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2

Schon in aller Herrgottsfrühe war Afonka auf den Bahnhof gekommen. Im Dämmerschein blinkten noch die halb erblindeten Laternen, und die Träger waren noch nicht erschienen. Auf dem Tisch im Schalterraum schnarchte der Wiegemeister und im Wartesaal dritter Klasse hoben und senkten sich gleichmäßig auf den Bänken die Kittel der Bauern. Vor dem Einlaufen des Schnellzugs geriet der Bahnhof in Bewegung, die Bauern erwachten, und Afonka fragte jeden Mann mit einer Kokarde an der Mütze, ob der Postzug nach Mzensk bald abgehe.

Zusammen mit den Bauern, an demselben Tisch, aus einem Kessel mit ihnen trank Afonka Tee. Das Päckchen, das die kleine Fenja ihm gegeben hatte, lag unberührt in seiner Tasche; er hatte nicht einmal nachgesehen, wieviel darin war; dieses Geld wollte er sich für den Fall der Not aufheben. Er zog seinen speckigen ledernen Geldbeutel hervor, dem er zum Bezahlen Kleingeld entnahm – von jenen fünfzehnhundert, die er als Vorschuß von Klimow erhalten hatte.

»Was sind Sie von Beruf? …«

»War bei einem Kaufmann angestellt …«

»Und wohin geht die Reise?«

»Nach Petersburg.«

»Für sich selbst oder für den Chef?«

»In eigener Angelegenheit …«

»Ich habe da auch einen Sohn.«

Afonka rückte näher zu dem Bauern heran, um sich jemand zu sichern, an den er sich in der fremden Stadt wenden könnte.

»Was treibt er da?«

»Er arbeitet im Hafen, Lastträger ist er … Vielleicht könnten Sie ihm einen Gruß von mir bestellen? Schade, daß ich Ihnen nicht ein Geschenk für den Jungen mitgeben kann – habe gerade nichts bei mir.«

»Wo wohnt er denn? Ich bringe ihm schon was hin.«

Der Bauer zog einen schmutzigen Briefumschlag aus dem Busen.

»Da steht es drauf … Ich kann nicht lesen.«

So reiste denn Afonka, die Adresse des Lastträgers in der Tasche, in die Hauptstadt, um der kleinen Fenja näher zu sein. In Moskau bummelte er einen Tag durch die Straßen, ging am Abend auf den Nikolaibahnhof und wartete auf den Postzug nach Petersburg. Er fühlte sich jetzt sicherer, sah sich um und wagte sich in den Speisesaal zweiter Klasse, um zu Abend zu essen. Züge liefen ratternd ein und aus, Träger bemühten sich um Herrschaften von wichtigem und weniger wichtigem Aussehen. Eine Flasche Bier vor sich, saß Afonka an einem Tischchen, und musterte die Vorübergehenden, als erwarte er jemand.

Lachend strömte eine Schar fröhlicher junger Leute herein.

Der Herr an Afonkas Tisch, in breitkrempigem Schlapphut, unter dem die Haare üppig hervorquollen, bemerkte, offenbar von dem Wunsche beseelt, sich die Langeweile durch eine Unterhaltung zu vertreiben:

»Die Studenten reisen jetzt in die Hauptstadt, lachen und scherzen; um den Krieg kümmern sich die jungen Leute nicht, sind lustig und vergnügt, als gingen sie die Japaner nichts an …«

Als Afonka Studenten erwähnen hörte, wurde er unruhig; sofort schoß ihm durch den Kopf, daß die kleine Fenja unter ihnen sein könne. Er sah sich um und erkannte sie schon von fern. Er ging ans Bufett, als wollte er einen Schnaps trinken, und schritt dann an ihr vorüber. Erfreut riß er die Mütze vom Kopfe und begrüßte sie wie eine alte Bekannte:

»Fjokla Timofejewna, meine Hochachtung! Sie reisen auch nach Petersburg? Da haben wir denselben Weg.«

Die kleine Fenja wandte den Kopf, prallte zurück und klammerte sich hilflos an Petrowskijs Ärmel; Entsetzen durchzuckte sie. Sie hätte fliehen, sich vor diesem Menschen verbergen mögen, der sie die letzten zwei Tage in ihrer Vorstellung gequält, verfolgt hatte, und der nun plötzlich leibhaftig vor ihr stand und sie wie eine alte Bekannte ansprach! Wieder sah sie die Mühle und die Balken vor sich und den rothaarigen Mönch im schwarzen Käppchen, der sie durch seine Berührungen an Marja Karpowna drängte; damals war ihr noch nicht klar gewesen, daß er sich nicht dieser, sondern ihr zu nähern gesucht hatte.

Petrowskij wandte sich um, fragte:

»Was ist, Fenja, was haben Sie?«

»Wieder dieser … Mönch, Nikodim Alexandrowitsch!«

»Wer? Wo?«

»Da steht er, jener, der mich eben begrüßt hat.«

»Wer ist das denn?«

»Ach, einerlei, es ist schon vorbei …« Dabei schmiegte sie sich an Petrowskij und zog ihn am Arm mit sich fort. »Steigen wir in den Zug, wir verspäten uns noch.«

Die übrigen jungen Leute wandten auch die Köpfe nach Afonka um und richteten Fragen an Fenja.

»Ach, es ist nichts von Belang … Gehen wir. Ich erkläre es Ihnen gleich … Vor zwei Jahren war zu Weihnachten eine Gesellschaft Kostümierter »Zu Weihnachten eine Gesellschaft Kostümierter«: Nach altrussischer Sitte tun sich zu Weihnachten oft junge Leute in Maskenkostümen zusammen und besuchen Bekannte – es genügt, wenn der eine oder der andere der Teilnehmer im Hause verkehrt –; es wird getanzt und gesungen und sonst allerlei Kurzweil getrieben. Oft schließen sich die jungen Leute aus dem betreffenden Hause der früheren Schar an, falls sie nicht bereits zu ihr gehörten, und gemeinsam wird dann das nächste bekannte Haus überfallen. bei uns, darunter auch dieser Rothaarige, als Mönch oder Pilger verkleidet, ich weiß nicht mehr recht. Er hat mich damals so erschreckt, daß ich seitdem diese rote Perücke nicht mehr vergessen kann – immer scheint mir, als wolle er wieder meine Hand ergreifen, wie damals …«

Die kleine Fenja, ein nervöses Lächeln auf den Lippen, sprach schnell und hastig, an Petrowskij gewandt, als richtete sie ihre Worte ausschließlich an ihn. Als sie ins Abteil traten, ließ sie Petrowskij neben sich Platz nehmen und fuhr, um nicht denken zu müssen, lachend fort:

»Eine ganze Gesellschaft Kostümierter überfiel uns, einige trugen Masken – Sie wissen doch, solche Pappmasken – andere nicht. Ich kam aus den hinteren Zimmern gelaufen, als Bauernmädchen verkleidet, auch ohne Maske, und dieser rote Mönch – ich dachte zuerst, er trage eine Maske, so schauerlich sah er aus – machte sich an alle heran, um festzustellen, ob sich ihnen nicht neue Vermummte zugesellt hatten. Er erblickte mich mit Frau Klimowa …«

Eines der jungen Mädchen fragte:

»War das jene Klimowa, die von ihrem Manne erwürgt worden ist? Auf seinen Kellner oder Geschäftsführer soll er eifersüchtig gewesen sein?«

Noch unruhiger wurde die kleine Fenja, noch hastiger sprudelte sie ihre Lügengeschichte hervor, was sie immer fassungsloser machte:

»Ich glaube, er, er hat sie erwürgt … Also ich stand da und plauderte mit Frau Klimowa, als er plötzlich von hinten meine Hände erfaßte. Ich wandte mich um – rothaarig, mit roten Augenbrauen, gebrochenem Nasenbein stand er da und starrte mich an, entsetzlich anzusehen – wie eine abstoßende Maske sah sein Gesicht aus – und lachte mich an: ›Ah, ein neues Mädel,‹ rief er, ›und ohne Maske dazu! Aus welchem Dorfe bist du, Kleine?‹ Ich drängte mich an Frau Klimowa, um ihm auszuweichen, er aber umschlang uns beide zusammen und rief: ›Mir entkommt ihr doch nicht, meine Schönen …‹ Marja Karpowna sagte schließlich: ›Genug, Kaljabin, lassen Sie das‹ …«

Petrowskij fuhr auf:

»Wie, das also war Kaljabin, jener Kaljabin? Warum haben sie mir das nicht gleich gesagt, Fenja – dann hätte ich ihn mir doch ordentlich angesehen.«

Die kleine Fenja verstummte, brach ihre Erzählung kurz ab und rückte im blauen Halbdunkel – der Fahrgast oben hatte sich bereits zur Ruhe gelegt und den Lampenschirm herabgezogen – näher an Petrowskij heran. Die übrigen jungen Leute fragten nicht weiter, sondern zogen sich in ihre Abteile zurück; nur Petrowskij blieb an ihrer Seite. Nikodim fühlte, daß Fenja innerlich unruhig war, konnte aber nicht begreifen, was sie so erregt hatte. Die Geschichte mit den Kostümierten klang ganz glaubwürdig, und doch hatte ihn der Ton, in dem Fenja sie vorgetragen hatte, eigentümlich berührt. Er saß grübelnd da und sann darüber nach, wo er Kaljabin bereits getroffen haben könnte. Schließlich sagte er:

»Wo kann ich ihn gesehen haben? Ich weiß genau, daß ich ihn schon einmal gesehen habe …«

Die kleine Fenja, noch immer erregt, antwortete halblaut:

»Bei uns, im vorigen Frühjahr … Wissen Sie noch, wir standen nach einer Aufsatzstunde im Vorzimmer, da kam er die Treppe herauf und ging ins Empfangszimmer.«

Sie schwiegen wieder.

In der schläfrigen Stille, durch die das gleichmäßige Pochen der Räder hallte, saß die kleine Fenja in der Entrücktheit des Einschlafens an Petrowskij wie an eine feste Mauer gelehnt, Schulter an Schulter, und fühlte sich vor Kaljabins Nachstellungen geborgen. Allmählich entschwanden die Gedanken an ihn, nichts blieb zurück als das Gefühl des Alleinseins, der Hilflosigkeit, weshalb sie sich noch fester an Nikodims Schulter schmiegte. Er saß schweigend und reglos da; am Arm, durch sein Blusenhemd hindurch, spürte er ihren atmenden Körper.

Schon vor langer Zeit, damals noch, als die kleine Fenja zwei durch ein breites Band verknüpfte Zöpfe trug, hatte er oft sehnsüchtig in der Nähe ihres Hauses gestanden und hoffend und bangend auf ihr Erscheinen gewartet; zwei Querstraßen von ihrem Lyzeum entfernt hatte er sie immer gleich an ihrem Gang erkannt und war ihr entgegengeeilt. Dann war sie mit ihrem Onkel auf kurze Zeit nach Petersburg gereist und als eine unbegreiflich andere zurückgekehrt. Scheinbar schamhaft verschlossen wie früher, funkelte doch ihr Blick jetzt zuweilen auf, ertönte ein girrendes Lachen; ja, auch ihre Augen hatten sich verändert, ihr mädchenhaft naiver Ausdruck war verschwunden, bald sprach Schwermut, bald Sorglosigkeit aus ihnen. Selbst ihr Gang war anders geworden, sie trippelte nicht mehr mit kleinen eiligen Schritten dahin, sondern ging, in den Knien federnd, freier und bestimmter. Und über Liebe sprach sie wie über etwas Alltägliches und machte sich über Verliebte lustig. Als er ihr dann Nachhilfestunden gab und sie veranlaßte, Aufsätze zu schreiben – nicht nur über literarische Fragen, sondern oft auch auf das Persönliche übergehend –, erschien sie ihm sogar spießbürgerlich, weil sie an keine hohen Menschheitsideale glauben wollte. Bereits in der Prima des Lehrerseminars hielt Petrowskij sich für einen Revolutionär und Menschheitsbeglücker, und als er nach dem Abitur die Studentenmütze aufsetzte, trat er in die Partei ein. Danach erschien ihm die kleine Fenja noch spießiger, hatten doch alle seine Bemühungen, den Funken der Menschheitsbeglückung in ihr zu entdecken und zu entfachen, zu nichts geführt. So hielt er denn das Gefühl, das er ihr entgegenbrachte, bloß für einen Nachklang knabenhafter Schwärmerei. In ihren Worten über den Besuch der Kostümierten hatten heimlich schmerzlich klagende Töne mitgeklungen; das hatte ihn aufhorchen gemacht. Wieso eine zufällige Begegnung sie nicht nur erschreckt, sondern geradezu auf fast anstößige Weise aus der Fassung gebracht hatte, konnte er sich nicht zusammenreimen. Aus seinem Grübeln erwachend, fragte er leise:

»Warum hat Sie die Begegnung mit diesem … Kaljabin so erregt, Fenja?«

Sie antwortete nicht gleich. Der unheimliche Gedanke an Nikolai huschte ihr durch den Kopf; sie zog die Schultern ein, als fürchtete sie, Nikodim könnte sie in dieser Stille durch plötzliche Zärtlichkeit, vielleicht durch einen einzigen Kuß veranlassen, ihm ihr Herz auszuschütten, ihm alles zu gestehen, was sie wieder zur Verzweiflung bringen würde: wenn er sich daraufhin von ihr abwandte, würde sie es nicht überleben. Sie zog sich in sich selber zurück, lachte aufreizend, blickte ihm in die Augen, als wollte sie sagen: Warum fragst du? Ich bin doch hier bei dir, allein und frei, und zusammen fahren wir nach Petersburg … Sie sagte aber:

»Warum fragen Sie, Nikodim Alexandrowitsch? … Setzen Sie vielleicht gar etwas Romantisches voraus? …«

Er antwortete ebenso leise wie vorher:

»Mir scheint, als versteckten Sie sich und noch etwas anderes hinter Ihrem Lachen und hinter Ihren – wie soll ich es sagen? – nicht hinter Ihren Augen – hinter Ihren Blicken …«

Er berührte ihre Hand an jener Stelle, wo sie noch Kaljabins Kuß spürte. Sie entriß ihm die Hand und lachte laut.

»Nikodim Alexandrowitsch, was tun Sie? …« Sie lachte wieder und fügte fast flüsternd hinzu: »Wenn jemand von unseren Landsleuten es gesehen hätte? …« Laut sagte sie dann und stand auf: »Es ist spät geworden … Wir müssen uns schlafen legen.«

Er strich sich mit der Hand die Haare aus der Stirn und stand kurz, wie erwachend, auf.

»Ja, es ist spät. Sie haben recht. Ich gehe noch eine Zigarette rauchen. Legen Sie sich indessen nieder.«

Er stand auf der Plattform am Fenster, blickte in das Dunkel; Laternen glitten vorüber. Er bemühte sich an Petersburg, an sein Studium, an die Partei zu denken.

Fenja streckte sich aus, lag still und reglos, fühlte, ohne zu denken, daß das neue Leben begonnen hatte. Ihre Lider waren heiß, obwohl sie nicht weinte. Sie hörte, wie Nikodim hereinkam, Plaidriemen löste, mit kurzen Bewegungen eine Decke entfaltete. Er legte sich hin und seufzte tief.

 


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