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7

Die Abende im Nonnenkloster waren still und einsam; nach der Abendmesse glich das Kloster einer ausgestorbenen Stadt. Vor der Kathedrale und dem Speisesaal befand sich ein großer Platz; an einem Ende dieses Platzes lag ein breiter, mit Steinen ausgelegter Brunnen von unermeßlicher Tiefe. Ringsum standen die Zellenhäuschen, eng aneinander gedrängt, von niedrigen Zäunen umfriedet, durch schmale Gäßchen getrennt. In den Gärtchen mit grünen Rasenflächen wuchsen Kirschbäume, Faulbaum und Weißdorn, vor den Fenstern zogen sich Erdbeer- und Blumenbeete hin, umrahmt von Himbeer-, Johannisbeer- und Stachelbeersträuchern.

Das Wedenskij-Kloster war ein sogenanntes »Eigenkost«-Kloster, das heißt, die Nonnen mußten für ihren Unterhalt selbst sorgen. Das hatte zur Folge, daß sich die Sünde ins Kloster stahl, denn nicht nur das eigene schwache Fleisch führte die Nonnen in Versuchung, sondern auch die Städter. Und den Eintritt konnte man diesen nicht verweigern, denn erstens flossen dem Kloster aus ihren Händen Mittel zu, und zweitens hatten die Nonnen an den Aufträgen der Laien auf Handarbeiten ihren Verdienst.

Die Sünde machte sich im Kloster insbesondere vom Herbst bis zum Frühjahr breit, wenn die Nonnen früh zu Bett gingen und der Teufel sie mit lüsternen Träumen plagte. Dieser Teufel lebte im Brunnen. Wenn die Pförtnerin nach der Abendmesse die altertümlichen Schlösser der Tore schloß, mit einer Holzklapper in der Hand den Klosterhof abschritt, guckte der Unreine über den Brunnenrand, sah sich nach allen Seiten um, schnüffelte an den Schwellen der Zellen und schlüpfte überall, wo er ein Spältchen fand, ins Zimmer hinein, kroch unter das Bett, raunte wollüstige Traumbilder in die Kissen und verschwand wieder durch das Spältchen. So machte er hinter der Pförtnerin die Runde durch alle Gäßchen des Klosters, worauf er zum Brunnen zurückkehrte. Auf dem Brunnenrand sitzend, verschnaufte er sich ein wenig, zog, vor Kälte fröstelnd, die Schultern ein und begann seine unsichtbaren Rundgänge aufs neue.

Bloß seine Pfötchen hinterließen im Schnee Spuren – einer Hundefährte ähnlich.

Im übrigen herrschte im Kloster friedliche Stille. Unter der Schneedecke schienen die Gäßchen noch enger, im weißen Unschuldsgewande dichten Rauhreifs standen die Bäume da, zag wie Bräute.

Selten nur huschte eine Nonne zu ihrer Nachbarin, um ein Stickmuster oder Garn zu holen, oder um bei ihr Tee zu trinken und zu plaudern. Um sieben sank alles in friedlichen Schlaf.

Nur Schwester Arischa schlief nicht. Zitternd und bangend wartete sie auf den März. Und als das Eis auf dem Fluß krachend barst und das Wasser dumpf gluckste, zuckten schneidende Schmerzen durch Arischas Leib. Lange litt sie stumm, wußte nicht, daß ihre Stunde gekommen war. Schließlich aber hielt sie es nicht länger aus und schrie auf.

Jewdokia erwachte.

»Was hast du?«

»Ich weiß nicht … Ich habe starke Schmerzen … Ich halte es nicht länger aus …«

»Geh; geh auf und ab in der Zelle. Das bringt Erleichterung.«

Arischa wankte von einer Ecke in die andere, stöhnte, klammerte sich an die Wand, sank vor Schmerz auf den Fußboden, stand wieder auf und schritt auf und ab.

Auch Dunja hatte einen Schreck bekommen; aufgeregt riß sie ihre Wäsche vom Stuhl, fand beim Anziehen lange nicht in die Ärmel.

»Ach Gott, ach Gott, was soll man da bloß machen?«

Arischa sagte mühsam:

»Warenka … Rufen Sie Warenka her … Sie … hat versprochen … mir beizustehen …«

Arischa lag auf einer Filzdecke, die Warenka auf dem Fußboden ausgebreitet hatte, krümmte sich vor Schmerz, die Hände an den Ofen geklammert, straffte krampfhaft den Körper, brach in ein tierisches Geheul aus. Dunja fuhr sie an:

»Schweige, Balg! … Du hast es so gewollt, jetzt dulde.«

Schwester Warenka bemühte sich stumm um Arischa, schob ihr eine Waschschüssel unter die Schenkel, machte aus einem in kaltem Wasser angefeuchteten Taschentuch ein festes Knäuel, das sie Arischa in den Mund preßte, um die Schreie der Gebärenden zu ersticken.

»Halte durch, Mädel, halte durch, Liebe … Beiß die Zähne in das Tuch, ganz fest …«

Wenn die Schmerzen anschwollen und ihr schien, daß ihr Leib zerrissen, zerfleischt wurde, meinte Arischa zu ersticken; ein dumpfes Brummen entrang sich ihr. Sie klammerte sich an Warenka, wand und krümmte sich. Vor Anstrengung wurde ihr Gesicht dunkelrot. Erst gegen Morgen hörten die Schmerzen plötzlich auf, und eine köstliche Ruhe erfüllte sie. Warenka und Dunja wuschen sie und trugen sie auf Dunjas Bett. Beim Schein eines Kerzenstümpfchens rollte Warenka die Filzunterlage zusammen, eilte hinaus, warf sie in den Keller, kehrte zurück, preßte stumm dasselbe Tuch, das die junge Mutter im Munde gehabt hatte, in den Mund des Kindes, damit es nicht schreie, nicht wimmere, durch sein verbotenes Dasein das Kloster nicht wecke, wickelte es in ein Stück Linnen, verschwand mit dem Kinde wieder im Keller, band einen Ziegelstein an das Bündel, huschte hinter den Zellen entlang durch die engen dunklen Gäßchen zum Brunnen, und hastete zurück, um nicht zu hören, wie der Stein in die Tiefe plumpste. Der Stein schlug auf, sank auf den Grund des Brunnens und weckte den kleinen Teufel, der herauffuhr und über den Brunnenrand lugte. Es war aber niemand zu sehen, bloß die Spur eines Menschen dunkelte im Schnee. Der Teufel seufzte und glitt wieder in die Tiefe hinab, um sich des neuen Einwohners anzunehmen.

Schwester Warenka blieb einige Zeit in Dunjas Zelle, saß stundenlang an Arischas Bett und erlaubte ihr nicht zu sprechen, nicht sich zu rühren. Als Arischa nach ihrem Kinde fragte, sagte Warenka abgerissen, indem sie den Kopf zur Seite wandte und sich verstohlen über die Augen fuhr:

»Er war tot … Hat nur wenige Augenblicke gelebt … Ganz so wie meiner …«

Nur der kleine Teufel im Brunnen wußte die Wahrheit über seinen neuen Einwohner, er zog es aber vor, über die Brunnenbewohner zu schweigen, die immer im Frühjahr oder im Herbst eintrafen. Früher hatte er da unten allein gewohnt und es ruhiger gehabt, aber seit bald zwei Jahren drangen von Zeit zu Zeit solche kleine Gäste bei ihm ein. Höhnisch murmelte er:

»Früher wurden sie in den Fluß geworfen. Das war viel angenehmer, verschmutzen mir nur die ganze Wohnung! Das war auch viel bequemer, man brauchte gar keinen Stein dazu, schob das Bündelchen einfach unter das Eis – und Schluß! Die Nonnen hätten aber doch besser getan, nicht mit Ziegelsteinen zu geizen, denn wenn es Frühling wurde und Eisgang einsetzte, kamen all die kleinen Jungen und Mädchen zum Vorschein und schwammen zur Stadt hinab, um sich ein bißchen die Welt anzusehen. In der Stadt aber machte man sich daran, sie herauszuangeln, die ganze Polizei wurde auf die Beine gestellt. Und man zerbrach sich den Kopf darüber, woher wohl all die Kindlein kämen, die in jedem Frühjahr zusammen mit den Eisschollen an der Stadt vorübertrieben. Der Verdacht fiel auf das Kloster. Der Polizeimeister selbst nahm sich der Sache an. Abend für Abend durchstreifte er den Abhang am Fluß, am Fuß der Klostermauer, und spähte nach den Missetäterinnen aus. Was hatte das aber für einen Sinn? frage ich. In sein eigenes Verderben rannte er dabei. Wer wirft denn im Sommer neugeborene Kindlein in den Fluß?! Im Sommer blühen die Linden an der Klostermauer, und im Seminargarten schlagen die Nachtigallen und locken die Seminaristen ins Kloster. Die Linden sind alt, haben gewaltige Wipfel und starke Äste und Zweige. Die Nonnen stellen eine Leiter an einen Stamm, klettern mit einem Strick in die Krone, ziehen an dem Strick einen großen Wäschekorb hinauf. Wenn nun verliebte Seminaristen sich unten am Fuß des Abhangs bemerkbar machen, so wird der Korb jenseits der Mauer zum Ufer hinabgelassen, ein Anbeter steigt ein und zwei oder drei Nonnen ziehen ihn in die Linde hinauf, worauf er die Leiter hinab in den Klostergarten klettert. Und bis zum Morgen, wenn die Sonne einen schimmernden Streifen am Himmel entzündet, wird die Liebe durch Küsse und heiße Liebkosungen verherrlicht. Wieso sollte man da Neugeborene in den Fluß werfen? Das tut doch niemand um diese Jahreszeit! Der Polizeimeister aber hatte das nicht in Betracht gezogen. So bemerkte er denn nichts Verdächtiges außer dem Korb, in dem junge Männer hinaufgezogen wurden. Wenn ich mich nicht eingemischt hätte, wäre es den Nonnen schlimm ergangen. Ich gebe Schafsköpfen aber gern einen Denkzettel. Also der Polizeimeister wollte mal nachsehen, was bei nachtschlafender Zeit da im Klostergarten vor sich gehe. Er brachte also einen Zivilanzug mit und zog sich im Gebüsch um, ich aber verwirrte seine Gedanken durch lüsterne Gaukelbilder, so daß er vergaß, seine Uniformmütze mit der Kokarde abzunehmen. Die jungen Nonnen ließen den Korb hinab, der Polizeimeister legte sich hinein und wurde, wie in einer Wiege hin und her schaukelnd, langsam in die Lindenkrone hinaufgezogen. Von Neugier geplagt, wollte er sich die Schönen hinter der Mauer schnell einmal ansehen, beugte den Kopf über den Korbrand, die Kokarde blitzte auf, die Nonnen bekamen einen Schreck, der Strick entglitt ihren zitternden Händen, und der Polizeimeister sauste durch die Luft auf das Ufer hinunter, wo er mit so einem gewaltigen Krach landete, daß er nicht mehr aufstehen konnte und im Korbe liegenblieb. Schließlich bemerkten ihn Bäuerinnen, die am Morgen Milch in die Stadt brachten. Sie erschraken beim Anblick der gefürchteten Kokarde, wollten vor Schreck zuerst umkehren, faßten sich dann aber ein Herz und eilten auf die Polizei. Aufgeregt berichteten sie, eine hohe Obrigkeit sei in einem Korbe über die Klostermauer geworfen worden. Man eilte hin um nachzusehen, und fand den Polizeimeister! Eine peinliche Lage! Im Wäschekorb, so wie er dalag, wurde der Herr Polizeimeister fortgetragen; erst in der Stadt stieß man auf eine Droschke. Man brachte ihn unverzüglich ins Krankenhaus. Es gelang gerade noch, sein Leben zu retten … In der Stadt aber verbreitete sich das Gerücht, der Polizeimeister selbst klettere des Nachts über die Mauer zu den Nonnen, daher kämen auch die Neugeborenen, die im Frühjahr an der Stadt vorübertrieben. Seitdem wagte sich der Polizeimeister nicht mehr in die Nähe des Klosters; aber auch die Nonnen haben solch einen Schreck bekommen, daß sie seitdem ihre Kinderchen nicht mehr in den Fluß, sondern zu mir in den Brunnen werfen, und ich muß sehen, wie ich sie da am besten unterbringe …«

Der kleine Teufel schmunzelte, wackelte mit dem Schwänzchen, grinste.

Er wußte alles, ließ es sich aber nicht anmerken, daß er gesehen hatte, wie Schwester Warenka einen neuen Einwohner zu ihm in die Tiefe hinabgeworfen hatte.

 

Mutter Jewdokia war äußerst entrüstet darüber, daß Arischa ihr diese Umstände gemacht hatte. Schande hatte Arischa über sie gebracht. Das ganze Kloster mußte es ja erfahren! Ins Dorf, zu ihren Verwandten hätte sie reisen sollen …

Aber Arischa hatte ja weder Verwandte noch Bekannte; als kleines Mädchen hatte man sie ins Kloster gebracht. Wer irgend konnte, fuhr vor der Entbindung aufs Land und kehrte nach einigen Monaten unbefangen ins Kloster zurück, als wäre nichts geschehen. Das Kind blieb, wenn es ein Knabe war, bei den Verwandten als zukünftige Arbeitskraft für die Wirtschaft; wenn es ein Mädchen war, nahm es die junge Mutter nach einiger Zeit zu sich ins Kloster, wo es als ihre Nichte galt und von ihr erzogen wurde. Nur solche Nonnen und Novizen, die niemand in der Welt besaßen, zu dem sie hätten gehen können, machten die Sache heimlich im Kloster ab, in einer Zelle verborgen.

Mutter Jewdokia sagte gleich am nächsten Tage nach der Geburt zu Arischa:

»Was ich für Ängste ausgestanden habe um deinetwillen! … Und dabei machst du noch, als gehörte es sich so, rein als wäre meine Zelle eine Entbindungsanstalt! … Na, ich will mal sehen, wie du mir deine Dankbarkeit erweist, ob du mir auch in allem zu Willen sein wirst … Und hör' auf zu weinen. Du solltest Gott danken, daß das Kind tot war, was hättest du sonst angefangen!«

 

Der kleine Teufel aber war auf den Grund des Brunnens getaucht, um dem neuen Einwohner ein Plätzchen neben den anderen einzuräumen. Da bemerkte er, daß unten alles aufgewühlt und durcheinander geworfen war. Ärgerlich brummte er:

»Die hätten auch einen kleineren Stein wählen können … Die verdammten Weiber! Der ist mit solchem Krach ins Wasser geplumpst, daß er mir hier alles in Unordnung gebracht, alle meine Einwohner aufgeschreckt, zwei von ihnen sogar zerdrückt hat. Hu, ist das ein Gestank! …«

Und wirklich stieg seit dem Tage, da der letzte Einwohner bei dem kleinen Teufel angelangt war, ein übler Geruch aus dem Brunnen auf, und das Wasser war ungenießbar. Die Nonnen dachten anfangs, das Frühjahr habe die unterirdischen Quellen getrübt, doch je mehr Zeit verstrich, je stärker die Sonne wärmte, desto schlimmer wurde das Übel; es roch aus dem Brunnen nach Verwesung. Selbst der Teufel hielt es schließlich nicht länger aus und siedelte in den großen Wasserkübel über, auf dessen Rand er sich des Nachts schaukelte wie der Polizeimeister damals im Wäschekorb.

 

Die Nonnen erhoben ein Zetergeschrei darüber, daß sie kein klares, reines Quellwasser mehr hätten, und die Äbtissin mußte den Brunnen reinigen lassen. Ein paar Arbeiter stiegen hinab, kamen, kreideweiß im Gesicht, schleunigst wieder zum Vorschein und eilten zur Äbtissin.

»Leichen sind im Brunnen … Kinderleichen …«

Die Äbtissin bat die Arbeiter inständig, zu schweigen, nicht Schande über das Kloster zu bringen, die Nonnen nicht zum Gespött der Laien zu machen, auch der Obrigkeit nichts zu melden. Dafür bezahlte die Mutter Äbtissin denn auch einen angemessenen Preis für die Arbeit.

Nachdem die Pförtnerin am Abend alle Pforten mit je zwei altertümlichen Vorhängeschlössern sorgfältig abgeschlossen hatte, wurden zwölf kleine Leichen aus dem Brunnen herausgezogen und dazu eine stattliche Anzahl von dünnen Knöchlein und weißen Schädeln. Das alles wurde rasch auf dem kleinen Friedhof begraben.

Alles blieb still, bis eines Tages ohne jeglichen Anlaß in der Stadt das Gerücht auftauchte, die Nonnen würfen die Früchte ihrer Liebesabenteuer in den Klosterbrunnen; so etwas sei noch nicht dagewesen, solange man zurückdenken könne! Der Herr Polizeimeister aber murmelte giftig vor sich hin:

»Ein Brunnen ist kein Fluß, meine Lieben, da merkt man die Sache bald! …«

Die Mutter Äbtissin beauftragte die alten Nonnen, eine Untersuchung der Angelegenheit vorzunehmen; wer als Braut Christi die engelgleiche Würde des Nonnentums durch Buhlerei und Totschlag befleckt habe, sollte bis ans Ende seiner Tage büßen und fasten, wer sich aber als Novize vergangen hatte, schmählich aus dem Kloster in die verderbte Welt ausgestoßen werden.

Die Äbtissin ließ Mutter Jewdokia zu sich kommen und fragte sie:

»War in deiner Zelle alles still? …«

»Jawohl, Mütterchen; was sollte denn bei mir geschehen? Bei mir war alles still.«

»Ist deine Novize züchtigen Gemüts?«

Jewdokia wand sich ein bißchen.

»In meiner Gegenwart ist sie still und züchtig, was sie hinter meinem Rücken getrieben haben mag, weiß ich nicht, Mutter Äbtissin; darüber kann ich nichts aussagen.«

»Wer ist denn deine Dienstschwester? Wie heißt sie?«

»Arischa, so eine Rothaarige …«

»Wie heißt sie mit Familiennamen?«

»Ich weiß nicht, obwohl ich bald zwei Jahre im Kloster bin … Sie ist eine Chorsängerin.«

»Wohl Arischa Kaljabina?«

»Kaljabina?!«

»Was ist denn so besonderes dabei? So lautet ihr Name.«

»Kaljabina? … Das kann nicht sein!«

»Wenn ich es dir sage, wird es wohl stimmen.«

Dunja wurde ganz wirr im Kopf. Jetzt erst begriff sie, warum Arischa sie so angezogen hatte. Darum also sah sie Afonka ähnlich; sie war seine Schwester! Zorn und Wut überkamen Dunja. Afonka hatte ihr so viel Leid zugefügt, sie und sein Kind verlassen, durch ihn war sie zur Mörderin geworden, und nun hatte seine Schwester Schmach und Schande über sie gebracht! Und sie hatte ihr noch geholfen, ihr sündhaftes Treiben zu verbergen! Der Bruder war lasterhaft, und lasterhaft war auch die Schwester; wahrlich ein sauberes Geschwisterpaar! Haß preßte ihr das Herz zusammen.

Die Äbtissin fragte:

»Warum hat deine Novize mehrere Monate die Zelle nicht verlassen? War sie krank?«

Rot vor Zorn sprudelte Dunja heraus:

»Nicht krank, schwanger war sie, schwanger … Den ganzen Sommer über hat sie sich auf dem Friedhof umhergetrieben, geil wie eine Katze … Mit Tränen und Bitten hat sie mir zugesetzt. Aus Nachsicht habe ich geschwiegen, konnte es nicht übers Herz bringen, sie anzugeben. Sie sind alle so, diese aber ist die schlimmste … und böswillig und ungehorsam dazu … Halbtotgequält hat sie mich! In diesem Sommer wollte sie überhaupt nichts mehr für mich tun. Wie so eine Gnädige … Ich mußte hinter ihr aufräumen … Und all diese Unlauterkeit, all diese Sünde! … Gott im Himmel, wie habe ich gelitten unter ihren Sünden … Ich kann mich gar nicht mehr rein beten von all dem, was sie durch ihre Versündigung auf mich gewälzt hat, wenn ich auch mein Leben lang Buße tue …«

Schmerzlich bewegt, mit gesenkter Stirn, hörte die Äbtissin ihr zu. Sie sagte nichts zu Jewdokia, befahl ihr aber, Arischa unverzüglich in die Abtei zu schicken.

 

In Dunja kochte alles vor Wut. Sie konnte es sich nicht vergeben, daß sie die Sünde seiner Schwester zugedeckt und selbst mit ihr in sündigem Verkehr gestanden hatte. Arischas Ähnlichkeit mit Afonka hatte es ihr angetan, hatte dies verzehrende Verlangen nach der rothaarigen Novize in ihr geweckt! Während sie, mehr laufend als gehend, ihrer Zelle zustrebte, murmelte Dunja aufgeregt vor sich hin.

»Ich will dich schon lehren, Luder! … Verführt hast du mich arme Witwe. Eine Kaljabina bist du? Du sollst was erleben, Kaljabina. Ha, Kaljabina!«

Sie riß die Tür auf, warf sie krachend ins Schloß, kreischte auf vor Wut:

»Also du bist eine Kaljabina? Ja? Kaljabina heißt du? Ach du verbuhltes Luder!«

Arischa sprang erschrocken vom Stickrahmen auf und stammelte bestürzt:

»Ja, Mütterchen, ich heiße Kaljabina … Arischa Kaljabina …«

»Was, du redest noch? Ach du niederträchtiges Geschöpf! Sprich, hast du einen Bruder Afanaßij? Ist Afonka dein Bruder?! … Was schweigst du? Er hat dich mir auf den Hals geschickt? Gesteh! Ihr habt euch zusammengetan, um mich ins Grab zu bringen?! Das war eure Absicht, ja? Sprich!«

»Ich hatte einen Bruder, der Afanaßij hieß, Afonitschka … Er ist als Knabe in ein Kloster gepilgert, um zum Herrn zu beten, und nicht mehr zurückgekehrt. Ich war noch ganz klein damals …«

»Um zu beten, ist er fortgegangen?! Wohin? Afonitschka hieß er? Ach, du schamlose Dirne … Afonitschka hieß er! Und wo ist er denn jetzt, dein Afonitschka?«

»Er ist nicht mehr nach Hause zurückgekehrt … Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Du weißt nicht, wo er ist? Das lügst du, Balg! Du weißt es sehr wohl, willst es mir aber nicht sagen. Sofort sagst du es mir, hörst du?«

»Der Herr ist mein Zeuge, ich weiß es nicht.«

»Sprich. Wo ist er? Sprich, verruchtes Geschöpf, oder …«

Arischa stand verstört vor der Rasenden, sah sie verständnislos an, wußte nicht, was sie ihr antworten sollte. Dunja bohrte die Blicke in ihr Gesicht und kam langsam auf das Mädchen zu, wobei sie bei jedem Schritt merkwürdig in den Knien einknickte. Als die Novize nicht antwortete, hüpfte Dunja kreischend in die Luft wie ein Huhn und schlug auf das Mädchen ein, zuerst mit der flachen Hand auf die Wangen, dann blindlings mit den Fäusten auf den Kopf, ins Gesicht, auf die Brust. Dabei schrie sie immer wieder, Afonka wolle sie ins Grab bringen, ihm selbst sei das nicht gelungen, da habe er sich hinter seine Schwester gesteckt. In ihrer Erregung glaubte sie im Augenblick wirklich daran, Afonka habe es auf ihr Leben abgesehen und sich darum zuerst mit Marja Karpowna und nach deren Tode mit Arischa zusammengetan. Das Mädchen hatte sich unter den Schlägen geduckt und war dann auf dem Fußboden in kauernder Stellung zusammengesunken, wobei sie Gesicht und Nacken zum Schutz mit Armen und Händen deckte. Sie konnte nicht fassen, was geschehen war, und fühlte sich bitter gekränkt: nicht nur sie, auch ihren Bruder, von dem sie seit ihrer Kindheit zum ersten Male eben von Mutter Jewdokia gehört hatte, hatte diese geschmäht. Die Tränen stürzten ihr vor Schmerz und Empörung aus den Augen und rannen, mit Blut vermischt, an den Ellenbogen in erkalteten Bächlein langsam hinab. Erst als Dunja völlig erschöpft war, hörte sie mit den Schlägen auf und schrie das Mädchen an:

»Geh zur Mutter Äbtissin. Unverzüglich sollst du hin zu ihr. Wenn du nicht freiwillig gehst, wirst du durch das ganze Kloster schmählich hingeschleppt. Geh lieber und hol' dir den Lohn für deine Taten.«

Arischa erhob sich mühsam vom Fußboden und wankte gedankenlos zur Tür, ganz benommen von Schmerz und Empörung.

Dunja lief ihr nach und riß sie am Ärmel zurück.

»So wasch dich doch zuerst, schamloses Ding! …«

Aus Angst, daß Jewdokia sie aufs neue schlagen könnte, kauerte Arischa sich wieder auf den Fußboden.

»Waschen sollst du dich, verstehst du!? Ganz blödsinnig bist du geworden!«

 

Still und ebenso langsam, wie sie aus Jewdokias Zelle geschritten war, ging Arischa über den Platz vor der Kathedrale nach dem Steingebäude der Abtei. Lange stand sie unentschlossen vor der Tür und wagte nicht einzutreten, bis schließlich die Dienstschwester der Äbtissin herauskam und nach ihrem Begehr fragte. Tonlos antwortete Arischa:

»Die Mutter Äbtissin hat mich herbestellt …«

Arischa trat ein, bekreuzigte sich in vorgeschriebener Weise, sank auf die Knie und brach, die Hände vor das Gesicht schlagend, in Tränen aus.

Hier wurde sie nicht angeschrien. Über ihrem Haupte ertönte die leise, strenge Stimme einer alten Frau, die die Welt und Freude und Leid der Menschen in einem langen Leben kennen und verstehen gelernt hatte. Darum leuchteten auch die Augen der Äbtissin in durchsichtiger Klarheit und Milde, und ihre Stimme klang trotz der Strenge leise und gütig. Im Alter findet sich der Mensch mit dem Leben ab, wird in einer geläuterten, naiven Kindlichkeit weise und vermag Sünden zu verzeihen, die der Mensch nicht hat überwinden können, weil er in jüngeren Jahren, in den Kreislauf der Natur geschlossen, zusammen mit der Erde zu triebhaftem Leben erwacht, wenn die wärmende Sonne ungestüme Bächlein durch Wald und Feld treibt; dann gerät auch das Blut des Menschen in Wallung, flutet sehnsüchtig und ungestüm durch die Adern, erregt das Herz zu lautem Pochen und erfüllt es mit pulsender Freude am irdischen Dasein. Erst im Alter, wenn irdische Freude und sterbliche Liebe bereits hinter uns liegen, erregt den Menschen das triebhafte Wallen der Natur nicht mehr, er wird eins mit der Mutter Erde in einem tieferen Sinne, da sich sein Leib bereits der Erde nähert und er Tod und Moder ebenso als Atemzüge des Lebens empfindet wie das frühlingshafte Sprossen. Dann erkennt er ewige Wahrheiten und vergibt demütig der aufbegehrenden Jugend.

Gütig sprach die strenge Stimme:

»Du hast gesündigt? …«

Die Antwort waren Tränen. Eine Hand sank auf Arischas Scheitel.

Mit den Augen bedeutete die Äbtissin der Dienstschwester, sie solle ihr einen Stuhl heranschieben, und blickte auf die Tür, ohne den Kopf zu wenden. Die Novize verschwand.

»Auch der Herr hat der reuevollen Sünderin vergeben. Um so mehr müssen wir Menschen unseren Mitmenschen vergeben, unseren Brüdern und Schwestern, denn wer von uns ist ohne Sünde? … Du bist eine Waise … Fremde haben dich hergebracht, als du ein Kind warst, das nichts vom Leben und von der Welt wußte. Vielleicht bist du nicht dazu berufen, die Glaubenstat klösterlicher Entsagung auf dich zu nehmen; man hat dich nicht gefragt. Dein Herz sehnt sich vielleicht nach der unbekannten Welt. Wir sollen nicht Richter sein über unseren Nächsten. Nicht jedem ist es gegeben, ein Leben der Entsagung zu führen. Unser Heiland hat gelehrt: Wer es fassen kann, der fasse es. Nicht aus freiem Willen bist du zu uns gekommen, so ist es nicht deine Schuld, wenn du gefehlt hast. Die Schuld ruht auf uns; wir haben es nicht verstanden, dich vor der Verlockung der irdischen Liebe zu bewahren; wir haben es nicht verstanden, dich teilnehmen zu lassen an der lauteren Freude der Gemeinschaft mit dem Herrn. So erstand dir eine andere Freude, eine andere Seligkeit; die der irdischen Liebe. Das ist keine Sünde, mein Kind. Nicht daraus mache ich dir einen Vorwurf, nicht, weil du geliebt hast. Eine Sünde aber, eine schwere Sünde ist, daß du die Frucht deiner Liebe, die aus dem Blühen deines Seins erstanden war, getötet hast … Diese Sünde können die Menschen dir nicht vergeben, und auch der Herr kann dir nicht verzeihen, und die Erde wird dich um dieser Sünde willen nicht aufnehmen in ihren Schoß … Du hast ihn doch geliebt, den Mann, der dir Freude gab?«

»Ja, Mutter …«

»Und du hast die Frucht deiner Liebe getötet! Und damit die Freude, die dir aus deiner Liebe ward. Warum hast du das getan? Ein Kind, ein kleines, hilfloses Wesen hast du in seiner Unschuld erwürgt, ihm einen Stein an die Brust gebunden, es in den Brunnen geworfen! Das Kind deiner Liebe, das Kind des Geliebten, dein Kind! Deine Liebe hast du getötet. Es ist nur ein Schritt von der irdischen Liebe zur himmlischen, und auch die hast du getötet. Dein Weg zu himmlischen Höhen ist verschüttet, die Erde wendet sich ab von dir, unstet und flüchtig wirst du sein auf deinem Lebenspfade …«

»Mutter, ich habe mein Kind nicht getötet; es kam tot zur Welt …«

»Das ist nicht wahr. Man hat dir das gesagt, dein Einverständnis voraussetzend. Ich weiß, daß du es nicht selbst getan haben wirst, und doch fällt die Schuld auf dich. Tue Buße und sühne! Wenn dein Gebet, deine Glaubenstat Erhörung findet, wird dein Kind auferstehen in deiner Seele und Freude wieder in dein Herz einziehen; und ohne Freude im Herzen kann der Mensch nicht leben … Ich spreche in Liebe zu dir … Als wäre ich deine Mutter … Mehr als deine Mutter … Nun, jetzt heb' den Kopf und sieh mir in die Augen …«

Beruhigt durch die leisen Worte der alten Frau, zugleich aber aufs tiefste erschüttert durch das, was sie soeben vernommen hatte – denn erst jetzt hatte Arischa den Sinn von Warenkas Worten: »Ich werde dir in allem helfen« verstanden –, hob Arischa den Kopf und sah die Äbtissin an. Diese blickte in ein geschwollenes Gesicht, das mit dunklen Beulen und roten Schrammen bedeckt war, und vor Entsetzen zogen sich die Züge der Greisin in tausend Fältchen zusammen. Mit dumpfer Stimme fragte sie:

»Wer hat dich so zugerichtet? … Mutter Jewdokia?!«

Arischa antwortete nicht. Stumm senkte sie die Stirn und brach wieder in Tränen aus.

Von Mitleid überwältigt, streckte die Äbtissin die alten Hände aus und zog das junge Mädchen an die Brust, und Arischa fühlte auf ihrem Gesicht zärtliche, mütterliche Küsse. Dann sank ihr Kopf auf die Knie der Greisin; stumm aneinandergeschmiegt saßen die beiden Frauen, die alte und die junge, lange Zeit, bis es dunkel wurde. Aus dem Dunkel ertönte wieder dieselbe gütige Stimme:

»Es liegt nicht in meiner Macht, dir deine schwere Sünde zu vergeben. Du mußt sie sühnen. Auch unbewußt, auch durch Betrug begangen, bleibt es Sünde und eine ewige Bürde, die nur durch Buße gesühnt werden kann … Nach Wegen weltlicher Wanderschaft mußt du von neuem den Pfad des Heils finden. Ich auferlege dir diese Bußtat als Sühne dafür, was du gefehlt hast: Ich sende dich auf die Wanderschaft als Almosensammlerin für unser Kloster; die frommen Gaben bringst du mir einmal im Jahr. Und deine Seele. Ist sie rein geworden, so nehme ich dich als Nonne ins Kloster auf. Triffst du aber auf deiner Wanderschaft irdische Liebe, die wahrhaftig ist, so gehe hin in Frieden. Und mein Segen soll auf dir ruhn, denn ohne irdische Liebe finden wir auch den Weg zur himmlischen Liebe nicht.«

Die Äbtissin sandte Arischa nicht mehr in Mutter Jewdokias Zelle zurück.

»Bleibe vorerst bei mir. Wenn dein Gesicht geheilt ist, betest du in unserer Kirche und trittst dann den Weg der Sühne an …«

 

Abend für Abend lauschte Arischa in der Dämmerstunde den leisen Worten der Äbtissin über irdische und himmlische Dinge und die Irrgänge der Menschenseele und wollte gar nicht mehr fort von der gütigen Frau. Als der Tag kam, da Arischa aufbrechen sollte, ging die Äbtissin mit ihr zur Mitternachtsmesse in die Kirche und erteilte der jungen Sünderin ihren Segen zu dem schweren Weg.

Als der Morgen dämmerte und die Pförtnerin das Tor den Laien zur Frühmesse öffnete, trat Arischa, ein Rucksäckchen auf dem Rücken, aus dem Kloster und schritt der erwachenden Stadt zu. Mehrmals blieb sie stehen und sah sich um, bis die weißen Mauern des Klosters hinter einer Straßenbiegung verschwunden waren.

 


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