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6

Bis zum Herbst strich der steife Hut hinter Afonka einher, bis zum Herbst erhielt Afonka aber keinerlei Aufträge von der Partei. Erst als Kälte und Stürme einsetzten und die Schreckensnachrichten von den Feldern der Mandschurei des Menschenmeer aufwühlten, begannen Afonkas sonnabendliche Zusammenkünfte mit Petrowskij wieder, jedoch nicht mehr in der Bierstube an der kleinen Spasskaja Straße, sondern in dem Wirtshaus »Treffpunkt für Freunde« in der Wiborger Vorstadt. Fabriksirenen stießen schrille Alarmpfiffe aus, murrende Stimmen erklangen in den Werkstätten, zuerst im Flüsterton an den Drehbänken, dann immer lauter und lauter überall, wo Treibriemen summten. In den Wandelgängen der Universität und der übrigen Hochschulen standen vom Morgen bis zum Abend Polizisten, und durch die Straßen zogen berittene Truppenabteilungen. Nicht nur die »Klassenbewußten«, sondern fast jeder Mensch, der gesunden Menschenverstand bewahrt hatte, befand sich unter geheimer Polizeiaufsicht, und jeden Tag wurde in den Parteiausschüssen und in der Verwaltung der Geheimpolizei die Frage erwogen, ob es nicht an der Zeit sei, loszuschlagen, das heißt das Volk auf die Straße zu schicken, beziehungsweise die Einzelzellen zu bevölkern. Auch über Afonka war durch den steifen Hut bereits bekanntgeworden, daß er wieder mit einem Studenten zusammenkomme, der eine führende Rolle spielen müsse, aber ungemein vorsichtig sei, und es wurde beschlossen, Kaljabin einen gründlichen Schreck einzujagen. Gendarmen in blauen Reithosen drangen in sein Zimmer ein und brachten ihn auf das Polizeiamt, wo er keinem Verhör unterzogen, sondern sozusagen in freundlichster Weise empfangen wurde.

»Also sehen Sie mal, verehrtester Genosse, – so sagt man doch bei Ihnen da? – also verehrtester Genosse, wenn Sie weiter in Freiheit umherspazieren und dem Thron und dem Vaterland treu bleiben wollen, so treten Sie gefälligst in unsere Dienste, sonst setzen wir Sie hinter Schloß und Riegel, damit Sie's wissen. Es ist keine Art, treue Vaterlandssöhne kopfüber die Treppe hinunterzuwerfen. Überlegen Sie sich die Sache und teilen Sie uns nach zwei Tagen Ihren Entschluß mit. Bis dahin sind Sie sozusagen frei, damit Sie ruhig nachdenken können.«

Afonka überkam eine tierische Wut; sein abgebrühtes Innere kochte vor Haß gegen alles, was Obrigkeit hieß. Da ihm aber klar war, daß er allein sich aus den Fangarmen der Geheimpolizei nicht würde befreien können, eilte er auf das Adreßbüro und erkundigte sich nach Petrowskijs Wohnung.

Er traf den Studenten nicht zu Hause an, setzte sich auf einen der schadhaften Stühle und wartete reglos bis zum Abend. Erst um elf erschien Petrowskij. Da Afonka im Dunkeln saß, schrak Petrowskij zusammen, als er jemand in seinem Zimmer bemerkte.

»Wer ist da?«

»Ich bin's, Nikodim Alexandrowitsch.«

»Was wollen Sie? Warum sind Sie hier?«

Afonka berichtete.

»Was soll nun werden?«

»Ich will mir's überlegen.«

»Dazu ist keine Zeit, übermorgen muß ich Antwort geben.«

»Sie übernachten bei mir; morgen sage ich Ihnen, was Sie zu tun haben.«

Am nächsten Morgen sagte Petrowskij beim Fortgehen:

»Warten Sie hier; keinen Schritt vor die Tür, damit man Ihnen nicht auf die Spur kommt.«

Afonka besah sich die herumliegenden Bücher, blätterte in Broschüren, las Zeitungen. Die Zeit zog sich endlos hin, man hätte zweimal sterben können. Als der Abend anbrach, klopfte jemand an die Tür und trat, ohne auf eine Antwort zu warten, ins Zimmer; tuck-tuck machten die Absätze.

»Warum sitzt du im Dunkeln, Nikodim?«

Afonka fuhr zusammen; es war Fenitschka!

»Sie irren sich, Fjokla Timofejewna, ich bin es, Kaljabin. Ich warte auf den Hausherrn. Sie haben dies Wiedersehen wohl nicht erwartet? … Schicksal …«

»Wird Nikodim Alexandrowitsch bald kommen?«

»Ich glaube wohl. Ich habe bei ihm übernachtet, er weiß, daß ich warte.«

»Sagen Sie ihm, daß ich hier war. Leben Sie wohl.«

»Wollen Sie nicht auf ihn warten?«

Sie hatte ihn nicht begrüßt und nun ging sie, ohne ihm die Hand zu reichen.

Ihm kam zum erstenmal in den Sinn, daß es gut wäre, sich Petrowskijs zu entledigen. Aber wie? … Der steife Hut fiel ihm ein, das Angebot der Geheimpolizei; der Gedanke an Verrat begann wie ein Wurm an ihm zu nagen. Er würde ja nicht die Sache verraten, die ihn gelehrt hatte, das Unrecht der Welt zu sehen, sondern nur um den Menschen handelte es sich, der ihm den Weg zu seinem Stern von Bethlehem verlegte. Nagend fraß sich der Wurm der Versuchung in sein Inneres ein, leise, hartnäckig …

Petrowskij trat ein.

»Nun, was soll ich tun?«

»Willigen Sie ein.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Partei gibt Ihnen den Auftrag, Kaljabin. Sie werden suchen, möglichst viel zu erfahren, und bei den Zusammenkünften mit Parteigenossen – mit wem und wo, wird Ihnen gesagt werden – mitteilen, wem das Gefängnis droht, wer beobachtet wird und von wem, bei wem Haussuchung vorgenommen, wer verhaftet werden soll. Angeben dürfen Sie niemand, bevor die Partei Ihnen nicht jemand nennt. Haben Sie verstanden?«

»Also ein doppeltes Spiel soll ich spielen? Provokateur werden?!«

»Wenn diese äußerst wichtige und verantwortungsvolle Arbeit uns hilft, das Ziel, dem auch Sie zustreben, schneller zu erreichen, liegt kein Grund vor, sie Provokation zu nennen.«

»Leben Sie wohl, Petrowskij. Ich will es tun. Das Schicksal will es wohl so.«

»Jawohl, das Schicksal.«

»Ja, ja …«

Afonka stieg die Treppe hinunter und dachte, es sei wirklich eine Schicksalsfügung: war doch Fenitschka, sein Stern von Bethlehem, selbst gekommen, um ihm den neuen Weg zu zeigen, damit er den, auf den das Schicksal wies, aus der Bahn seines aufgehenden Sternes in eine Einzelzelle des Zentralgefängnisses hinabstieße! Haß im Herzen gegen die Leute, die vor dem Winterpalais unschuldiges Blut vergossen hatten, ging er am nächsten Morgen zu ihnen, gelobte sich aber, seiner Wahrheit treu zu bleiben und ihr auch hinfort zu dienen. Der Wurm des Verrats an Petrowskij aber nagte weiter in ihm.

 

Er meldete sich noch vor Ablauf der festgesetzten Frist in der Gendarmerieverwaltung und fragte Schreiber, Wachtmeister und Herren in steifen Hüten:

»Ich muß hier einen Herrn sprechen – er hat einen dünnen schwarzen Schnurrbart und kleine Äuglein.«

»Wie heißt er?«

»Seinen Namen kenne ich nicht, er trägt aber einen Scheitel.«

Eine Tür wurde geöffnet; in dem Zimmer saß ein Herr mit pomadisiertem Haar, Achselstücken, schmalspitzigen Reitstiefeln und so engen Reithosen, daß man fürchtete, seine Schenkel könnten herausplatzen; sein Schnauzbart war parfümiert.

»Euer Hochwohlgeboren, Kaljabin ist da; er ist einverstanden.«

»Um sich vor dem Gesetz und unserem Selbstherrscher zu rechtfertigen, haben Sie die Pflicht, uns die Abtrünnigen zu nennen, die Sie kennen; nicht gleich natürlich; zuerst nur einen. Chljupin, mit wem ist er zusammengekommen?«

»Mit einem Studenten.«

»Also diesen Studenten … Sie müssen nun durch Ihre Genossen herausbringen, wann man ihn mit einem Beweisstück greifen kann … Verstehen Sie? Also wenn er etwas Belastendes bei sich hat, wie revolutionäre Propagandaschriften, Drucktypen …«

Afonka trat aus der Gendarmerieverwaltung und warf scheue Blicke um sich; ihm schien, alle Welt wisse, weshalb er da hineingegangen war – um den anzugeben, dem er seinen neuen Glauben verdankte, um seinen Lehrmeister zu verraten! Auf dem Heimweg fühlte er sich als Judas, vermied zu Hause den Blick seines Stubengenossen, des Schlossers, warf sich auf sein Bett, mit dem Gesicht zur Wand. Schlaflos verbrachte er die Nacht und ging am Morgen nicht in die Fabrik, sondern in eine Kneipe. Der steife Hut folgte ihm nicht mehr; er atmete erleichtert auf; das war der einzige Trost bei der Sache! Zur Mittagszeit hatte er sechs Flaschen Bier geleert und sah sich nach einem Wirtshaus um, wo er essen und Schnaps trinken könnte. Seit er Petrowskijs Namen auf der Geheimpolizei angegeben hatte, spürte er, daß ein Schatten auf den Weg nach seinem Bethlehem gesunken war. Er malte sich aus, die kleine Fenja könnte erfahren, daß er ein Verräter sei, und schrak zusammen; aber nein, sie konnte es ja nicht erfahren, niemand hätte es ihr sagen können. Da beruhigte er sich wieder. Er las die Schilder mehrerer Wirtshäuser, auf denen allerlei appetitliche Eßwaren und weißgekleidete, serviettenschwingende Kellner dargestellt waren, und stand plötzlich zu seiner Verwunderung wieder vor der Gendarmerieverwaltung, als hätte es ihn unbewußt noch einmal zu der verhängnisvollen Tür gezogen, die, unsauber und abgegriffen, vor ihm dunkelte. Gleich daneben bemerkte er eine andere, bescheidene Tür, die die Aufschrift trug: Speisehaus. Er trat ein. An einem Tischchen bemerkte er den Mann mit dem steifen Hut und setzte sich zu ihm, um nicht allein zu sein; er fühlte sich wie auf der Flucht vor sich selbst.

»Ah, da kommen Sie ja auch zu uns essen? … Es ist billig hier, und man erhält auch Kredit.«

Afonka schwieg.

»Macht nichts, Afanaßij Timofejewitsch, es kommt so manches vor im Leben! Mir haben Sie es zu verdanken, daß wir nun zusammen arbeiten. Zu Ehren der angenehmen Bekanntschaft und um sozusagen den Friedensschluß zwischen uns zu feiern, spendieren Sie mal ein Fläschchen Zarenschnaps und kalten Aufschnitt dazu.«

Afonka mußte mit jemand vom Fach Freundschaft schließen, wenn er, um den Genossen nützlich sein zu können, einen tieferen Einblick in die Vorgänge auf der Geheimpolizei gewinnen wollte; er stellte sich darum als heilige Einfalt an. Sie leerten eine Flasche Schnaps, Afonka bestellte eine zweite, und als der Abend anbrach, war Chljupin sein Busenfreund.

»Ich bin heute abend frei, Afanaßij Timofejewitsch; zwischen Ljuban und Petersburg pendele ich jeden zweiten Tag, am Vormittag. Morgen muß ich wieder hinter einem Fahrgast herspazieren, wie damals hinter Ihnen«. Chljupin beugte sich vor und flüsterte: »Gehen wir zu den Mädels? Da sind zwei Schwestern, arbeiten auf eigene Rechnung, haben auch keinen Zuhälter, man ist ungestört; eine von ihnen steht in unserem Dienst, für Studenten. Und in gesundheitlicher Hinsicht können Sie ganz ruhig sein. Wir haben ja bloß ein einziges Vergnügen – die Mädels; fragen Sie von uns, wen Sie wollen, jeder hat eine, entweder von jenen, die auf den Strich gehen, oder ein sauberes Arbeitermädel. Von diesen stehen auch viele in unserem Dienst; es reicht nicht für Bändchen und Schokolade, da beschaffen sie sich denn einen kleinen Nebenverdienst …«

 

Über ein Jahr hatte Afonka gefastet, auch wollte er sich diese Mitarbeiterinnen der Geheimpolizei mal ansehen; durch die Weiber würde man am leichtesten hinter Chljupins und seiner Kameraden Geheimnisse kommen, und die Mädel sollten einem ja treuer sein als Ehegattinnen, wie Chljupin ihm versichert hatte, wenn sie auch auf den Strich gingen.

Nicht umsonst war Afonka unter den Kaufmannsfrauen berühmt gewesen, auch hier machte er es der Kleinen recht; ausgehungert wie er war, ging es ohne Unterbrechung die ganze Nacht durch.

Am Morgen begleitete sie ihn hinaus.

»Komm recht bald wieder, Liebster, komm noch heute wieder!«

»Ich würde auch eben gern bei dir bleiben, möchte mich ausschlafen.«

»Aber dann bleibe doch, schlaf dich aus, ich schlafe zusammen mit dir, und am Abend essen wir dann und trinken Tee und süßen Likör, damit es dann nachher ebenso süß wird wie diese Nacht …«

Wie ein Säufer, der an bodenlose Flaschen gelangt ist, konnte Afonka nicht genug bekommen; drei Tage und Nächte verbrachte er bei den Schwestern. Warum sollte er auch nicht? Fenja war ja ein gnädiges Fräulein, war unerreichbar für ihn, einstweilen wenigstens, denn einmal, einmal würde ja die Zeit kommen, da er sein Ziel erreichte! Das Schicksal selbst würde ihm helfen, wie bisher, aber wann würde das sein! … Warum also sollte er, zumal er jetzt in der Welt lebte, Keuschheit bewahren? Wer hatte etwas davon? Auch würde er mit der Zeit durch die Schwestern allerlei erfahren, was den Genossen nützlich sein könnte.

Als er sich verabschiedete, brach das Mädel in Tränen aus.

»Ach, wenn ich nicht heute auf den Strich gehen müßte, um nicht zu verhungern, so würde ich dich nicht fortlassen … Aber wir haben morgen nichts mehr zu essen.«

Afonka blieb an der Tür stehen, blickte ihr in die tief in die Höhlen gesunkenen Augen.

»Wirst du mir treu sein?«

»Ach, Liebster, jedes Mädel würde sich mit Händen und Füßen an dich klammern, alles versetzen, bis aufs letzte Hemd, dir jede Kopeke abgeben, die sie verdient, bloß damit du bei ihr bleibst!«

»Ich komme heute abend wieder. Warte auf mich. Wirst nicht zu verhungern brauchen.«

Er entnahm dem Geldpäckchen von Drakin, das er für den Fall der Not zurückgelegt hatte, einen Hundertrubelschein. Das Mädel starrte ihn entgeistert an, er, der Liebste, nahm nicht Geld von ihr, sondern gab ihr welches, und gleich ein ganzes Vermögen! …

Den Schlosser, seinen Stubengenossen, mied er, schlief des Nachts bei den Schwestern und ließ sein Mädel nicht auf den Strich gehen. Um in Chljupin keinen Verdacht aufkommen zu lassen, erklärte er ihm, er sei in die Kleine verliebt, sie verbrächten zusammen ihren Honigmond. Er sorgte für den Unterhalt der Schwestern und fragte sie geschickt aus. Des Sonnabends teilte er dann in der Bierstube oder in Petrowskijs Wohnung diesem mit, was er erfahren hatte, wobei er vermied, dem Studenten in die Augen zu sehen. Wenn er Petrowskij nicht zu Hause antraf und auf ihn warten mußte – er kam absichtlich früher als vereinbart war – so sah er unter dem Bett und in allen Winkeln nach, ob sich nicht etwas fände, wovon er dem Rittmeister in der Gendarmerieverwaltung berichten könnte; doch fand sich nie etwas.

Die Mitteilungen, die er Petrowskij machte, stimmten immer; wenn der Rittmeister dann seine Leute hinschickte, fand sich nichts Verdächtiges oder der Betreffende war verschwunden. Afonka erwarb sich auf diese Weise allmählich das unbegrenzte Vertrauen der Partei, während er andererseits dem Rittmeister wiederholt versicherte, Petrowskij sei ungemein vorsichtig und halte zu Hause nichts Verdächtiges. Er sei kein gewöhnlicher Parteigenosse, sondern einer der Hauptmacher und darum auf der Hut, erklärte er.

Nach seinen Zusammenkünften mit Petrowskij pflegte er nach der Kleinen Spasskaja in jene Bierstube zu gehen, wo er sich mit einer Flasche Bier ans Fenster setzte und die Vorübergehenden musterte – ob nicht auch sie vorüberkäme? Sie sehen, sie einmal wiedersehen, und sei es noch so flüchtig! Zuletzt begannen ihm die Augen zu schmerzen, dann ging er zu den Schwestern übernachten; unterwegs kaufte er für sie eine Flasche süßen Likörs.

Ein Monat war vergangen, da wurde er in die Gendarmerieverwaltung gerufen.

»Nun, Kaljabin, wie steht's mit dem Studenten Petrowskij? Es wäre an der Zeit …«

»Euer Hochwohlgeboren, es ist nichts da, Sie können sich darauf verlassen.«

»Dann muß eben was da sein! Sie legen einfach etwas hin!«

Afonka brachte zwei Pakete zu den Schwestern, die er sorgfältig verwahrte; darauf ging er zu Petrowskij. Es war um die Dämmerstunde. Während er zum letztenmal auf seinen Gesinnungsgenossen wartete, war ihm, als zöge sich um seinen Hals langsam eine Schlinge zu. Seine Augen wanderten unstet durch das Zimmer; er rauchte unablässig. Als er sich eine neue Zigarette anzündete, bemerkte er plötzlich Fenjas Bild auf dem Schreibtisch; es konnte erst in diesen Tagen dahin gestellt worden sein. Er nahm es in die Hand, besah es von allen Seiten, las die zärtliche Aufschrift: »Dem Nahen, Teuren«, und da stand sein Entschluß fest: Also will es das Schicksal! … Gleich morgen mache ich es … Schiebe die Pakete unter sein Bett … Schicksal!

Petrowskij trat ein; Kaljabin hatte nicht Zeit gehabt, das Bild wieder an seinen Ort zu stellen.

»Was machen Sie da, Genosse Kaljabin?«

»Ich wollte mir die Photographie in der Nähe ansehen – erkannte sie nicht in der Dämmerung; es ist ja unsere Landsmännin!«

»Wie kommen Sie dazu, in meinen Sachen herumzukramen? Sie haben was Neues gelernt.«

Afonka warf ihm einen stechenden Blick zu; dem wollte er mal zum Abschied eine kleine Freude machen …

»Ich bin mit Fjokla Timofejewna länger bekannt als Sie … Noch vom Kloster her, als sie den Sommer bei uns verbrachte …«

Petrowskij sah ihn kurz an und begriff, daß er Afonka durch seine Worte, er habe was Neues gelernt, beleidigt hatte. Nicht zufällig hatte Kaljabin daraufhin das Kloster erwähnt; offenbar war er daran, ihm Fenjas Geheimnis zu verraten; nicht umsonst hatte sie also solche Angst vor dem rothaarigen Mönch! Er ermunterte ihn durch Fragen:

»Im Kloster? Wann? …«

»Hallo! Da hat sie geschrieben »dem Nahen«, dem wohl so Nahen, wie's nur irgend geht, und da wissen Sie nichts davon?«

»Ich weiß alles.«

»Auch über Nikolka? Hat sie Ihnen auch von Nikolka erzählt? Sie hatte da solch einen Mönch, einen Novizen mit einem Lockenkopf, schön wie ein Bild, zum Staunen. Haben Sie von dem gehört?«

»Nein.«

»Und da sagen Sie noch, Sie wüßten alles?!«

»Ich bin gespannt …«

»Na, ich weiß es, und da Sie es wünschen, will ich es Ihnen, als einem Parteigenossen, gern erzählen. Sie denken, Fjokla Timofejewna habe Angst vor mir, das stimmt zwar, ich weiß, daß sie Angst vor mir hat, aber ich habe gar nichts mit ihr gehabt … Ich hatte meist mit verheirateten Frauen zu tun, natürlich zuweilen auch mit jungen Mädchen, wenn die Dummchen gar zu neugierig waren; man hat ja seine helle Freude daran, so ein rotes Siegelchen aufzubrechen … Das ließ ich mir natürlich nicht entgehen, wenn mir so ein Mädel in die Hände kam. Aber mit Fjokla Timofejewna war das so eine besondere Sache. Ihre strahlende Schönheit hatte es uns beiden angetan.«

»Also nicht Sie waren es? …«

»Nikolka Predtetschin war es, ein Novize … Ihn hat sie geliebt, und wie!«

Es traf Petrowskij wie Keulenschläge. Er starrte dumpf vor sich hin.

»Unser Klosterwald ist finster und verschwiegen; einen farbenbunten See gibt es da, Seerosen, Walderdbeeren, prall und süß wie so'n kaum flügges Mädel … Nikolka war kein Dummer, hat sich eine süße Beere ausgesucht und sie gepflückt, die eben herangereifte. Der Hund! Das Moos im Walde ist weich wie ein Daunenpfühl, ein berauschender Duft zieht durch das Dickicht; trunken hing sie an seinem Munde.«

»Das genügt, Kaljabin.«

»Ich war es ja nicht, Nikodim Alexandrowitsch; was fahren Sie mich an? … Der Nikolka wollte sie auch heiraten, man hat ihn aber vor die Tür gesetzt, mußte wieder abziehen.«

»Genug, habe ich gesagt.«

»Und die Parteiangelegenheiten – wollen wir jetzt darüber sprechen?«

»Kommen Sie morgen vor.«

»Gut, Nikodim Alexandrowitsch, ich werde kommen, ich werde morgen bestimmt kommen.«

 

Petrowskij ging gequält in seinem Zimmer auf und ab. Jetzt verstand er, warum Fenja über ihre Vergangenheit nicht hatte sprechen wollen! Schmerz und Erbitterung zerrissen ihm das Herz. Hatte sie ihm nicht gesagt, sie liebe zum ersten Male, habe niemand vor ihm geliebt, und dabei hatte sie doch geliebt! Nicht er war der erste, einem hergelaufenen Mönch, einem Nikolka hatte ihre erste Liebe gehört. Darum hatte sie ihm auch unter Küssen zugeflüstert: »Liebe mich so wie ich bin, ich bin ganz dein. Es gibt keine Vergangenheit, es gibt nichts als die Gegenwart …« Er griff sich an den Kopf, wühlte mit den Händen in seinem Haar, nahm ihr Bild immer wieder vom Tisch, führte es ans Licht und starrte es an, als wollte er aus ihren Zügen ein anderes herauslesen, als dies unselige Geheimnis. »Dem Nahen …« – jener war ihr noch viel näher gewesen, war ihr alles gewesen. Wie irr fuhr er empor und stürzte zu ihr.

Die kleine Fenja saß, ein Buch in der Hand, in ihren Schal gehüllt, auf dem Diwan, und ihre Gedanken flatterten wie Vogelschwärme zu dem Geliebten. Schon lange hatte sie sich nicht an ihn geschmiegt, schon lange er sie kaum geküßt. Finster ging er einher, verbrachte ganze Tage in den Arbeitervierteln, kam des Abends nur auf einen Augenblick zu ihr, aß, was sie ihm vorsetzte, antwortete kurz auf ihre besorgten Fragen und eilte wieder davon. Es quälte sie jetzt, daß sie damals nicht bei ihm geblieben war, doch hatte sie zu ihm nicht von Nikolai sprechen, nicht das Dunkle, Trübe, das so fern und fremd hinter ihr lag, aufwühlen wollen. Nun wartete sie darauf, daß er zu ihr kommen und sie, ohne zu fragen, in seine Arme schließen werde. Sie saß, das aufgeschlagene Buch im Schoße und träumte mit offenen Augen, wie Frauen träumen – ihr Körper wollte ihn an sich fühlen, ihre Hände ihn liebkosen …

Nikodim stürmte die Treppe hinauf. Wenn sie ihm heute nicht freiwillig die Wahrheit gestand, so war – das hatte er fest beschlossen – so war alles zu Ende zwischen ihnen. Aber sie würde es sagen, er würde darauf bestehen, und dann würde ihre Liebe, die sich sonst verblutete, geläutert und gekräftigt, neu erblühen und sich entfalten, Schmerz und Eifersucht hinwegwischen, als wären sie nie gewesen …

Er trat auf sie zu, setzte sich neben sie, ergriff ihre Hände und blickte ihr, ohne sie zu küssen, ruhig und streng in die Augen.

»Fenja ich bin gekommen, um eine Entscheidung herbeizuführen. So geht es nicht weiter, das hält keiner von uns beiden aus. Entweder sind wir einander wirklich so nah und teuer, daß wir zueinander gehören, oder wir sind es nicht, und dann müssen sich unsere Wege trennen. Ich kann so nicht weiterleben, verstehst du das, Fenja? Ich bin ganz zerquält!«

Wenn das Herz plötzlich stillsteht, dann hat die Stimme, leise und gedämpft, einen besonderen, innigen, hingebend zärtlichen Ton; so klang die Stimme der kleinen Fenja, als sie sagte:

»Auch ich bin ganz zerquält, Nikodim … Ich leide Liebster …«

Auf einen Augenblick zog er, von jäh aufsteigender Zärtlichkeit überwältigt, ihre Hände stürmisch an sich, umschlang sie fest, so daß es ihr weh tat und sie gleichzeitig beseligte, und küßte sie schmerzhaft, leidenschaftlich auf die Lippen; nur einmal.

»Sage mir die Wahrheit, sage mir die ganze Wahrheit, Fenja. Hast du schon einmal jemand geliebt? …«

»Ich habe niemand geliebt außer dir …«

Sie sagte es im Tone tiefster Aufrichtigkeit, denn sie hatte ja außer Nikodim nie jemand wirklich geliebt.

»Ich kann das nicht glauben. Sprich die Wahrheit. Sage mir freiwillig die Wahrheit.«

Er löste sich von ihr, rückte von ihr ab, nur ihre Hände hielt er fest und drückte sie krampfhaft.

»Ich sage die Wahrheit, Liebster; es ist die Wahrheit.«

»Nein, du lügst! … Und Nikolka, der Novize?«

Sie riß ihre Hände aus den seinen, sprang auf, eilte zum Tisch und stützte sich auf eine Stuhllehne, als fürchtete sie umzusinken. Verstört hörte sie ihm zu.

»Den hast du also nicht geliebt? Das ist eine Lüge; du hast ihn geliebt!«

Sie wollte ihm zurufen, wollte es hinausschreien, daß sie Nikolka nie, niemals geliebt habe, konnte aber kein Wort hervorbringen.

»Im Walde bist du sein geworden … Ohne zu lieben gibt sich ein junges Mädchen nicht hin. Du hast ihn geliebt, und er wollte dich heiraten, wurde aber von den Deinen abgewiesen. Und jetzt sprich, ist das wahr oder ist es nicht wahr? Sprich, Fenja.«

Als Fenjas Hände zuerst feucht, dann kalt geworden waren und ihr Herz, schwer wie ein Stein, immerzu gleichmäßig in eine gähnende Tiefe sank, erwachte ihr Frauenstolz.

»Du hast mir nicht geglaubt, daß ich außer dir niemand geliebt habe, und dich darum bei ihm über mich erkundigt? Meinst du, das sei eines Liebenden würdig? Habe ich dich jemals gefragt, wen du geliebt, mit wem du gelebt hast? Du sprichst immer von der Gleichberechtigung der Frau; ich stehe also mit gleichen Rechten dir gegenüber. Und ich habe dir gesagt, liebe mich so, wie ich bin; so wie du bist, habe ich dich geliebt, ohne zu fragen, ohne zu forschen … Warte, jetzt rede ich. Es ist aus zwischen uns, wie du gesagt hast. Ich spreche also zum letzten Male zu dir. So laß auch mich einmal offen reden. Ich glaubte und vertraute dir; dein Wort genügte mir. An all dem hat es bei dir gefehlt. Ich habe Nikolai nie geliebt; wie trotzdem geschehen konnte, was geschehen ist, kann ich dir jetzt nicht mehr erklären. Es ist auch gleichgültig, da wir uns trennen. An wen hast du dich gewandt, um über mich nachzuforschen, an wen?! Um das zu erfahren, was nur ich dir sagen durfte, und was ich dir bisher nicht hatte sagen können, um deinetwillen, um dich zu schonen, um unserer Liebe willen, denn die Zeit war noch nicht gekommen, da du es hören und verstehen konntest. Du hattest kein Vertrauen zu mir. Schweig'! Laß wenigstens das unberührt, was ich rein und unbefleckt aus diesem Zusammenbruch in mir bewahrt habe … Rühre mich nicht an; geh!«

Sie löste die Hände von der Stuhllehne, schritt zur Tür, stieß sie auf und sagte immer wieder, bis er gegangen war:

»Geh, geh, geh …«

Sie zog die Tür zu und vergrub das Gesicht in ihren Pelz, der neben der Tür an der Wand hing. Lautlos weinte sie vor sich hin, bis ihre Füße vor Ermüdung den Dienst versagten.

 

Petrowskij kehrte in sein kleines Zimmer zurück; so leer und widerlich war es in dem armseligen Raum geworden … Er wollte an nichts denken, warf sich angekleidet aufs Bett und fiel trotz allem nach der aufreibenden Arbeit des Tages sofort in schweren, traumlosen Schlaf. Er erwachte spät, warf eigensinnig den Kopf in den Nacken und sagte sich, er habe jetzt keine Zeit, seinem Liebeskummer nachzuhängen; verantwortliche Arbeit lag in seinen Händen. Er würde sich noch rückhaltloser der Partei widmen. Wer um das Glück seiner Mitmenschen ringt, dürfe nicht an sein eigenes Glück denken. Er warf einen gleichgültigen Blick auf das Bild der kleinen Fenja und verließ das Zimmer …

Gegen Abend aber erschien Afonka mit zwei Paketen, schob sie unter das Bett, ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, nahm Fenjas Bild vom Tische, steckte es in die Tasche und ging in die Bierstube nebenan, um dem steifen Hut zu melden, daß alles fertig sei; sie könnten ihn nun mit den Beweisstücken greifen. Er tastete nach dem Bilde der kleinen Fenja in seiner Tasche und dachte: Schicksal …

Bis spät in die Nacht hinein wachte der steife Hut versteckt vor Petrowskijs Wohnung. Als Nikodim schließlich heimkehrte, fuhr der Spitzel in einer Droschke in die Gendarmerieverwaltung und erstattete dem Rittmeister Meldung … Mitten in der Nacht wurde Petrowskij geweckt; zwei Hände langten gemächlich unter das Bett, zogen die Pakete hervor, öffneten sie vor ihm.

»Flugblätter und Drucktypen … Sie verstehen?«

Ja, Petrowskij verstand und folgte schweigend dem Rittmeister.

 


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