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Im Walde hatten sich die gefiederten Wedel des Farnkrauts aufgerollt; die Erde war erwacht; ihr Atem trieb junge Sprößlinge, samtenes Widertonmoos hervor, die Bruderschaft strich durch den Wald, in dem Andacht und Weihe herrschte … Die großen Klosterwagen ratterten vom Bahnhof zum Kloster, brachten Sommerfrischler und Pilger. Das helle und girrende Lachen junger Mädchen und abenteuerlustiger Frauen hüpfte hallend durch die Wipfel der Fichten. Durch Groß-Polpenki, an der Mühle vorüber, zogen von nah und fern Bauern und Bäuerinnen herbei, in Kitteln und Sarafanen, in hochgerafften ärmellosen Kleidern über langärmeligen Hemden, um zur Mutter Gottes zu beten. Zwei- und Fünfkopekenstücke fielen klirrend in die Sammelbüchsen – zur Verschönerung, zum Weiterausbau, zur Verherrlichung des Klosters Belobereshsk.

Auf allen Wegen strömten die Wallfahrer singend ins Kloster, um sich auszuweinen vor dem Antlitz der heiligen Jungfrau, um die vergrämten Bauernseelen aufzutun vor der Allerheiligsten, um Vergebung ihrer vielen Todsünden zu erflehen. Eva hat sich versündigt, hat Adam verführt, das Gebot übertreten auf heiliger Erde, sich vor Gott vergangen unter dem verbotenen Baum, ihre Seele in die Finsternis des Fegefeuers gestürzt und dem Menschengeschlecht das heilige Paradies verschlossen, klang die Weise …

»So der Herr will, werde ich bald den Starez Akakij sehen; er braucht nur einen Blick auf den Menschen zuwerfen, und schon weiß er Bescheid …«

»Ein seelenvoller Greis … Jedes Jahr pilgere ich zu ihm, seit er zwischen mir und meiner Schwägerin Frieden gestiftet hat …«

Die Wallfahrer setzten sich auf Baumstümpfe und aßen Brot, dann aber taten sie ihre Seele auf vor den fremden Weggenossen; ein Mensch sollte ihr lauschen, dieser Seele; leichter wird dadurch die Mühsal, die auf ihr lastet.

Das ist nun schon einmal so Brauch in Rußland, vor aller Welt zu beichten, seine Seele bis ins Tiefste aufzutun, gleichviel wo und wann, wenn es nur offen und ehrlich vor aller Welt geschieht. Zuweilen klagt ein Mensch, der sich vom Leben gekränkt fühlt, wohl auch in einer Schenke unter Tränen sein Leid, denn ein Nüchterner findet nicht immer den Mut zu solch einem Bekenntnis. Aber das einfache Volk, die last- und leidgebeugten Bauernweiber tun es vor aller Welt, unterwegs, auf Pilgerfahrten, wenn die Seele in der versöhnenden Stille der Natur sich erdennäher fühlt. Da öffnet der Mensch Herz und Seele, restlos, und leichter fällt ihm von Stund' an sein Lebensweg. Allein der gekränkte Mensch vermag seine Seele vor jedem zu öffnen; nur uns Russen ist diese Demut ungesagten Leidens eigen. Solange es in einer Seele nicht licht und klar geworden ist, so lange beichtet der russische Mensch und spült Leid und Kränkung mit Reuetränen hinweg.

Auch Arischa, die kleine Nonne, die hinten in einem Zuge müder Wallfahrer schritt, hätte gern gebeichtet, aber noch fehlte ihr Mut und Kraft dazu, vielleicht darum, weil sie ein schwarzes Käppchen und das Kleid der Demut trug. So schluckte sie ihr Leid in sich hinein, bereit, bis zum Ende ihrer Tage Weh und Mühsal schweigend zu tragen.

Stumm stand sie auf, seufzte nur leise, senkte den Kopf und schritt als letzte hinter den Pilgern her.

Von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, von Kloster zu Kloster wandert Schwester Arischa, die kleine Nonne, und muß weiter wandern, immer weiter, solange sie nicht gesühnt hat, solange sie ihr sündiges Fleisch nicht bezwungen hat. Es ist bereits über ein Jahr her, seit die Mutter Äbtissin sie aus dem Kloster auf die Wanderschaft geschickt hat, ja sie hätte Schwester Arischa wohl aus dem Kloster ausgestoßen, hätte sie nicht die Schmach gefürchtet, wäre sie nicht davor zurückgeschreckt, das Kloster in Verruf zu bringen, wenn unter der äußeren Reinheit des Klosterlebens wuchernde Geschwüre zum Vorschein gekommen wären; so hatte sie Mitleid gehabt mit der Mädchenseele, die schuldlos irdischer, sündiger Liebe zum Opfer gefallen war.

 

Im Kloster war das junge Mädchen der Versuchung erlegen. Das Kloster befand sich am äußersten Rande der Stadt, an der Eisenbahnbrücke, rücklings an den Fluß, die Oka, gelehnt. Den ganzen Tag rattern Züge über den Bahndamm, schießen aus der Schlucht zwischen zwei Rasenhängen hervor, gleiten schlangengleich über die Brücke und weiter den steilen Bahndamm entlang in die Kornfelder. Tritt man aber aus dem hinteren Klostertor, so kommt man auf einer Brücke über den Fluß zum Klosterfriedhof. Der ist wie ein zum Kloster gehöriger Garten, aber ungepflegt; weder Wege noch Pfade gibt's da, bloß kleine, mit Vergißmeinnicht bepflanzte Grabhügel. Im Frühjahr schlagen die Nachtigallen in dem Buschwerk vom Abend bis um Mitternacht, und dann ist es kein Friedhof, kein Ort der ewigen Ruhe mehr, sondern ein freudetrunkener Blumengarten.

Des Abends stehlen sich verliebte junge Nonnen und Novizen hin, und Küsse, von Nachtigallenschlag begleitet, verletzen die klösterliche Stille, und schwarze Schatten verschwinden im Buschwerk.

Ein frisches fröhliches Treiben herrscht hier. Hinter der Klostermauer brütet Keuschheit; ist man aber durch das Hinterpförtchen und über die Brücke geschlüpft, so umfängt einen der Friedhof, wo die Nachtigallen ihre Triller erschallen lassen, die im Herzen Widerhall wecken und das Blut selig betören.

Arischa war als siebenjähriges Mädchen ins Kloster gekommen, als ihre Mutter gestorben und ihr Bruder verschollen war. Mutter Valeria hatte die Kleine aus Gnade und Barmherzigkeit im Kloster aufgenommen und ihr, als das Mädel fünfzehn Jahre alt geworden war, die Kappe aufgesetzt, das rotblonde Gold ihrer Haare unter den schwarzen Samt gezwängt und Schwester Arischa im Chor untergebracht. Nach klösterlichem Brauch waren die Chorsängerinnen von aller niederen Arbeit befreit, in ihren Mußestunden beschäftigten sie sich mit Handarbeiten.

 

Die Zeit kam, da die Friedhofsnachtigallen auch Arischas Blut in Wallung brachten; eine Unruhe erwachte in ihr; über den Stickrahmen gebeugt, hing sie einem unfaßlichen Sehnen nach, das sie ergriffen hatte.

Mutter Valeria sagte bloß:

»Halte durch, Arischa, halte durch, liebes Kind … Schwer wird es einem Mädel, bei lebendigem Leibe sterben zu müssen.«

Und Schwester Arischa hielt durch, solange Mutter Valeria am Leben war. Diese, eine demütige, stille Nonne, hatte in ihrer Jugend das wogende Lebensmeer durchquert, nach dem Tode ihres Mannes aber war sie in Trauer und Gram ins Kloster geflüchtet.

»Aus dem Kloster kannst du nirgends hin, Arischa«, pflegte sie zu sagen. »Als Dienstmädchen nimmt man dich nicht, man liebt uns nicht in der Welt, und ohne Anstellung … da kommt man leicht vom rechten Wege ab. Und schlimmer als Höllenqual ist's, wenn ein Mädchen erst von Hand zu Hand geht; Krankheiten lauern ihr auf, zersetzende Krankheiten, bei lebendigem Leibe verfault der Mensch. Und Nonnen lieben!? … Wohl findet sich jemand, aber es dauert nur eine kurze Weile. Der Herr behüte dich vor dieser Anfechtung … Du bist ein hübsches Mädel, golden ringelt sich dein Haar, und golden tönt deine kleine Stimme … Du kannst aber nichts und weißt nichts … Schlimm ist das … Gib acht, Mädel, bleib brav! …«

Bis zu ihrem siebzehnten Jahre, solange Mutter Valeria lebte, blieb Arischa brav, als aber Mutter Valeria nicht mehr da war …

 

Neben dem Nonnenkloster, zur Stadt hin, lag der Garten des geistlichen Seminars, durch den sich, dunkel wie ein Wald, eine mit Bäumen und Sträuchern bewachsene Erdschlucht zog. In der Schlucht ergingen sich die Popensöhne, liebäugelten mit den jungen Novizen, liefen den Berg hinauf, bogen hinten um das Kloster und stahlen sich über die Brücke auf den Klosterfriedhof, wo sie den Novizen auflauerten und ihnen beim Schlagen der Nachtigallen den Hof machten. Die lustigen weltlichen Lieder der Seminaristen waren eine Verlockung für die Novizen, und selbst die alten Nonnen gedachten ihrer Jugend, wenn aus der Schlucht im Park des Seminars Abend für Abend das fröhliche Singen der wohlgeschulten, kräftigen jungen Stimmen erklang.

Dann strich ein solches Weh durch die Zellen der Nonnen, überkam die jungen Novizen eine solche Sehnsucht nach einem unerreichbaren, unerfüllbaren Glück, nach etwas unsäglich Süßem, daß sie sich die ganze Nacht durch unruhig auf ihren Betten hin und her warfen.

Auch Schwester Arischa bekam bei den Klängen der Liebeslieder Herzklopfen, sie meinte zu ersticken, so heiß wurde ihr, trotzdem das Fenster geöffnet war, um die kühle Abendluft hereinströmen zu lassen. Sie konnte nicht einschlafen, solange aus der Schlucht die schmachtenden Lieder der Seminaristen und vom Friedhof her das Schlagen der Nachtigallen erklangen.

 

Mutter Valerias Zelle stand leer. Jewdokia Semjonowna Denissowa, einst einfach Dunja genannt, die als Witwe des Kaufmanns Klimow galt, erschien eines Tages im Kloster und sah sich Mutter Valerias Häuschen an.

»Wieviel wollen Sie für die Zelle?«

Ihr Blick fiel auf Arischa, und eine unbestimmte Erinnerung huschte ihr durch den Kopf; das junge Mädchen hatte Ähnlichkeit mit jemand, den sie kannte, mit wem aber, wußte sie im Augenblick nicht.

»Als Dienstschwester lassen Sie mir dann diese Nonne.«

Wie hätte man dem Wunsche Jewdokia Semjonownas nicht entsprechen sollen, die ohne zu feilschen den geforderten Preis für das Häuschen zahlte und im Kloster eine bedeutende Summe hinterlegte, um hier ein Leben in Ruhe führen zu können, ohne Sorge um den kommenden Tag …

 

Nach dem Tode des alten Klimow hatte das Leben Dunja so zugesetzt, daß sie sich ganz unglücklich fühlte, zumal sie von Gewissensbissen über ihre unselige Tat gepeinigt wurde. Als dann noch ihr Kind starb, überkam sie zuweilen eine Art Gestörtheit.

Auch machte sie sich Vorwürfe wegen des Todes ihres Kindes, weil sie seinen Tod herbeigesehnt hatte; Afonkas wegen hatte sie auch sein Kind gehaßt, über die Wiege gebeugt, geflüstert: »Wenn du doch sterben wolltest! Erst zweiundzwanzig Jahre bin ich alt, durch dich aber an Händen und Füßen gebunden … Alle Kräfte saugst du mir aus, du Satansbalg …«

Fünf Monate war der Kleine alt, als er starb. Nun war Dunja frei.

Der Kellner Wassilij, den sie zum Geschäftsführer gemacht hatte, warf ihr werbende Blicke zu. Als er ihr aber eines Abends den Tageserlös hinaufbrachte, hörte er sie in der Betstube halblaut jammern. Er blieb hinter der Tür stehen und lauschte.

»Sie, die Granaten und Perlen sind an allem schuld … Hätte sie mir die glitzernden Steine nicht vor Augen gehalten, so wäre nichts geschehen … Meine Hände zuckten, eine Blutwelle schoß mir durchs Herz, ich konnte nicht mehr an mich halten … Wer hätte nicht ebenso gehandelt? … Wer hätte dies Scheusal nicht erwürgt? … Das war keine Sünde … Warum läßt sie mich aber jetzt nicht in Frieden, warum erscheint sie mir? … Verhöhnt haben sie mich beide; fortgeschickt hat sie ihn, vor mir versteckt … Nun, und was hat sie davon gehabt? Dein Plan ist dir nicht gelungen … Wenn ich ihn nicht mehr haben sollte, so solltest du ihn erst recht nicht haben …«

Wassilij horchte und horchte, drehte sich schließlich um, steckte das Geld wieder in die Tasche und ging nach Hause. Unterwegs murmelte er:

»Das hat mit Unrecht angefangen und wird mit Unrecht enden … Ich will nichts mit ihr zu tun haben, aber ihr Geld brauch' ich, brauche ich sehr, könnte eine eigene Wirtschaft aufmachen. Oder … ich will mal sehen, ob ich nicht vielleicht die ganze Sache an mich bringen kann …«

Wie früher war das Wirtshaus den ganzen Tag voll von trinkenden und essenden Leuten, wenn aber Wassilij den Tageserlös hinaufbrachte, erklärte er Dunja:

»Schlechte Geschäfte, Jewdokia Semjonowna, schlechte Geschäfte …«

Sie sah ihn schweigend an.

»Die Leute sind so frech geworden. ›Jetzt haben wir ja Freiheit,‹ sagen sie, ›da wollen wir auch frei essen und trinken.‹ Was soll man da machen? Wenn man auf Zahlung besteht, erwürgen sie einen noch …«

Absichtlich hatte er das Wort »erwürgen« gewählt …

Über Einnahmen oder Nichteinnahmen machte Dunja sich wenig Sorgen, doch der Gedanke, daß man auch sie eines Nachts erwürgen könnte, erfüllte sie mit Schrecken. Sie stellte für die Wohnung einen besonderen Nachtwächter an und nahm eine alte Pilgerin ins Haus. Trotzdem verbrachte sie unruhige Nächte. Dieser Nachtwächter – was wußte sie von ihm? Vielleicht würde gerade er sie erwürgen, um sie zu berauben …

Als das Kind tot war, wurde es noch schlimmer mit ihr. Die Milch stieg ihr zu Kopf, wie man so sagt, sie wurde beinahe verrückt; mit Mühe rettete sie der Arzt. Noch mißtrauischer geworden, schloß sie sich des Nachts in ihrem Zimmer ein, und die Pilgerin mußte bei ihr auf dem Diwan schlafen, den sie vor die Tür rückte, damit jene als erste einem möglichen Einbrecher zum Opfer fiele und nicht sie im Schlafe überrumpelt werde …

Wassilij fuhr fort, sie einzuschüchtern.

»Die Leute sind wahre Straßenräuber geworden, fürchten weder den Zaren noch Gott. Wir arbeiten mit Verlust …«

 

Lossew tauchte wieder in der Wirtsstube auf. Ein ganzes Jahr lang hatte er sich ferngehalten, sein Häuschen mit Hilfe des Drakinschen Geldes instand gesetzt, schrieb nicht mehr Klageschriften für die Bauern, befleißigte sich einer würdigen Haltung, trat bei allerlei Skandalaffären vor dem Friedensrichter als Verteidiger dunkler Klienten auf. Auch eine Aktentasche hatte er sich zugelegt, von der er sich niemals trennte. Statt der früheren Zehner und Zwanziger flossen Rubel- und Dreirubelscheine in seine Tasche.

Eines Tages heftete er das Abzeichen des Bundes »Erzengel Michail« an die Brust und tat noch wichtiger, fühlte sich als Respektsperson. Nicht mehr mit kleinen Schmutzgeschichten befaßte er sich nun, sondern widmete sich der Politik, warb Mitglieder für den Bund, organisierte schwarze Hundertschaften und brachte es schließlich bis zur Herausgabe einer eigenen Zeitung, eines ultrapatriotischen Käseblättchens, das den Zweck verfolgte, »unser Vaterland vor dem inneren Feinde zu retten«, und mit Klatsch und Verleumdung arbeitete.

Das Blättchen erschien auf Einschlagepapier, war aber äußerst geharnischt und giftig und setzte der Bürgerschaft zu. Es gab da eine Rubrik unter der Spitzmarke: »Ist es wahr?«, in die er alles hineinbrachte, was seine sauberen Klienten ihm zuflüsterten.

»Ist es wahr, daß der Oberpriester an der Kathedrale im Anzug eines Kaufmanns am Samstagabend auf der Galerie im Theater war?«

Darauf konnte sich der Oberpriester nicht mehr auf der Straße blicken lassen, und der Bischof ließ ihn zu sich kommen und erteilte ihm einen Verweis, nachdem auch Seine Eminenz pathetisch gefragt hatte: »Ist es wahr?!« Vielleicht war es auch nicht wahr, aber alles Leugnen half dem in eine peinliche Lage Geratenen nichts: es hatte ja in der Zeitung gestanden!

»Wie hast du nur so tief fallen können, du falscher Knecht? Du träumst wohl auch von Freiheit? Wenn ich dich ins Kloster verbanne, damit du Buße tust, werden dir solche Gelüste vergehen … Das teuflische Komödiantenspiel muß er sich ansehen! … An dein Seelenheil solltest du denken, Seelenhirt …«

Ob er wollte oder nicht – um einen Widerruf zu erlangen, mußte der Oberpriester zu Lossew gehen und zum Beweise seiner wahrhaft russischen Gesinnung und seiner Treue zu Thron und Vaterland in den Bund eintreten und Lossew mit einer angemessenen Unterstützung zur Verbreitung seiner patriotischen Grundsätze unter die Arme greifen.

Insbesondere aber hatte Lossew es auf die wohlhabende Kaufmannschaft abgesehen.

»Ist es wahr, daß unser angesehener Kaufherr Podkaldykin revolutionäre Zeitungen liest und heimlich Mitglied einer staatsfeindlichen Partei ist? …«

Vielleicht, ja wahrscheinlich war auch das nicht wahr, aber es hatte in der Zeitung gestanden, und am nächsten Tage sprach der Polizeioffizier des Reviers im Laden des Kaufmanns vor und gab ihm den freundschaftlichen Rat, etwas zur Wiederherstellung seines guten Namens zu tun; es ginge nicht an, daß ein geachteter Mann als Thron- und Vaterlandsfeind gelte, und er habe ja auch Kinder …

Podkaldykin griff sich an den Kopf und fragte verzweifelt:

»Aber was kann ich denn tun?«

»Sie müssen beweisen, daß Sie ein treuer Untertan unseres Selbstherrschers sind. Treten Sie in den Bund »Erzengel Michail« ein, der unter dem allerhöchsten Protektorat unseres angebeteten Monarchen steht.«

So mußte sich denn Podkaldykin bequemen, Lossew seine Aufwartung zu machen und dem Polizeioffizier in knisternden Scheinen seine Vaterlandstreue zu beweisen. Und nach dem Offizier erschien sein Gehilfe, und der Reviervorsteher, und der Schutzmann von der Ecke, und jeden mußte Podkaldykin in gleicher Weise über seine Gesinnung beruhigen. Lossew aber erhielt von ihm eine Unterstützung zur Erweiterung des Bundes und Mitgliedsgeld auf zwei Jahre im voraus. Der Sicherheit wegen ließ der Kaufmann dann auch gleich sein ganzes Personal in den Bund aufnehmen; wer dagegen war, könne sich eine andere Stelle suchen, sich der jüdischen Revolution anschließen, niemand würde ihn zurückhalten …

Doch seine alte Gewohnheit, in Schenken und Teestuben herumzusitzen, hatte Lossew nicht aufgegeben; auch hier warb er jetzt Anhänger, die bereit waren, für Glauben, Thron und Vaterland einzutreten. Aus diesem Anlaß sprach er denn auch eines Tages wieder in Klimows Wirtshaus vor und trat an den Schenktisch, um Wassilij zu begrüßen.

»Lange bin ich nicht hier gewesen … Ich sehe, manches hat sich bei Ihnen verändert …«

»Die Zeiten haben sich geändert, und so ist auch hier vieles anders geworden, auch einen anderen Chef haben wir ja, richtiger eine Chefin, wenn man so sagen kann … Haben Sie mich denn auch erkannt, Iwan Matwejewitsch?«

»Von den Vorgängen hier habe ich gehört, tja … Und Ihrer erinnere ich mich gut, Wassilij … Tja, Ihren Vatersnamen kenne ich nun nicht. Früher sagten wir ja wohl einfach ›Wassilij‹, jetzt aber, da Sie hier gleichsam Chef sind …«

»Wassilij Nikanorytsch heiße ich.«

»Tja, Wassilij Nikanorytsch, früher habe ich hier so manches schöne Geschäftchen gedrechselt.«

Er blickte zu dem Tischchen in der Ecke hinüber.

»Ich würde Ihnen gern aus alter Anhänglichkeit etwas vorsetzen lassen, Iwan Matwejewitsch, aber Sie sind ja jetzt sozusagen eine Berühmtheit in unserer Stadt geworden … Da traue ich mich nicht recht … Sonst würde ich mich auch gern einmal mit Ihnen beraten …«

»Ich bin immer bereit, Ihnen mit einem freundschaftlichen Rat zu dienen.«

So setzten sie sich denn wieder an das kleine Tischchen in der Ecke, an dem früher Afonka mit Lossew zu tuscheln pflegte. Bei einem Fläschchen Schnaps lösten sich die Zungen. Unter Geschäftsleuten ist es ja immer so, daß ein paar Gläschen zu erquicklichen Gesprächen führen, zu vertraulicher Aufrichtigkeit anregen.

»Also, was ich Ihnen sagen wollte, Iwan Matwejewitsch, mit unserer Gnädigsten scheint nicht alles in Ordnung zu sein. Marja Karpowna kommt ihr nicht aus dem Sinn, und zuweilen, wenn sie sich allein glaubt, spricht sie von unheimlichen Dingen. Ich weiß nicht recht, was ich davon denken soll … Es scheint geradezu, als hätte sie manchmal nicht alle ihre fünf Sinne beisammen, wenn sie der Verstorbenen gedenkt … Streng vertraulich will ich's Ihnen sagen … Aus ihren Worten geht nämlich hervor, daß nicht der alte Klimow Marja Karpowna den Garaus gemacht hat, sondern … Einem wird ganz unheimlich zumute bei ihrem Gerede …«

»So, so … Das wäre ein Geschäftchen, tja … Und zwar ein gutes Geschäftchen, Wassilij Nikanorytsch. Es sind zwar keinerlei Beweise vorhanden, aber wenn sie solche Anfälle … geistiger Umnachtung hat, so kann man Geld daraus schlagen, tja …«

»Und dann … das ganze Geschäft geht unter so einer Leitung zum Teufel … Die feste Hand fehlt …«

»Eigentlich sind Sie ja der Leiter hier … Aber ich verstehe … Sie sollten hier wirklich Chef sein …«

Sie waren an den Punkt gekommen, um den es sich handelte. Noch eine Weile tasteten sie einander mit Worten ab, dann wußte jeder, woran er war, und sprach unverblümt.

»Ja, sehen Sie, Iwan Matwejewitsch, ich könnte ja die Gnädige heiraten, aber das ist so eine Sache, eine unheimliche Sache … Sonst sehe ich keine Möglichkeit … Könnten Sie mir da nicht einen Rat geben?«

»Juristisch einwandfrei müssen Sie vorgehen, juristisch … Keine Rechtsverletzung, ganz gesetzmäßig, ganz einwandfrei … Na, sagen wir, ein kleiner Wechsel auf des alten Klimows Namen wird sich doch finden lassen? … Mehrere … Alte Schulden … Sie haben doch bestimmt so einen kleinen Wechsel irgendwo liegen? Bei der Art Geschäften, wie sie Klimow machte, gab's immer Wechsel, die bei seinen Angestellten aufbewahrt wurden, das ist sicher … Damit könnten wir denn beginnen … Sie sagen, Jewdokia Semjonowna sei nicht recht bei sich, da weist man ihr denn solch ein Wechselchen vor … Unter uns und im Vertrauen gesagt: Sie kann ja weder lesen noch schreiben, da ist es leicht, ihr einen kleinen Schreck einzujagen … Suchen Sie mal nach, ob Sie nicht so einen vergessenen Wechsel finden …«

Wassilij fand keinen, am nächsten Tage aber brachte Lossew einen auf Klimows Namen gezogenen Wechsel. Wie er zu dem Dokument gekommen war, kümmerte Wassilij nicht weiter.

»Tja, was ich sagen wollte, Wassilij Nikanorytsch: den Wechsel habe ich einem Freunde abgekauft, so daß Sie …«

»Gewiß, gewiß, Iwan Matwejewitsch. Ich bin in juristischen Fragen nicht bewandert, aber machen wir es doch einfach so, daß Sie die Hälfte von allem bekommen, was ich erhalte. In aller Ehrlichkeit.«

So machten sie sich denn gemeinsam daran, in aller Ehrlichkeit und juristisch einwandfrei, das Klimowsche Vermögen allmählich an sich zu bringen, wobei Wassilij sich als Dunjas Beschützer aufspielte. Und wenn nicht der Zufall dazwischen getreten wäre, wäre Dunja bei all ihrem Reichtum schließlich wohl an den Bettelstab gekommen. Die Pilgerin, die sie ins Haus genommen hatte, erwies sich als Retterin in der Not. Auch sie hatte an Türen gehorcht und Dunjas verstörtes Gemurmel vernommen. Aus Mitleid mit ihrer Wohltäterin sagte sie einmal:

»Mütterchen, Jewdokia Semjonowna, man bekommt ja rein Angst, wenn man Sie ansieht! Sie essen nicht, Sie trinken nicht, und dazu quält Sie eine Hautkrankheit … Das alles kommt von dem gärenden Blut her, Mütterchen. Wenn Ihr Blut erst wieder ruhig ist, so werden Sie auch wieder ruhig schlafen und essen. Diese Pickelchen da sind ein Zeichen, daß Ihr Blut blüht, so wie die Bäume im Frühjahr ausschlagen. Es findet keinen Ausweg und da ist es Ihnen zu Kopf gestiegen und hat Ihre Gedanken verwirrt, so daß Ihnen allerlei Gespenster träumen. Sie sollten auf mich alte Närrin hören: wieviel Länder habe ich durchwandert, was nicht alles gesehen, mit wievielen Menschen bin ich zusammengekommen! … Auch solche Frauen wie Sie habe ich oft gesehen, unglückliche Witwen, die in der Vollkraft ihrer Jugend und bei blühender Gesundheit sich ohne Mann in Sehnsucht verzehrten … Besänftigen muß man es, das gärende Frauenblut, sich einen Gatten nehmen, sich der Süße der fleischlichen Vermengung mit dem Geliebten hingeben.«

»Still, schweige … Von Männern will ich nichts hören, erwürgen könnte ich sie mit meinen eigenen Händen, alle, alle. Sie stillen nur ihre Lust an uns, halten uns zum besten …«

Seit Afonka, sie und sein Kind im Stich lassend, verschwunden war, hatte Dunja einen wütenden Haß auf die Männer geworfen. Nach jener süßen Seligkeit, von der die Pilgerin sprach, sehnte sie sich verzehrend, aber wenn sie daran dachte, daß danach wieder ein Kind kommen könnte, das sie würde tragen, gebären, stillen müssen, um bei der Treulosigkeit der Männer schließlich doch wieder allein und verlassen dazustehen, wurde ihr Haß gegen die Männer immer grimmiger.

Die Pilgerin fuhr aus Mitleid mit ihrer Gönnerin mit weinerlicher Stimme flüsternd fort:

»Mütterchen, wenn Sie das Bett mit ehelichen Genüssen wegen der Frucht unter dem Herzen fürchten – obwohl es dagegen ja allerlei Mittelchen gibt –, so könnte ich Ihnen auch dann einen guten Rat geben … Und all die Pickelchen würden vergehen, spurlos verschwinden, Mütterchen, und Ihr Blut würde wieder ruhig fließen, und der Kopf frei und klar werden … Wie eine Befreiung würde es über Sie kommen …«

Und vertraulich, im Flüsterton, tuschelte die Alte von erlösender Liebesseligkeit … auch ohne Ehebett …

Dunja horchte auf … Wäre es wirklich möglich, sich von den wirren Gedanken zu befreien, von dem Alpdruck der Nächte, von Marja Karpowna, die ihr im Traum erschien, so daß ihr heiß und kalt wurde, von den häßlichen Pickeln, die eiterten und sie verunstalteten? Vielleicht half das Mittel wirklich, von dem die Pilgerin sprach …

Schon die Hoffnung, daß es wieder besser werden könnte, wirkte beruhigend auf sie, Dunjas Ängste ließen nach, und sie begann über ihr Schicksal zu grübeln, als Lossew und Wassilij ihr mit immer neuen Geldforderungen kamen. Vielleicht hatte die Alte recht, vielleicht wäre es das beste, wenn sie sich in ein Kloster zurückzöge, nicht um sich vom Leben abzuwenden, sondern um wenigstens eine Zeitlang ein Dasein in Ruhe und Gemütlichkeit zu führen, ohne diese aufregenden Geschäfte, in denen sie sich nicht zurechtfinden konnte und die immer verwickelter wurden. Aber sie wußte nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte. Da zeigte ihr ein Bankbeamter einen Ausweg, als sie wieder einmal auf die Bank ging, um Geld zur Bezahlung von Klimows Geschäftsschulden flüssig zu machen.

»Es geht mich ja eigentlich nichts an,« sagte der Beamte, »aber ich möchte Ihnen, als unserer Klientin, doch einen Rat geben: bezahlen Sie noch diese Schulden, aber dann befassen Sie sich nicht weiter mit Geschäften, lassen Sie die Finger davon, wenn Sie sich nicht zugrunde richten wollen. Am besten wäre es, Sie verkauften alles … Dann legen Sie das Geld sicher an und leben von den Zinsen ohne Sorgen und Aufregungen. Sonst werden Sie schließlich nichts mehr übrig haben, um Ihr nacktes Leben zu fristen – man bestiehlt Sie von oben bis unten.«

Als Dunja von der Kommerzbank nach Hause kam, ließ sie sogleich Wassilij rufen und erklärte ihm, daß sie das ganze Klimowsche Unternehmen verkaufen wolle. Wassilij war hocherfreut; auf diese Weise konnte er unverzüglich alles an sich bringen, brauchte nicht mehr zu dunklen Machenschaften zu greifen – wurde Alleinbesitzer, während er sonst endlos mit Lossew hätte teilen müssen.

»Ich würde Ihnen gern die ganze Sache abkaufen, Jewdokia Semjonowna, wenn Sie mir den Vorzug geben wollten. Tun Sie es im Gedanken an Kaßjan Parmjonytsch. Als Knabe bin ich in seinen Dienst getreten, kenne das Geschäft durch und durch, es ist mir ans Herz gewachsen. Ich würde Ihnen alles treu und ehrlich bezahlen, bis auf die letzte Kopeke. Über die Summe werden wir uns schon einigen. Ich könnte Ihnen gleich eine größere Anzahlung aushändigen und würde nachher in Raten abzahlen; ich gebe Ihnen jede Sicherheit – auf die Häuser, auf die Grundstücke …«

Der Kaufvertrag wurde – ohne Lossew – beim Notar in aller Form abgeschlossen; Wassilij machte eine Anzahlung und war alsbald Besitzer des Wirtshauses, der Manufakturenhandlung, des Ausspannhofes.

Dunja aber, Jewdokia Semjonowna, ging ins Wedenskij Kloster – aus dem sie damals Marja Karpownas gestickte Wäsche abgeholt hatte – und erwarb das leer stehende Häuschen der verstorbenen Mutter Valeria.

 


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