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Vorwort

Schon wieder ein neuer Dichter? Schon wieder ein Russe? Ist es wirklich notwendig, ihn zu übersetzen?

Über Sinn und Unsinn des Übersetzens ist in dieser Zeit einer Überproduktion an Übersetzungen manches zu sagen: Kein Zweifel, es wird viel zu viel und viel zu viel Unnötiges und Halbwertiges übersetzt. Diese Erkenntnis beginnt sich heut durchzusetzen, nachdem zehn Jahre lang das deutsche geistige Leben sich auf alles, was jenseits der Grenzpfähle im Osten und Westen literarisch vor sich gegangen ist, gestürzt hatte. Man beginnt heut, bei aller Lust an fremder Literatur, doch wieder vor der Übersetzung die Qualitätsfrage zu stellen.

In doppelter Weise läßt sich heut die Übersetzung eines literarischen Werkes rechtfertigen: entweder muß eine große künstlerische Kraft in ihm lebendig und offenbar sein, oder es muß ein Stück Menschlichkeit in besonders fernem und fremdem Milieu darstellen. Große Kunst und Erkenntnis fremdartiger Menschlichkeit: das sind die beiden großen Werte, die Anspruch auf Übertragung aus einer fremden Sprache erheben dürfen.

Dies Werk des neuen und jungen russischen Dichters Kallinikow – er ist heut 38 Jahre alt – ist doppelt gerechtfertigt, wenn es jetzt auch in deutscher Sprache erscheint: es ist die Leistung eines großen Erzählers, und es bietet uns Erkenntnisse über den russischen Menschen, die ungewöhnlich und neuartig sind. »Frauen und Mönche« ist in doppeltem Sinn von Wert für die deutschen Leser: es läßt die Gestalt eines großen Gestalters menschlicher Schicksale und eines genauen Kenners und Deuters russischen Volkstums vor ihnen erscheinen.

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Sprechen wir zuerst von dem großen Erzähler. Kallinikow legt einen zweibändigen Roman von über 1000 Seiten vor und doch liest dies Buch sich in einem Zuge: Zeichen einer großen Erzählkunst, die nicht in der Schilderung breit versinkt und stecken bleibt, sondern auf Handlung, Entwicklung von Charakteren, Entfaltung von Zuständen und Begebenheiten sich versteht.

Dabei ist die Komposition durchaus noch nicht meisterhaft, was sich vielleicht aus der durch das Schicksal des Autors – eines Emigranten – bedingten Entstehungsweise erklärt: einzelne Hauptfiguren verschwinden zu lange von der Bühne der Begebenheiten; die Handlung dehnt sich über Zeiträume, die nicht immer ganz klar umrissen werden; aber schließlich treten doch alle Figuren immer wieder rechtzeitig genug auf, um ihr Schicksal weiter zu leben und zu vollenden; schließlich entsteht aus der Dehnung der Zeit über Jahre und Jahrzehnte das Bild einer Epoche, die für die jüngste Geschichte Rußlands von größter Bedeutung war. (Es ist die Zeit zwischen der Revolution von 1905 und der Revolution von 1917.) Vor allem aber das Entscheidende: die innere Welt der Helden reift und wird älter, so daß am Ende, aus der Veränderung der inneren Landschaft, das Bild eines neuen Rußland entsteht und der Leser unmittelbar spürt, daß viel Zeit und wichtige Zeit der Vorbereitung vergangen ist.

Vielleicht ist es überhaupt unrichtig, dieses zweibändige Werk einen »Roman« zu nennen. Es ist ein breit hingemaltes Lebensbild: Frauen und Mönche. Es ist ein Lebensbild ohne einen eigentlichen individuellen Helden, aber in diesem Bilde einer Epoche und ihrer Lebensformen erscheinen alle die Heldengestalten der jüngsten Vergangenheit Rußlands. Doch damit kommen wir schon zum Ethnologischen dieses Werkes. Verweilen wir noch einen Augenblick bei der künstlerischen Leistung. Das Werk Kallinikows ist nicht von der Idee aus gestaltet, wie sehr viele russische Romane und gerade die der Größten, Tolstois und Dostojewskijs, sondern von der sinnlichen Anschauung aus. Zuerst und zuletzt interessiert diesen großen Epiker, wie ich mich nicht scheue, Kallinikow zu nennen, der Mensch in all seiner Vielfältigkeit und Widerspruchsfülle, in seiner Beweglichkeit, Gebundenheit und Freiheit. Es ist unglaublich, wie viele der Gestalten, wenn man die Lektüre des Romans beendet hat, dauernd ganz lebendig vor dem inneren Auge stehen. Und das gilt nicht etwa nur für die Hauptfiguren, sondern ebenso für eine große Zahl von Nebengestalten. Sicheres Zeichen einer großen und eindringlichen Darstellungskraft! Jede einzelne Gestalt in diesem weitschichtigen Roman – und es sind Dutzende, ja mehr als hundert! – hat ihre Atmosphäre um sich, wird dem Leser, dem Zuschauer dieses Lebensablaufes allmählich vertraut wie ein lebendiger Mitmensch, wird dem Leser bekannt mit all ihren Wünschen und Enttäuschungen, ihren kleinen Eigenheiten und großen Schwächen oder Vorzügen. Von wie vielen modernen Schriftstellern kann man sagen, daß sie so darzustellen wissen?

Das macht: Kallinikow ist eine erzählerische »Natur« von unerhörter Frische des sinnlich-seelischen Ausdrucks. Er setzt seine Gestalten hin ohne große und breite psychologische Analyse, ohne umständliche äußere oder innere Schilderung. Ein Mönch und eine Frau gehen durch den sommerlichen Wald; ein paar Gesprächsfetzen werden mitgeteilt; eine knappe stumme Szene wird geschildert und schon weiß der Leser etwas von den inneren Bindungen der beiden aneinander, von den Anziehungen und Abstoßungen, die zwischen diesen Menschen stattfinden.

Dabei hat Kallinikow, trotz der scheinbaren Länge des Romans, als Erzähler durchaus das Tempo unserer Zeit. Er liebt die Abkürzung, er sucht das bezeichnende Wort, die bezeichnende Geste, das, was die alte Ästhetik den »fruchtbaren Moment« zu nennen pflegte. Schon rein äußerlich zeigt sich das: viele kurze, fast skizzenhafte Impressionen stehen nebeneinander; ein flimmerndes Mosaik entsteht so, das fast zusammenhanglos erscheint und sich doch zu einem Bilde von äußerster Intensität zusammenschließt. Mit einer erstaunlichen Sparsamkeit wählt Kallinikow immer die bezeichnendste Situation, das gedrängteste Gespräch, das knappste Bild, um die Entwicklung eines Helden oder die Entfaltung einer Lebensphase zu geben. Nirgends spürt man ein breites Sich-Gehenlassen, immer den Wunsch und den Willen zu gedrängter Kürze, zu scharfer Profilierung, das Können künstlerischer Konzentration.

Soviel über den Künstler Kallinikow, der ein Erzähler von Geblüt ist. Und nun ein Wort über den Ethnologen, den Kenner und Deuter Rußlands in der Epoche von 1905 bis 1920.

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Kallinikow bereichert durch diesen Roman unzweifelhaft unser Bild von Rußland. Wo lebten und litten denn die Helden Dostojewskijs? In den großen Städten oder im Ausland. Wo die Helden Tolstois? Auf dem Gut oder in den großen Städten. Aus welchen Schichten stammten die Helden Dostojewskijs, Tolstois? Aus der Intelligenzschicht, aus dem Bauerntum, aus dem Adel. Kallinikows Roman spielt in der tiefsten russischen Provinz, zwischen Mönchen und Kaufmannsfrauen, Kleinbürgern und Arbeitern. Ein Waldkloster, eine Provinzstadt geben den Hintergrund für die Ereignisse ab. Gelegentlich taucht Petersburg sozusagen am Rande des Horizontes auf. Es ist das Alltagsrußland ohne metaphysische Verklärung nach der einen oder anderen Richtung hin, das hier in Kallinikows Roman seine Gestaltung findet.

Dabei hat Kallinikow offenbar die Absicht gehabt, das ganze Rußland zu zeigen, und so spielen die Welt der Behörden, der Intellektuellen, der Großfürsten, der Studenten und der Revolutionäre in dieses Milieu des provinziellen Kleinbürgers und Arbeiters und in das Klostermilieu hinein. Überdenkt man den Roman im Ganzen, so hat man ein Bild des alltäglichen Provinz-Rußland in der Epoche der sich vorbereitenden Revolution, die 1905 sich versuchte und 1917 siegte.

Das aber ist gerade das jenseits aller Kunst Packende und Aufwühlende des Buches von Kallinikow: daß es zum Verständnis des heutigen Rußland hinführt, indem es die Entwicklung des revolutionären Zustandes im engen Blickfeld eines provinziellen Schauplatzes zu zeigen versucht. Der Autor wollte bewußt die innere und äußere Entwicklung zwischen der ersten und der zweiten proletarischen Revolution schildern, wollte die Vorgeschichte und Entstehung derjenigen Typen aufhellen, die durch den bolschewistischen Umsturz an die Macht kamen und die Revolution in diesem Riesenreich örtlich durchführten. Das ist, wenn man so will, der geistige Sinn dieses Lebensbildes, dessen wesentliche künstlerische und menschliche Werte im Sinnlichen und Seelischen liegen.

Ein Milieu vor allem ist es, das für den westeuropäischen Leser ebenso fremd- wie neuartig ist und das ihm dieser Roman greifbar deutlich macht: das russische Kloster in seiner Wirklichkeit, nicht in transzendentaler Verklärung wie in Dostojewskijs »Brüdern Karamasoff«. Kallinikow ist der Sohn eines russischen Geistlichen und er verbrachte seine Kindheit im Schatten eines Klosters, wie seine diesem Roman beigegebene höchst abenteuerliche Selbstbiographie aussagt. So kannte er das Milieu des klösterlichen Lebens in allen Einzelheiten. Mit größter Unparteilichkeit gegenüber den Schwächen wie den Vorzügen des Mönchswesens sucht er dies Klosterleben zu schildern. Die verschiedensten Typen von Mönchen stellt Kallinikow dar: den aufrichtig frommen Starezen und den geilen Durchschnittsmönch, den halbirrsinnigen religiösen Narren und den frömmelnden Streber in der Kutte, den reformierenden Zeloten und den weltklugen Kirchenpolitiker, den Bruder Wirtschafter mit seiner realistischen Gesinnung ebenso wie den Vater Abt, der sich um die Heiligsprechung des Klostergründers so große Verdienste erwirbt und doch nur ein ehrgeiziger und habgieriger Schürzenjäger ist. Dabei sind diese Schilderungen aus dem Klosterleben, in dem ja eine wesentliche Seite russischen Volkstums, die populäre Frömmigkeit und Devotion, sehr schön zum Ausdruck kommt, eingebettet in wundervolle Naturschilderungen aus dem russischen Wald mit seinen dunklen Mooren und verlorenen Seen, seinen undurchdringlichen Brombeerhecken und plötzlichen Lichtungen. In allen Jahreszeiten erleben wir das Treiben im Kloster und um das Kloster herum mit; alle Menschlichkeiten brechen auf und alle Tiefen des Glaubens und der frommen Spekulation werden offenbar.

Von diesem Kloster laufen, unter der Peitsche des Eros, die Schicksale aus, die das Gerüst der Handlung ausmachen: zwei Mönche entlaufen in die Welt um zweier Frauen willen. Der eine kehrt nach heftiger Enttäuschung in der Welt in sein Kloster zurück und wendet seinen Lebensdrang und Machthunger darauf, Abt zu werden und dem Kloster einen neuen Heiligen und großen Wohlstand zu verschaffen. Der andere geht durch die Welt hindurch auf der Suche nach der einen Frau, die er liebt, und gerät dabei erst in ein Kaufmannshaus, dann in die Zirkel studentischer Verschwörer, zuletzt in die Fabrik. So wird er allmählich, im Laufe der zwölf Jahre zwischen 1905 und 1917, ein Vorkämpfer revolutionärer Ideen aus einem ganz tief nach innen geschlagenen erotisch-sozialen Erlebnis mit einer Fabrikantentochter, das keine Lösung findet, sondern am Ende durch einen Schuß beendet wird. Mit diesem Schicksal eines »proletarischen Kämpfers« für die Revolution ist durch Eros und Haß der Lebensweg eines »intellektuellen Kämpfers« für die Revolution verbunden. Auch diese innere Entwicklung führt über Spannungen des Eros zu einer wilden Aktivität nach 1917. Man sieht: das zweite interessante Motiv dieses Romans ist die Darstellung der äußeren Umwelt und der inneren Entwicklung von Bolschewisten-Unterführern, als die sich diese beiden Kämpfer der Revolution gegen Ende des Romans hin auswirken.

Und noch ein drittes Milieu wird in diesem breiten Lebensbilde durchleuchtet: das Milieu der russischen Kaufleute. Wieder werden zwei Typen geschildert: der altrussische Kaufmann, der, altertümlich in seinen Sitten und Gewohnheiten, großen Reichtum aufhäuft, und der neurussische Unternehmer, der im Roman den Spitznamen »der Amerikaner« führt und der der industriellen Entwicklung seines Landes mit Aufbietung aller seiner Kräfte zu dienen versucht. Gerade in dieser Gegensätzlichkeit zwischen Alt und Neu, zwischen Mittelalter und Neuzeit offenbart sich eine ganz wesentliche Seite russischen Lebens in der Vorkriegszeit. Man spürt gerade bei der Schilderung dieser grundverschiedenen Milieus, wie überstürzt und unausgeglichen die »westlerische« Entwicklung Rußlands sich vollzogen hat, wie überall tiefes feudales Mittelalter im Zarenreich neben modernster kapitalistischer und sozialistischer Entwicklung steht.

Um das Ethnologische dieses Romanes abzurunden: die Schlußkapitel geben ein gutes Bild davon, wie der bolschewistische Umsturz sich in der Provinz vollzogen und ausgewirkt hat, und zwar sowohl in der Stadt wie auf dem Lande. Dabei ist Kallinikow hier wie überall durchaus Künstler geblieben, hat sich nirgends in eine spürbare Tendenz verirrt, obgleich er wohl sicher kein Bolschewist ist. Wie der Umsturz in den Schilderungen dieses Romanes vor sich geht, so ist er wahrscheinlich annähernd überall im weiten russischen Reich gewesen. Auch hier beleben wieder Typen allerverschiedenster Art – weißgardistische Verschwörer, gemeine Nutznießer der Revolution, opferwillige Idealisten, skrupellose Verbrecher, sich für das Volkswohl totarbeitende »Genossen« – die Schilderungen, so daß ein höchst lebendiger Eindruck entsteht.

Man sieht, hält man sich die Darstellung dieser vier sehr verschiedenen Milieus mit ihren Menschentypen einmal vor Augen, daß Kallinikow wirklich ein breites Bild russischer Lebenszustände mit möglichster Unparteilichkeit malt, ein Bild, das unsere Kenntnis vom wirklichen Rußland der jüngsten Zeit erweitert, unsere theoretische Erkenntnis von den im gegenwärtigen Rußland wirkenden Kräften belebt, vor allem aber das Bild Rußlands, wie es bei uns unter dem Einfluß Tolstois und Dostojewskijs entstanden ist, in wesentlichen Punkten richtigstellt.

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Kallinikow ist unzweifelhaft einer der ganz großen erotischen Dichter nicht nur Rußlands, sondern der Welt: das eigentlich Bewegende in diesem Roman ist nicht die Politik, nicht der Geist, sondern die Liebe, die Liebe in allen ihren Verzerrungen und Auswüchsen, aber auch in ihren reinsten seelischen Formen. In keinem Werk eines russischen Autors, wenn man vielleicht von einigen der klassischen Novellen Ljesskows absehen will, tritt die Erotik des Slaven so klar und unverhüllt zutage. Auch dies noch bedeutet Entdeckung einer neuen Welt trotz des uralten Themas. Es ist die Entdeckung: zugleich durch die völlige Naivität der Darstellung, die von höchster Freiheit und Leichtigkeit ist, wie durch die allmenschliche Enthüllung des Trieblebens und seiner oft wunderlichen Umwege und Irrfahrten.

Nach dem Schluß des Romans hat der Übersetzer Wolfgang E. Groeger eine Art von Selbstbiographie des Dichters zum Abdruck gebracht. Sie liest sich wie der Aufriß zu einem Roman des Dichters. Ihr Abdruck erspart mir, einiges Tatsächliche über den Dichter und seinen Lebensweg zu sagen. Trotzdem ein Wort zum Schluß über den Menschen, der hinter dem Werk steht.

Kallinikow wirkt wie eine Naturbegabung: seine Darstellungsweise hat etwas Triebhaftes wie die Menschen, die er darstellt. Man hat das Gefühl: eine Übermacht von Anschauung umdrängt den Dichter; er hat Mühe, den Reichtum auch nur einigermaßen zu bändigen. Der Dichter mag nicht aufhören zu erzählen und der Leser hört ihm weiter und weiter zu. Die letzte Rundung fehlt diesem Talent noch, aber seine Überfülle ist so überwältigend, daß man diesen Mangel vergißt. So wirft Kallinikow mit diesem ersten Roman einen Block in die Masse der erzählenden Literatur, einen Block, der genügt, von seinem Schöpfer zu sagen: da ist ein großer Erzähler.

Berlin, August 1928.
Werner Mahrholz.


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