.

»Ach, Sie sind's! Hier bringe ich Ihnen den Teppich. Ich habe ihn zu Ende gestickt, als Mutter Valeria noch lebte, an ihrem Krankenbett. Hier, Wladimir Nikolajewitsch, nehmen Sie, ich muß wieder fort …«

Er trat nahe an sie heran, ergriff still ihre Hand. Sie wich nicht zurück, senkte nur, ergeben in ihr Schicksal, vor Scham und Verlegenheit den Kopf.

»Arischa, geh nicht gleich wieder fort … Bleibe ein wenig …«

Er hielt ihre Hand; sie schritten in das abendliche Halbdunkel. Es war nicht mehr der Klosterfriedhof, durch den sie wanderten, es war ein seliger Garten, in dem unerfüllte Frauenträume vom Jammer des Erdenseins in stillem Frieden ausruhten …«

Einst waren sie um ihrer verlorenen Liebe willen ins Kloster geflüchtet und gemartert worden von ihrem sündigen Fleisch, von der Sehnsucht nach dem Geliebten, der gestorben war, der sie verlassen, verraten hatte. Es war stärker als sie: sie kasteiten sich mit Fasten und Beten, schluchzten krampfgeschüttelt auf hartem Lager, schlugen bis zur Bewußtlosigkeit mit der Stirn gegen den Boden und hatten doch nicht vergessen, doch nicht töten können, was ihr eigentliches Leben war, und gewartet, daß der Tod sie erlöse von dem sündigen Fleisch. Oder sie hatten, erschöpft durch den hoffnungslosen Kampf, sich zügellos der Sünde hingegeben, gebuhlt mit jedem, der ihren gierigen Armen zu Willen war – gleichviel ob Mann oder Frau, wenn die Hingabe nur Erlösung brachte von dem Marterschrei des gepeinigten Blutes – um dann aufs neue Buße zu tun in ohnmächtiger Selbstzerfleischung, und danach aufs neue sich in Sehnsucht nach dem verlorenen Glück zu verzehren … Nun waren sie alle befreit von dem sündigen Verlangen, von dem sterblichen Leibe, blaue Vergißmeinnicht waren ihm entsprossen, ein Stückchen blauen Himmels war herabgesunken, hüllte sie in blaue Schleier, und schattiger Flieder schützte sie vor der Glut der sengenden Mittagssonne …

Fern von den Menschen, am Rande der Stadt, wo die letzten Häuser aufgehört hatten, ruhten sie im Frieden der geweihten Erde; nur hier und da nannte ein Kiefernkreuz, sanft auf das Grab hinabsinkend, einen vergessenen Namen …

Nur eine kleine Wendung – und man sah unten die Stadt in einem goldenen Nebel glimmen. In der bläulichen Luft schwankten geisterhaft die Kuppeln von Kirchen, die Umrisse von Dächern und Häusern, und wenn die letzten Lichtstreifen am Himmelsrande erloschen und die Sterne, noch leicht verschleiert, langsam erstrahlten, flammten die elektrischen Laternen der Straßenzüge wie leuchtende Girlanden auf. Wenn die Nacht auch noch so finster war, glomm doch über der Stadt ein blaugrüner Nebelschimmer und weckte die Vorstellung von märchenhaftem Leben …

Die beiden hatten sich umgewandt und blickten, umschlungen, lange auf die Stadt hinab. Und als es ganz dunkel geworden war, küßte er sie … Ihm war, als hätte er sie nur einmal geküßt, in einem endlos langen Kusse ihre Lippen berührt, nicht ungestüm, sondern schmerzlich sehnsuchtsvoll …

»Morgen abend komme ich wieder her, Arischa; du mußt auch kommen!«

»Nein, Sie sollen nicht kommen, Liebster … Warum, warum wollen Sie denn wieder herkommen? …«

»Bist du nicht glücklich? Laß uns glücklich sein, Arischa! …«

 

Arischa verbrachte einen qualvollen Tag. Sie fürchtete, ihr Leben zu zerstören, ihr Herz aber sehnte sich nach Freude, lag schwer wie ein Stein in der Brust und schien in eine Tiefe zu sinken, und das Blut pochte stoßweise in Armen, Beinen, im Kopf. Ihre Gedanken verwirrten sich, und bedrückend wirkte die Gewißheit, daß sie doch hingehen, sich im Schatten der engen Gäßchen zwischen den Zellengärten auf den Friedhof schleichen würde. Was dann weiter geschehen würde, daran wagte Arischa nicht zu denken, aber es mußte etwas Unheimliches und dabei unendlich Beseligendes sein …

Als sie am nächsten Abend die Zelle verließ, fürchtete sie, eine Bohle könnte knarren, das Pförtchen knirschen. Ohne nach rechts oder links zu blicken, stahl sie sich, zusammengeduckt, mit gesenktem Kopf, durch das Dunkel und zuckte zusammen, als das Schloß leise klirrte. Hinter der Mauer machte sie ein paar tiefe Atemzüge, zog die abendlich frische Luft, die von den Feldern, vom Fluß herüberwehte, in sich ein und lief dann weiter, nur einen Gedanken im Kopf: Ihn noch einmal wiedersehen, nur einmal, mochte dann kommen, was wollte!

Keines fand Worte. Es war eine einzige, nicht endenwollende, selige Liebkosung, die das Mädchenherz erlöste, es auflöste in der Erkenntnis des Ungeahnten, Unfaßlichen. Und das taufeuchte Gras schien warm und duftig im Schmuck der Vergißmeinnicht.

Er hatte ihr die Kappe abgenommen, die Haare gelöst, die prallen Zöpfe aufgeflochten und badete sein Gesicht in den goldenen Wellen. Erst als die Glocke zur Mitternachtsmesse rief, trennten sie sich. Hastig raffte sie ihr Haar zusammen, schob es unter die schwarze Kappe und eilte fort.

Vor Liebe und Seligkeit und aus Angst vor der ungewissen, unheimlichen Zukunft weinte sie die Nacht durch bis zur Frühmesse …

Abend für Abend stahl sie sich auf den Friedhof, gab sich ihm hin, restlos, liebestrunken …

 

Erst zu Beginn des Herbstes kam Arischa zu sich, als ihr zum erstenmal übel wurde und sie beim Anblick von Essen Ekel empfand. Verstört eilte sie zu ihrer Freundin Warenka.

»Mir ist schlecht zum Erbrechen; ich weiß nicht, was ich anfangen soll! Kannst du mir helfen?«

»Ein Dummchen bist du, hast von nichts eine Ahnung. Das wird schon wieder vergehen …«

»Aber woher kommt es denn, Warenka?«

»Schwanger bist du, daher kommt es.«

Ganz gebrochen schleppte sie sich am Abend auf den Friedhof, auf das Mitgefühl des Geliebten hoffend. An ihn geschmiegt, saß sie still da, sagte es ihm in scheuen Worten, stammelnd, verworren. Er bemühte sich, sie zu beruhigen.

»Sei nicht bange, Arischa; ich liebe dich. Ich will es Mutter sagen, dann heiraten wir; ich weiß, sie wird es erlauben. Wir werden glücklich sein, Arischa.«

Während er sprach, dachte sie an Mutter Valerias und Warenkas Worte, daß es für ihresgleichen keinen Weg aus dem Kloster gäbe: sie konnten nichts, wußten nichts, taugten zu nichts. Sie brach in Tränen aus. Als sie sich wieder gefaßt hatte, sagte sie mit zuckenden Lippen, schlicht und einfach:

»Ich will nichts von dir, Wolodja … Ich war unendlich glücklich durch deine Liebe; ein anderes Glück ist mir auf Erden nicht beschieden. Hatte ich es denn darauf abgesehen, daß du mich heiratest, als ich zu dir kam? Ich wollte nichts von dir als deine Liebe. Ich bin Nonne, bin es darum, weil ich nichts anderes sein kann. Du bist klug und gebildet, ich aber bin ein Dummchen, kann nichts weiter als im Chor singen und Handarbeiten machen. Was solltest du mit mir anfangen? … Ach du! … Nicht einmal als Dienstmädchen wäre ich deiner Mutter gut genug. Und du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, sollst dich um mich nicht grämen. Wir beide haben verschiedene Wege; dir steht die Welt offen, mir bleibt nichts als das Kloster. Nie werde ich dich vergessen, du Lieber, mein Leben lang deiner zärtlichen Liebe gedenken … Und über mein Unwohlsein hat Warenka mir gesagt, daß das wieder vergehe; sie wird mir beistehen. Warenka hat ein gutes Herz. Küsse mich lieber … Vielleicht sehen wir uns zum letzten Male …«

 

Nach diesem Tage, da sie ihr Herz vor ihm ausgeschüttet hatte, ging Arischa nicht mehr auf den Friedhof. Und bald darauf reiste Wladimir Belopolskij zum Semesterbeginn nach Petersburg.

 

Trübe Herbstabende kamen mit Regengeprassel und klebrigem Schmutz; Wolken hingen wie unausgewrungene Aufwischlappen am Himmel. Im Kloster war es düster und dunkel, in den Zellen mit den ungestrichenen Wänden aus rohen Balken, in den Vorgärtchen mit den kahlen Bäumen ungastlich, so ungastlich wie das ganze Klosterleben. Und Sehnsucht, Verzweiflung, Grauen und Sünde gingen in den Zellen um.

Den ganzen Tag blieb Schwester Arischa in der Zelle, sang auch nicht mehr im Kirchenchor, hatte sich krank gemeldet; zwei Monate lang wurde sie unablässig von würgender Übelkeit geplagt.

Sie schwieg und hielt sich verborgen; alle ringsum aber wußten, wie es um sie stand, und schwiegen auch, kalt und finster. Schon längst war von scharfen Augen erspäht worden, wie sich Arischa des Abends auf den Friedhof gestohlen hatte, und hämisch und neidisch hatten die quabbligen Nichtstuerinnen in wohlgefälligem Flüsterton getuschelt:

»Schwester Arischa läuft heimlich auf den Friedhof … So'n schamloses Balg …«

»Mit wem hält sie's denn?«

»Ein Student ist's, aus der Stadt.«

»Man wird es Mutter Jewdokia stecken müssen.«

Und eine Freundin flüsterte es ihr denn auch zu.

Seitdem Dunja das Klimowsche Haus, wo alles an Marja Karpowna erinnerte, verlassen hatte, war sie ruhiger geworden. Sie fügte sich leicht in die gleichmäßige Klosterordnung. Schon früher hatte sie gern mit der alten Pilgerin geklatscht. Im Kloster bot sich ihr reichlich Gelegenheit, dieser Schwäche zu frönen. Seit dem Sommer machte sie aus Langerweile mit befreundeten Nonnen Besuche bei Gönnern in der Stadt. Eines Abends, als sie mit ihrer Nachbarin, Mutter Apollinaria, ins Kloster zurückkehrte, sagte diese:

»Ihr Mädel da, die Arischa, die läuft ja auf den Friedhof. Des Nachts stiehlt sie sich hin.«

»Warum?«

»Hat eine Liebschaft mit einem jungen Studenten. Mehr als einmal haben verschiedene Mütter gesehen, wie sie sich hinschlich und dabei scheu um sich blickte; es ist das erstemal bei ihr, da blicken sie sich noch um.«

»Ich jag' sie morgen fort, das lasse ich nicht zu.«

»Weshalb wollen Sie das Mädel fortjagen? Mag sie sich doch vergnügen … dafür fällt sie nachher Ihnen zu. Dann haben Sie das Mädchen in der Hand, Leib und Seele, können mit ihr anstellen, was Sie immer wollen. Mit Ihrer Freundin, der Warenka, meiner Dienstschwester, war es genau so. Ich ließ sie ruhig sich austoben mit ihrem Seminaristen; mochte sie doch, um so sicherer mußte sie mein werden. Als sie sich nachher mit aufgetriebenem Bäuchlein in meiner Zelle verbarg, da hab' ich sie mir vorgenommen. ›Du hast herumgehurt wie eine geile Katze‹, habe ich zu ihr gesagt, ›und ich habe dazu geschwiegen, jetzt aber sollst du für deine Sünde büßen‹ …«

»Auch meine Arischa soll dafür büßen, dafür will ich schon sorgen!«

»Mutter Jewdokia, Ihnen will ich's ganz im Vertrauen sagen … Als die Warja in meiner Zelle die Zeit ihrer Schwangerschaft absaß, sprach ich zu ihr: ›Warenka,‹ sagte ich, ›du bist nicht die erste und nicht die letzte, meine Liebe, das widerfährt so mancher. Bist halt ein zärtliches Mädel, konntest dich nicht bezwingen, hast gesündigt … Auch ich bin sündig und habe zärtliche Mädelchen gar zu lieb. Du hast's ja jetzt auch nicht leicht, so ohne Zärtlichkeit und Liebe; komm in der Nacht zu mir, ich will dich herzen, und du herzt mich. Dann wird uns beiden leichter werden; auch ich quäle mich ja herum, du aber bist ein zärtliches Mädelchen, das sehe ich wohl; also komm heute nacht zu mir.‹ Sie kam, wußte nicht, warum und wozu, aber sie kam … Zuerst muckte sie auf. ›Was fällt Ihnen ein?‹ sagte sie, ›das kann ich nicht …‹ – ›Ach, das kannst du nicht?‹ antwortete ich. ›Aber auf den Friedhof laufen, das kannst du? So sei mal jetzt mäuschenstill, mein Liebchen, sonst schicke ich dich auf der Stelle zur Mutter Äbtissin. Du meinst, dann wirst du aus dem Kloster gejagt? Hat sich was, meine Liebe, eingekerkert wirst du, eingemauert bei lebendigem Leibe, dein ganzes Leben lang. Ich habe dich jetzt vollkommen in der Hand. Du hast deinen Willen gehabt und hast dir dein Teil genommen; ich habe dazu ein Auge zugedrückt. Jetzt aber will ich meinen Willen haben und mein Teil, und du füge dich! …‹ Sie müssen Arischa aber vorsichtig und allmählich dahin bringen, sonst kriegt sie noch einen Schreck …«

Die beiden Nonnen trennten sich als Busenfreundinnen, küßten einander fromm auf die Schulter.

»Unser Herr und Heiland segne Sie für Ihren lieben Rat …«

 


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