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Vom frühen Morgen an herrschte im Kloster ein aufgeregtes Durcheinander. Aus den umliegenden Dörfern waren Bauern und Bäuerinnen herbeigeströmt, denn es hatte sich die Kunde verbreitet, daß der Bischof käme und in feierlicher Prozession, mit den Kirchenbannern und dem Bilde der Gottesmutter, beim Geläut aller Glocken empfangen werden sollte. In fieberhafter Erregung wurden die letzten Vorbereitungen getroffen: die Kathedrale geschmückt, die Gewänder der hohen Geistlichkeit, das Bischofsornat zurechtgelegt; der Klosterchor übte die Weisen, die bei vom Bischof zelebrierten Messen gesungen wurden, die Diakone stießen brummende Töne aus, um ihre Stimme zu prüfen.

Aus der Kreisstadt war der Chef der Landpolizei – zum Schutz des Gouverneurs – mit einer Abteilung berittener Inguschen eingetroffen, wodurch das Durcheinander noch vergrößert wurde. Für die Pferde mußte gesorgt, die Mannschaft mußte untergebracht und verpflegt werden. Dabei wimmelte es im Kloster und ringsum von Wallfahrern aus den Dörfern, die den ganzen Tag über neugierig umherstreiften und erregt auf die Ankunft des Bischofs warteten. Sie drangen selbst in den Hinterhof, in die Pferdeställe ein, zogen in Scharen zu Vater Akakijs Klause, und da sie den Eremiten nicht fanden, kehrten sie wieder durch das Kloster in die Baracken zurück. Herausgeputzte Damen aus der Stadt und Sommerfrischlerinnen ergingen sich, farbige Sonnenschirme in der Hand, vom Morgen an im Klosterhof. Es war ein drückend heißer Sommertag, und die Hitze vergrößerte noch die allgemeine Ungeduld und Spannung, die sich am Nachmittage, als der Zeitpunkt der Ankunft des Bischofs immer näher rückte, bis zum äußersten steigerte.

Als vor der Abendmesse das Glockengeläut erklang, traten alle Mönche gleichzeitig aus ihren Zellen und schritten zur Kathedrale, von Pilgerscharen begleitet. Vor dem Kirchenportal entstand ein ungeheures Gedränge. Die Mönche ärgerten sich, stießen gar zu eifrige Weiber, die ihnen den Weg versperrten, zurück und murrten über die Unordnung. Die Geistlichkeit von der städtischen Kathedrale begab sich in den Altarraum. Während die Priester die Talare anlegten, stritten sich die alten Mönche, trotz ihres feierlichen Aussehens, darüber, wer das Bild der Gottesmutter tragen sollte, bis der Bewahrer der Kirchengeräte den Abt schließlich bat, dazu die kräftigsten und schönsten Starezen zu wählen.

Die Kirchenprozession mit dem großen Heiligenbilde setzte sich endlich in Bewegung, doch vor dem Portale versperrten die zusammengedrängten Gäste und Sommerfrischler ihr den Weg. Die Priester und Mönche fürchteten, die Leute zu stoßen, drängten sich aneinander, traten einander auf die Füße und warfen ärgerliche Blicke um sich. Die Prozession schritt durch die heilige Pforte und an der alten Herberge vorüber dem Walde zu. Man fürchtete, sich zu verspäten, als aber die Prozession die vereinbarte Stelle im Walde erreicht hatte, stellte sich heraus, daß man bis zur Ankunft des Zuges noch eine Stunde warten mußte.

Mehr als einmal wechselten die Starezen an der Trage des Heiligenbildes einander ab, mehr als einmal blickte Vater Gerwaßij ungeduldig auf die Uhr – so manches hatte er noch anzuordnen –, mehr als einmal ritten die Inguschen, ihre Pferde tummelnd, an den Harrenden vorüber. In einer langen Kette, nur wenig voneinander entfernt, standen Novizen auf dem Wege zum Bahnhof, wie stumme Meilenpfosten. Kurz vor Ankunft des Zuges sprengte der Chef der Landpolizei, von zwei Inguschen begleitet, zum Bahnhof. Die Wallfahrer erhoben sich aus dem Grase und suchten sich möglichst nah von dem Heiligenbild längs des Weges aufzustellen, um den Bischof vorüberfahren und auch etwas von dem Empfang zu sehen. Auch die Gäste und Sommerfrischler standen zu beiden Seiten des Weges, und jeder bemühte sich, einen Platz in der vorderen Reihe zu ergattern.

Abt Gerwaßij lugte unruhig den Weg hinauf, blickte auf die Wallfahrer, die unzufriedenen Gesichter der Mönche, spähte, sich umwendend, nach dem Glockenturm in der Ferne, befürchtend, der Glöckner könnte am Ende die Novizen nicht rechtzeitig bemerken, die ihm beim Erscheinen des Wagens mit dem Bischof Zeichen geben sollten.

Als das Rauschen des herannahenden Zuges schließlich durch den Wald strich, trat plötzlich eine gespannte Stille ein. Alle Köpfe blickten vorgestreckt in der Richtung zum Bahnhof und erstarrten erwartungsvoll. Vater Gerwaßij und der Bewahrer der Kirchengeräte sahen, wie die Novizen in der Ferne sich in Bewegung setzten und heranstürmten. Der Abt hielt einen von ihnen an und rief ihm erregt zu:

»Lauf schneller, der Glöckner soll läuten, der Wagen muß ja gleich kommen!«

Es entspann sich ein Wettlauf zwischen den Novizen, jeder wollte der erste sein, der dem Glöckner das Zeichen gab, als plötzlich ein markerschütterndes Geschrei durch den Wald hallte und ein fürchterliches Durcheinander entstand.

Der Chef der Landpolizei hatte den Bischof auf dem Bahnhof begrüßt und darauf einem Inguschen befohlen, im Galopp zum Abt zu reiten und ihm zu melden, daß der Bischof angekommen sei. Der Inguscha jagte in voller Karriere den Weg entlang und schrie unablässig die einzigen Worte, die er verstanden und noch nicht vergessen hatte: »Er kommt, er kommt!« In der Meinung, der Reiter gebe ihnen zu verstehen, daß sie sich verspäten könnten, verdoppelten die laufenden Novizen ihre Anstrengungen und rasten wie toll vorwärts. Der Ingusche holte sie ein, konnte sein Pferd nicht rechtzeitig zügeln und überrannte einen der Laufenden. Das Pferd, jäh zurückgerissen, bäumte sich erschrocken empor, seinen Reiter fast abwerfend, während der Novize vor Schmerz und Angst, die Hufe des wild um sich schlagenden Tieres vor Augen, sich laut schreiend auf dem Boden wand. Novizen, Mönche, Wallfahrer eilten ihm zu Hilfe, so daß der Weg durch eine erregte Menschenmenge plötzlich gesperrt war. Der Ingusche hatte seinem Pferde die Sporen gegeben, jagte durch die Menge und brüllte wie besessen: »Er kommt, er kommt!« Der Auflauf, nicht fern von der Prozession, die sich in Bewegung gesetzt hatte, die Schmerzensschreie des Novizen und das Gebrüll des dahinsprengenden Inguschen ließen die Menschenmassen zu beiden Seiten des Weges einen Augenblick erstarren, darauf ertönten aus der Menge erschrockene Schreie, einige Weiber kreischten gellend, eine sogenannte Besessene wand sich in Zuckungen winselnd auf der Erde; die Menge stob wild auseinander und flüchtete in den Wald.

Die Reiter, die bei den Herbergen postiert waren, sahen, daß etwas geschehen war, bemerkten ihren heranjagenden Kameraden, der mit den Armen fuchtelte und schrie, und sprengten hinter der Herberge hervor in den Wald, den fliehenden Menschen entgegen.

Der Glöckner hatte die laufenden Novizen gleich bemerkt und mit dem vollen Glockengeläut begonnen. Seinen Gehilfen an den Diskantglocken hatte er befohlen, den Weg im Auge zu behalten, um den Lobgesang der Glocken mit besonderer Wucht ertönen zu lassen, wenn die Prozession mit dem Bischof sich der heiligen Pforte näherte. Als die vordersten der laufenden Novizen, die nicht gesehen hatten, was hinter ihnen geschehen war, laute Schmerzensschreie hörten und die auseinanderstiebende Menge erblickten, meinten sie, es sei etwas Entsetzliches geschehen, und gaben, ihre Käppchen schwingend, dem Glöckner Zeichen, er möchte mit dem Freudengeläut aufhören. Die Novizen an den kleineren Glocken bemerkten ihre abwehrenden Bewegungen und hörten auf zu läuten, nur die große Glocke brummte noch; Vater Awraamij, von ihrem Gedröhn betäubt, hörte und sah nichts; erst als seine Gehilfen ihn in die Seite stießen, ließ er den Strang fahren und setzte sich schweißüberströmt auf den Fußboden.

Auch die Prozession war bei dem allgemeinen Durcheinander in Verwirrung geraten. Die Starezen, der Chor, die Geistlichen wichen zurück, dabei gegeneinander stoßend, so daß die Trage mit dem Heiligenbilde beinahe umgestürzt wäre. Der Schreck brachte die Mönche und die Geistlichkeit wieder zur Besinnung. Während die Nahestehenden den Greisen an der Trage halfen, das herabsinkende Heiligenbild vor dem Sturz zu bewahren, blieb die Prozession stehen, schritt aber gleich wieder weiter. Doch da setzte plötzlich das Glockengeläut aus.

Der Bewahrer der Kirchengeräte eilte auf den Abt zu und zischte, heiser vor Ärger und Wut:

»Die Glocken, die Glocken!«

Vater Gerwaßij lief selbst zu den Herbergen und befahl einigen Novizen, schnell auf den Glockenturm zu steigen und den Glöckner zu veranlassen, unverzüglich mit dem Geläut zu beginnen; auch von unten ließ er dem Glöckner Zeichen geben. Man verstand oben die Zeichen und fing wieder an zu läuten; zuerst erklangen die Diskantglocken, dann setzte auch die große Glocke dröhnend ein. Die ganze Verwirrung hatte nur wenige Minuten gedauert, und als der Wagen des Bischofs heranrollte, war alles wieder in Ordnung, und die Kirchenprozession schritt ihm singend entgegen.

Der Bischof hatte von fern die Verwirrung bemerkt, Menschen durch den Wald hasten sehen, und den Chef der Landpolizei, der neben seinem Wagen ritt, fragend angeblickt.

»Es muß etwas vorgefallen sein, Eminenz …«

Unzufrieden stieg der Bischof aus dem Wagen und unzufrieden, mit schnellen harten Schritten, ging er der Prozession entgegen; seine Blicke suchten nach dem Bewahrer der Kirchengeräte. Vater Obolenskij sah ihn verlegen an, zuckte die Achseln und wies mit den Augen auf die Mönche. Ebenso unzufrieden küßte Ioßaf das Heiligenbild, nahm den Bischofsstab entgegen, ließ die Ansprache des Abts stumm über sich ergehen und schritt inmitten der Prozession dem Kloster zu.

Einige geflüchtete Damen hatten sich auf die Stufen vor den Herbergen gestellt, und als die Prozession vorüberkam, nickten sie dem Bischof strahlend zu und ließen ihre Taschentücher wehen.

Seiner Eminenz schien das ein bißchen komisch; seine gute Laune kehrte zurück, und er lächelte den Damen – allein mit den Augen – belustigt zu.

 

Beim Eintritt in die Kathedrale flüsterte der Bewahrer der Kirchengeräte dem Abt ins Ohr:

»Kürzen Sie die Messe ab, den Akathistos lassen Sie weg, wir dürfen den Bischof nach der Reise nicht ermüden … Und dazu noch dieser Vorfall! …«

Hastig wurde die Messe zelebriert, wonach sich der Bischof mit dem Abt und dem Bewahrer der Kirchengeräte in die Abtei zurückzog.

Während des Tees vor dem Mittagsmahl sagte Seine Eminenz zu Vater Obolenskij:

»Da kommt man her, um auszuruhen, und muß auch hier zelebrieren! … Ziehen Sie morgen die Liturgie nicht in die Länge, Vater Wassilij. Die späte Morgenmesse will ich nicht zelebrieren, lieber die Mittagsmesse …«

 

Am nächsten Tage zelebrierte Ioßaf kurz und bündig die Mittagsmesse, begrüßte am Abend den eintreffenden Fürsten Rjasnoi und seine Tochter, und der Alltag begann.

Nikolka war vom Morgen an mit Wirtschaftsangelegenheiten beschäftigt, erkundigte sich bei den Mönchen, ob die Gäste mit der Aufnahme zufrieden seien, saß in feierlicher Haltung beim Mittagsmahl, sprach nach dem Essen auf dem Viehhof vor und wäre gern auch nach dem Vorwerk gegangen, um sich nach Arischas Ergehen zu erkundigen, sie abzuküssen, ihr zu der glücklichen Entbindung zu gratulieren und sich an seinem Söhnchen zu freuen; aber er fand keine Zeit dazu. Auch in die neue Herberge zog es ihn; vielleicht würde er zufällig Frau Kostizina treffen; ihre Augen hatten einen feuchten Schimmer, wodurch in ihrem Blick etwas eigentümlich Warmes, Lockendes zu liegen schien, was das Herz des Abtes schneller pochen ließ. Mehrmals hatte er sie zusammen mit dem jungen Mädchen und der Tochter des Gouverneurs, der Prinzessin Rjasnaja, aus der Herberge treten sehen. Er hätte sich ihnen bei ihren Spaziergängen gern angeschlossen, gern vergessen wollen, daß er die Soutane trug und Abt war. Sein bisheriges Leben ließ ihn unbefriedigt. Ihm schien, als wäre es ein inhaltloses Hin und Her gewesen, das Bitterkeit zurückließ. Selbst seine Liebe zu der kleinen Fenja schien ihm jetzt unaufrichtig gewesen und sein Gefühl zu Arischa nicht Liebe zu sein; sinnliches Verlangen, das Befriedigung heischte, hatte ihn zu der Nonne geführt. Die Angst kam ihn an, daß man von dieser Verbindung erfahren könnte; dann wäre alles aus, dann würde auch dieses Leben zusammenbrechen. Die Sehnsucht nach etwas Unmöglichem, Unerreichbarem erwachte in ihm. Finster kehrte er oft in die Abtei zurück, wenn er dann aber das goldene, mit sanften Smaragden besetzte Kreuz des Bischofs erblickte, erstand der heiße Wunsch nach der Archimandritenmitra in ihm.

 

Der Bischof hatte seine eigene Tageseinteilung. Die Morgenstunden widmete er, aus Gewohnheit und Pflicht, dem Gebet; nach dem Kaffee mit Sahne ging er mit dem Fürsten bis zum Mittag spazieren. Nach dem Mittagessen pflegte er bis drei Uhr der Ruhe; um vier rief er den Abt und erging sich mit ihm im Walde.

Er fragte Vater Gerwaßij über das Kloster aus, über Einkünfte, den Grundbesitz des Klosters, über die Bruderschaft, über das Leben des Abts. Wenn er der Unterhaltung müde wurde, schritt er schweigend neben Gerwaßij einher, auf seinen Stab gestützt. Damen suchten seinen Weg zu kreuzen, er grüßte, segnete sie, ließ sich aber mit niemand in ein Gespräch ein, und wenn seine Verehrerinnen ihn ansprachen, antwortete er einsilbig und machte sich auf den Rückweg.

Die Damen ärgerten sich, wurden nervös, fühlten sich zurückgesetzt und kehrten allmählich in die Stadt zurück, sie hatten auf ein fröhliches Leben im Kloster gehofft und sahen nun statt des weltmännischen Bischofs einen Mönch vor sich, der nur mit Mönchen und Geistlichen verkehrte, statt seine Zeit in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Nur einige dem Bischof fanatisch ergebene Verehrerinnen, die sich durch nichts abschrecken ließen, blieben zurück.

Fürst Rjasnoi, der den Bischof nach alter Gewohnheit mit seinem Vornamen und dem Patronymikum anredete, sagte scherzend:

»Wie geschickt Sie sich unserer gar zu eifrigen Damen entledigt haben, Alexander Nikolajewitsch!« Und an einige der Zurückgebliebenen gewandt, fuhr er fort: »Sie verfolgen Seine Eminenz auf Schritt und Tritt, meine Gnädigsten; das geht doch nicht recht …«

»Wir beten Seine Eminenz an …«

»Könnten Sie das nicht auch aus einiger Entfernung tun? …«

Nur einmal trat Ioßaf aus seiner Zurückhaltung heraus. Auf einem Spaziergange mit dem Abt traf er im Walde die Prinzessin Rjasnaja mit Frau Kostizina und Sina. Valeria Sergejewna ging ohne weiteres auf den Bischof zu, empfing seinen Segen und sprach ihn wie einen guten Bekannten an.

»Warum verbergen Sie sich vor uns, Eminenz? Stören wir sie denn?«

»Sie nicht, Prinzessin, auch Wera Alexejewna und Sinotschka nicht, wohl aber die Damen, die mich anbeten; ich habe mich doch hierher zur Erholung zurückgezogen …«

In gekränktem, ein bißchen kokettem Tone sagte Frau Kostizina:

»Verzeihung, Eminenz, sind wir denn keine Damen?«

»Gewiß, gewiß … Aber Sie verstehen, wie ich es meine.«

»Und wir beten Sie auch an, Eminenz! Was bleibt uns denn anderes übrig, als Sie anzubeten? Sich in Sie zu verlieben, wäre ja hoffnungsloses Bemühen, also müssen wir uns mit dem Anbeten begnügen.«

Ioßaf setzte die Unterhaltung fort; aus seiner Verschlossenheit heraustretend, wurde er liebenswürdig, heiter und geistvoll.

Frau Kostizina sah den Abt, der schweigend an ihrer Seite schritt, zuweilen verstohlen an. Er bemerkte ihre Blicke und fühlte sich, wie vor zehn Jahren, als hilfloser Novize, der nicht wußte, wie und worüber er sprechen sollte. Vor Verlegenheit und Ärger über sich selbst senkte er den Kopf; sein Herz pochte, als ginge nicht Abt Gerwaßij neben Frau Kostizina, sondern der Novize Nikolka neben der kleinen Fenja.

Ioßaf und die Prinzessin schritten voran, Frau Kostizina mit Sinotschka und Gerwaßij folgten.

Wera Alexejewna suchte ein Gespräch mit dem Abt anzuknüpfen; ihre lächelnde Sicherheit machte ihn noch unbeholfener. Und wieder vernahm Nikolka dieselbe Frage, wie damals von Fenja: Worte, die in sein Inneres eindringen wollten, mehr zu erfahren suchten, als tatsächlich vorhanden war. Nur hatte Fenitschka scheu und verlegen gefragt, während aus Frau Kostizinas Worten die Hartnäckigkeit der reifen Frau sprach.

»Ich bin neugierig, Vater Gerwaßij, sehr neugierig. Sie müssen mir unbedingt sagen, was Sie veranlaßt hat, ins Kloster zu gehen und Mönch zu werden … Ich wäre vor der Einkleidung bestimmt ausgerückt. Ich kannte einen Dichter, der aus unglücklicher Liebe ins Kloster gegangen war; im letzten Augenblick aber, vor Empfang der Weihen, stieg er nachts über die Mauer und floh.«

Der Bischof kam dem Abt zu Hilfe.

»Wera Alexejewna, Vater Gerwaßij ist einfacher Leute Kind, und einfach sind die Gründe, die ihn ins Kloster geführt haben. Sein Vater und Großvater waren Geistliche, da liegt einem der Glaube gewissermaßen im Blute; so ist denn Vater Gerwaßij im Kloster geblieben, nachdem ihn das Schicksal hierher verschlagen hatte.«

Nikolka bekräftigte kurz die Erklärung des Bischofs, doch Frau Kostizina gab sich nicht zufrieden.

»Aber sehen Sie denn nicht, Eminenz, was Vater Gerwaßij für ein schöner Mann ist? Und den sollten die Frauen nicht lieben? Zwar ist es nicht unbedingt Schönheit, was die Frau beim Manne sucht, sie legt Wert auf seine Kraft, seine Energie, seine Hartnäckigkeit, aber finden wir das alles denn nicht auch bei Vater Gerwaßij? … Das fühlt eine Frau sofort.«

Der Bischof bemerkte, daß der Abt bei dieser Wendung des Gesprächs (das zudem hart an Nikolkas intimes Leben streifte) in die äußerste Verlegenheit geraten war und betreten die Augen senkte.

»Sie, Wera Alexejewna, sprechen als Frau, zu sehr als Frau, Vater Gerwaßij aber ist Mönch; Sie dürfen das nicht vergessen. Und wenn wirklich etwas derartiges, wie Sie meinen, einst in seinem Leben war, so liegt das jetzt doch so tief in seiner Seele verborgen, vermauert wie in einem Grabgewölbe, daß es ganz unmöglich wäre, unseren Abt hierüber zum Sprechen zu bringen. Vor allem aber soll man nie an eine alte Wunde rühren, um nicht weh zu tun. Wenn ein Mönch es vermocht hat, sich dem Herrn zu erhalten, so ist jeder Versuch, ihn von seinem Wege der Entsagung und Demut abzulenken, Sünde, besonders, wenn es eine Frau tut.«

Frau Kostizina entgegnete eigensinnig:

»Ich bin aber davon überzeugt, daß Vater Gerwaßij sowohl früher die Gunst von Frauen genossen hat, als auch jetzt noch genießt. Ich fühle das, ich bin ja selbst Frau, vielleicht sogar zu sehr Frau, wie Sie sagen.«

Ioßaf sagte abschließend, ebenso hartnäckig:

»Uns Mönche kann man nicht durchschauen. Wir sind rätselhaft wie die Frauen und verschwiegen infolge unserer Abkehr von der Welt.«

Die Prinzessin lächelte, blickte dem Bischof in die Augen und sagte leise auf französisch:

»Ich hatte gar nicht gewußt, Eminenz, daß Sie so interessant sind …«

Nikolka warf betretene Blicke um sich wie ein gehetzter Wolf; er fürchtete, Frau Kostizina anzusehen. Sie mußte etwas über Arischa gehört haben, dachte er, darum setzte sie ihm so hartnäckig zu! Er wußte nicht, was er tun, wohin er sich retten sollte; das Blut pochte immer heftiger in seinen Schläfen, und rote Flecke glühten in seinem Gesicht.

Frau Kostizina gab noch immer nicht nach; sie sprach davon, daß es meist hoffnungslose Liebe sei, die Männer und Frauen ins Kloster führe, und setzte hinzu:

»Ist es etwa nicht Liebe, was Ihren Novizen Boris Smoljaninow zu einem Schattenwesen gemacht, ihm das lebendige Menschenantlitz geraubt hat? Sagen Sie mir das!«

Es fiel Nikolka leichter, über einen anderen zu sprechen, aber Ärger und die Befürchtung, Frau Kostizina könnte durch Boris etwas von der kleinen Fenja erfahren haben, machten ihn mißtrauisch, so daß er sich mit einer kurzen, ausweichenden Antwort begnügte. Wera Alexejewna fuhr fort:

»Sie kennen doch die Smoljaninows, Eminenz? Die armen Eltern! … Der einzige Sohn im Kloster! .. Ich hatte immer gemeint, man mache zu viel Wesens aus der Sache, aber er ist wirklich ein wunderbarer Junge … Er ist ja kein Junge mehr, für mich aber ist er ein Junge geblieben, ein lieber, guter Junge … Ich bin froh, daß ich ihn hier getroffen habe, und will nichts unversucht lassen, ihn aus dem Kloster zu retten. Er bringt sich um seine Jugend, um sein Leben. Das ist nicht normal, glauben Sie mir. Ich kann das nicht mit ansehen.«

»Und wenn ihn sein tiefer Gottesglaube dazu zwingt? Wenn er ein Gelübde abgelegt hat?«

»Gelübde können gelöst werden, Eminenz. Ich möchte ihn so gerne dem Leben zurückgeben! Wenn er sich nur verlieben wollte – in mich, in Sina, in die Prinzessin, gleichviel in wen! Wir müssen ihn retten, Liebe in seinem Herzen wecken. Liebe ist Leben.«

»Er will ja nicht einmal mit mir sprechen.«

»Du mußt sehen, seinen Widerstand zu brechen, Sinotschka. Ich bin eine Frau, vor mir würde er zurückschrecken, sein Inneres schließen, wie eine Blüte sich schließt; eine Frau versengt wie die Sonne … Aber unter der zarten Liebkosung von frischem Morgentau vor Sonnenaufgang, wenn die ersten scheuen Lichtstrahlen am Himmel rosig erglühen, öffnet sich jede Blüte. Unter dem Hauch deiner Zärtlichkeit wird sich seine Seele auftun, Sinotschka. Versuch's, um ihn zu retten …«

»Und wenn sich Sinotschka dabei in ihn verliebt, Wera Alexejewna? Ich hätte da einige Bedenken.«

»Sinotschka in Boris? Umso besser, Prinzessin! Ist er es denn nicht wert, daß man sich in ihn verliebt? Haben Sie ihn gesehen?«

»Ja … Er ist fürchterlich verbauert.«

»Keine Spur! Das scheint Ihnen nur so, weil er in seiner Weltabgekehrtheit schroff geworden ist. Helfen Sie mit, Prinzessin … Ich weiß, Seine Eminenz wird nicht dagegen sein, er wird ihm seinen Segen zur Rückkehr ins Leben erteilen, und auch uns Frauen segnen, die ihm dazu verhelfen wollen.«

»Meinen Segen kann ich dazu zwar nicht erteilen, ihm aber will ich gern alles vergeben, denn wenn er der Versuchung unterliegt, tragen Sie die Schuld.«

»Sehen Sie, Vater Abt, selbst Seine Eminenz will Boris vergeben, da dürfen Sie ihn nicht zurückhalten. Wissen Sie denn nicht, wie schön das Leben ist? O, Sie wissen es nur zu gut! … Ich bin eine Frau, ich fühle das …«

Unwillkürlich richteten sich bei diesen Worten aller Blicke auf den Abt. Zu seiner Erleichterung lenkte aber in diesem Augenblick Sinas Ungestüm die Aufmerksamkeit wieder von ihm ab. Erregt hatte Sina auf Frau Kostizinas Worte gelauscht, mehrmals einen Anlauf zum Sprechen genommen, als wollte sie etwas Wichtiges sagen, die Augen aber wieder verlegen gesenkt, bis sie schließlich, rote Flecke im Gesicht, Wera Alexejewna am Ärmel zupfte, sie küßte und rief:

»Er tut mir so leid … Ich will ihn … ich …«

Sie schmiegte sich an Wera Alexejewna und brach in ihrer Verlegenheit in ein überlautes, fast krampfhaftes Lachen aus. Wera Alexejewna suchte das junge Mädchen zu beruhigen. Man setzte sich auf den Stamm einer umgestürzten Fichte. Eine Weile herrschte Schweigen. Nikolka hatte ärgerlich den Kopf gesenkt; aus Angst vor neuen Fragen vermied er es, Frau Kostizina anzusehen. Ioßaf zeichnete mit der Spitze seines langen Stabes eine gleichmäßige Rille in den Sand. Die Prinzessin strich Sina beruhigend über das Haar.

Gleichsam aus dem Erdinnern ertönte der Silberklang der großen Klosterglocke. Langsam rollte der Widerhall von Gipfel zu Gipfel und glitt wie ein elektrischer Strom die Stämme herab in die Erde. Die Sonne ging unter; der Wald sank in Dämmer.

In dieser Stille, aber nach ihren erregenden Worten jetzt leise und mit tiefer Stimme begann Frau Kostizina wieder zu sprechen.

»Eminenz, warum gibt es in diesem Kloster keinen Heiligen?« Noch leiser sagte sie: »Dort, wo es Heilige gibt, ist das Leben leichter und einfacher. Die Menschen geben ihnen ihr unsterbliches Teil hin, und so stehen sie dem Leben unbefangener gegenüber.« Wie abwesend, mit verhaltener Erregung fuhr sie fort: »Wenn man dies Unsterbliche dem Menschen zurückgäbe, wenn es von den Heiligen zurück in die Seele der Menschen strömte, wäre das Leben schmerzlicher, verantwortungsvoller, aber vielleicht besser. Alle wären wie Boris.« Fast flüsternd fügte sie hinzu: »Ließe sich nicht auch hier die Reliquie eines Heiligen entdecken? Es würde das Leben schlichter, inniger machen. Es wäre so tröstlich. Es wäre eine Erlösung. Auch für mich …«

Eine Weile schwiegen wieder alle. Der Bischof erhob sich als erster, die übrigen folgten seinem Beispiel.

»Es wird Zeit aufzubrechen, meine Herrschaften.«

Als zwischen den Stämmen hindurch in der Ferne die weißen Klostermauern erschimmerten und die Glocken noch einmal mit wenigen Schlägen zur Abendmahlzeit riefen, sagte die Prinzessin zum Bischof:

»Wirklich, Eminenz, warum gibt es hier keine Reliquie? …«

»Offenbar darum, weil im Kloster Belobereshsk kein Heiliger gelebt hat.«

Nikolka fuhr auf wie unter einem Schlangenbiß.

»Eure Eminenz, aber wir haben doch einen Heiligen, den Starez Simeon, den Klostergründer! Er wirkt Wunder … Heilt Kranke … Berichte von Augenzeugen liegen vor … Aufzeichnungen … Abt Sawwa hat seinerzeit ein Gesuch auf den Allerhöchsten Namen bei dem Heiligen Synod eingereicht, aber die Antwort erhalten, es sei noch zu früh, unser Starez habe seine Heiligkeit noch nicht genügend offenbart …«

Nikolka war plötzlich von einem inneren Aufruhr erfaßt; ein erschütternder Gedanke war ihm gekommen.

Irgendwie tief innen geriet alles durcheinander – Fenitschka, Arischa, Frau Kostizina, ihre Fragen, ihre Ausführungen über Boris – und versank in graue Nebelballen vor der jähen, überwältigenden Erkenntnis, daß es vielleicht möglich wäre, die Reliquie des Starez Simeon zu entdecken und ihn zu kanonisieren! Dann, huschte ihm durch den Kopf, würde er, Nikolka, bestimmt die Archimandritenwürde erhalten und die edelsteinbesetzte Mitra tragen, vor allem aber würde durch ihn, Nikolka Predtetschin und niemand anderes, das Kloster Belobereshsk und sein Gründer, der Starez Simeon, zu unsterblichem Ruhm, zu ewiger Verherrlichung erhoben werden!

Die ganze Nacht konnte er vor Erregung nicht schlafen. Kaum sank er in leisen Schlummer, so fuhr er, unter dem versengenden Gedanken an die Entdeckung der Reliquie zusammenzuckend, wieder empor. Bilder kamen und gingen, verblaßten, das Bewußtsein erlosch, um jäh wieder aufzuflammen.

Als zur Mitternachtsmesse geläutet wurde, trat der Abt auf den Treppenabsatz vor der Abtei, stand lange in der Dunkelheit. Jetzt dachte er an nichts mehr; nach der bis zum Schmerz gesteigerten Erschütterung unter dem einen Gedanken war sein Bewußtsein gleichsam stumm und verschwommen geworden. Ohne sich Rechenschaft abzulegen, warum, wanderte er bis zum Anbruch des Tages auf dem Klosterhof umher.

 


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