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2

Vater Gerwaßij hatte die alten Mönche zu einer Beratung in der Abtei versammelt. Jetzt stand er nicht mehr abseits in einer Ecke wie im Jahre 1905, sondern saß feierlich auf dem Lederdiwan.

»Unserem Kloster wird große Ehre widerfahren. Hohe Gäste haben ihren Besuch angemeldet: Bischof Ioßaf und der Gouverneur mit Gefolge …«

Die alten Mönche rieten, man solle dem Bischof mit einer Kirchenprozession und dem Bilde der Gottesmutter eine Werst weit in den Wald entgegenziehen.

»Und was soll mit den Wallfahrern in der alten und neuen Herberge geschehen, Väter?«

»Unsere Wohltäter dürfen nicht belästigt werden.«

»Der Vater Archidiakonus hat mir mitgeteilt, daß die Geistlichkeit im Gefolge des Bischofs mit ihren Familien herkommt, und der Gouverneur, Fürst Rjasnoi, Kammerherr Seiner Majestät, trifft mit seiner Suite und deren Damen ein. Wie sollen wir die hohen Gäste aufnehmen? … Wo sie unterbringen? …«

Die Alten verstummten, grübelten. Der Pförtner, Vater Awraamij, aber brummte:

»Und ich? … Was soll ich mit Waßenka machen? Er wird noch Unheil anrichten … Bei dem Durcheinander kann ich nicht immer auf ihn aufpassen. Er sieht jetzt schon in jedem Weibe den Satan und hält ihr Vorträge … An jeden Menschen macht er sich heran und redet auf ihn ein. Das kann zu Unheil führen, Schmach und Schande kann er über unser Kloster bringen …«

Der bucklige Vater Doßifej neben ihm schnarrte:

»Vater Awraamij, schliesche ihn tagschüber ein. Wenn du die heilige Pforte am Abend tschumachscht, kannscht du ihn ein bischchen an die frische Luft laschen.«

»Der läßt sich gerade einschließen! Die Fenster zertrümmert er mir in der Zelle! Vergegenwärtige dir das, Doßifej: es kommen ja nicht irgendwelche Sommerfrischler, sondern hohe Herrschaften. Und wenn Waßja mir aus dem Fenster springt und sich auf irgendein feines Fräulein stürzt? Den Blöden kann man nicht zur Verantwortung ziehen, aber die Schande würde trotzdem auf dem Kloster lasten …«

»Feschele ihn mit Stricken, sperre ihn in die Dunkelkammer ein.« Die Greise schwiegen, dachten nach … Abt Gerwaßij furchte die Stirn. Niemand schlug etwas vor, das Hand und Fuß hatte. Daß man den Bischof mit einer Prozession empfangen mußte, war auch ohnedem klar, das war alter Brauch so; aber was die Aufnahme, die Wirtschaftsfrage betraf, da schwiegen sie.

»Ich bitte um euren Segen zum Wort, Starezen …«

Stumm blickten die Soutanenträger ihren Abt an.

»So will ich denn auch mit Waßenka beginnen. Der Vater Pförtner hat recht; durch den Blöden könnten peinliche Mißverständnisse entstehen. Ich würde vorschlagen, ihn den Starezen in der Einsiedelei in Obhut zu geben; keinen Schritt dürfte er vor die Pforte setzen … Die Hauptsache ist aber nicht Waßenka, sondern Geld. Die Ausgaben werden nicht gering sein. Wenn ihr, Väter, mir da nicht entgegenkommt, so bringen wir Schmach über unser Kloster. Wir können den hohen Gästen doch nicht Kohlsuppe und Grütze vorsetzen! … Der Vater Archidiakonus hat mir gesagt, daß der Bischof kränklich sei; er braucht besondere Verpflegung, zarte Gerichte, bringt auch seinen Koch mit; auch der Gouverneur kommt mit seinem Koch. Die Gäste kommen ja nicht her um ihre Andacht zu verrichten, sondern um sich hier zu erholen, gleichsam wie in einem Kurort. Da müssen sie nach städtischem Brauch Kaviar und Fleisch und manches andere vorgesetzt erhalten … Ich frage also, wie machen wir das, Väter?«

Die Starezen grübelten, blickten den buckligen Doßifej an; er war der älteste, er mußte zuerst sprechen und seine Meinung sagen.

Vater Doßifej bohrte sich im Ohr, zog mit der Nase, schnarrte: »Väter, die Gotteschmutter schegne unscheren Abt und erleuchte ihn, auf dasch er die hohen Gäschte in würdiger Weische in unscherem Kloschter aufnehme; wir aber wollen unsch scheinem Willen in Demut fügen … Der Abt schorgt für die Aufnahme, und der Schatschmeischter schreibt die Auschgaben genau an, ischt aber dem Abt unterschtellt …«

Die Starezen waren froh, daß somit die schwierige Frage gelöst war.

Auch Nikolka war froh; Doßifej hatte ihm freie Hand gegeben; nun war er unumschränkter Hausherr im Kloster.

Doßifej – ein kleiner, dürrer, buckliger Greis mit einem ausgemergelten, bläulichen Gesicht und stechenden Äuglein, die aus den engen Liderspalten böse hervorlugten – fuhr fort:

»Ich möchte noch etwasch Schagen, Väter … Den Waschenka bringen wir alscho bei unsch in der Einschiedelei in Schicherheit, aber wir haben ja da noch ein Schorgenkind … Wasch tun wir mit Akakij, unscherem Schtaretsch? … Den müßte man auch in der Einschiedelei unterbringen.«

Doßifej hatte mit Akakij ein Hühnchen zu rupfen; seit langer Zeit nährte er einen verhaltenen Groll gegen ihn im Herzen. Vor vielen Jahren, als Sawwa zum Abt gewählt worden war, hatte die Bruderschaft angefangen, sich um die Verschönerung ihres Klosters zu bemühen. Zu Sawwas Zeiten wurde der Bau der neuen Kathedrale und der neuen Herberge beendet. Zu Sawwas Zeiten wurde auch die Stelle im Walde, wo einst Simeons, des Klostergründers, Klause gestanden hatte, zum Gegenstand pietätvoller Verehrung erhoben, neben dem alten Brunnen ein Blockhäuschen mit einem Schiebefenster errichtet und Bänke auf dem Hügel angebracht. Auf ihm hatte, nach alter Überlieferung, Simeons Zelle gestanden, als er, Skimnik geworden, aus dem Kloster sich in die Einsamkeit des Urwaldes zurückgezogen hatte, nachdem das Bestehen des Klosters gesichert war. Am Fuß der Bäume standen die Bänke, rund um den mit Bohlen gepflasterten Platz; in der Mitte ragte eine Säule empor, deren Inschrift von den Glaubenstaten des Klostergründers meldete. Ein Lattenzaun zog sich um den Hügel, damit die Wallfahrer diesen nicht unterhöhlten, den Sand nicht fortschleppten, die Wurzeln der hundertjährigen Fichten nicht bloßlegten. Zu Sawwas Zeiten hatten die Mönche das alles angelegt, und Doßifej und Akakij hatten mitgeholfen. Und beide hatten sich an der heiligen Stätte in der Klause ansiedeln wollen. Abt Sawwa hatte aber nicht Doßifej, sondern dem alten Akakij seinen Segen dazu erteilt. Seitdem grollte ihm Doßifej. Sawwa hatte zu ihm gesagt:

»Die Leute pilgern zu Vater Akakij, Doßifej, weil er in den Herzen der Menschen zu lesen versteht, Sehergabe hat ihm der Herr verliehen; darum ist sein Platz dort, wo unser Klostergründer gelebt hat. Du aber bist gebrechlich, Doßifej; bleibe lieber in der Einsiedelei.«

»Auch zu mir pilgern die Leute, Vater Sawwa; ich heile die Gebrechen der Menschen mit Kräutern …«

»Die Seelen zu heilen ist wichtiger, Doßifej; der Mensch aber tut seine Seele nur in der Stille auf, die Stille heilt sie; der Arzt des Herrn kann ihr nur dazu verhelfen, daß sie sich vertrauensvoll öffne, und ihre Qual durch das Wort der Wahrheit lindern … Akakij soll in der Klause leben, ich habe ihm meinen Segen dazu erteilt …«

Seitdem lebte Vater Akakij allein in der einsamen Klause; nur im Winter, während der heftigsten Fröste, siedelte er auf etwa zwei Monate in die Einsiedelei über. Früh am Morgen stand er zum Gebet auf, stieg auf den Hügel des Skimniks Simeon, setzte sich auf eine Bank und lauschte in die Stille; das war sein Gebet. Ein Gebet ohne Worte. Langsam atmete er, zog leise den Harzduft des Waldes ein, hörte dem Morgenlied der Vögel zu. Die Vögel schienen ihm paradiesische Wesen; sorglos tauschten Goldamseln Wechselrufe aus, Pfiffe und Triller ertönten, eine Blauracke kreischte schrill, fuhr vom Ast auf und ließ die Regenbogenfarben ihres Gefieders spielen. Die Seele des Greises lauschte und freute sich über jeden Ton, jeden Sprung der Eichhörnchen in den Wipfeln der Fichten. Der Starez blickte auf einen Punkt in der Höhe, saß unbeweglich, wie leblos da, nur seine Augen leuchteten freudig, bis Glockengeläut zur Frühmesse rief, die Sonne die Rinde der Bäume vergoldete und der weiße Sand rosig wurde. Wenn die Glocke ertönte, stand Akakij auf und machte sich an die Arbeit.

Um die alten Bäume hatte er fürsorglich Planken gebunden, die mit Schlingpflanzen und hier und da mit einem Nagel befestigt waren, damit die Wallfahrer die Rinde nicht abrissen, und über die Wurzeln Sand gestreut. Täglich besichtigte er jeden einzelnen der alten Bäume an der heiligen Stätte, die knorrigen Wurzeln, rückte die Planken zurecht, brachte vom Ufer des Flüßchens Sneshit Sand, den er auf die Wurzeln schüttete.

Die Mönche pflegten den Wallfahrern von den Wundertaten des Klostergründers zu erzählen:

»Unser Starez Simeon wirkt Wunder, heilt die Gebrechen der Menschen …«

Weiber und alte Bauern strömten zur heiligen Stätte, knabberten die Rinde der Fichten ab, die gegen Zahnschmerzen half, häuften weißen Sand in ihre Kopftücher. Stundenlang warteten sie darauf, daß der Starez Akakij zu ihnen spreche. Er arbeitete an der heiligen Stätte, da scheuten sie sich, an ihn heranzutreten, um ihn nicht zu stören; er könnte sich ärgern, dann würde er nicht auf sie zutreten, nicht zu ihnen sprechen, ihre Seelen nicht trösten mit schlichten Worten.

Aus Mitleid mit den alten Bäumen schleppte Akakij jeden Morgen in der Frühe Sand herbei, schüttete ihn auf die alten Wurzeln, flüsterte vor sich hin:

»Der Glaube hilft dem Menschen, nicht der Sand, der Glaube … Daß sie aber den Sand immer wieder forttragen, das macht nichts, mögen sie nur. Ich bringe schon wieder welchen her, wenn sie anfangen, die Wurzeln freizulegen. Wenn sie nur recht viel von diesem Sande nehmen möchten, nur glauben möchten; der Glaube versetzt Berge.«

An seine Worte glaubte das Volk. Es waren schlichte Worte, leise Worte, die sich auf das alltägliche Leben des Bauern bezogen.

Der Jammer des Bauern entspringt der Not; durch Not entsteht Krankheit, Auflehnung der Kinder gegen die Eltern. Eine Bäuerin kommt zum Starez, klagt ihr Leid, vernimmt seine leisen Worte über die Seele des Menschen, und sie dringen ihr in die Seele; getröstet kehrt sie heim, und das Leben scheint ihr leichter geworden. Drückt ihr wieder etwas das Herz ab, so geht sie aufs neue zum Starez, weiß sich ohne ihn gar nicht mehr zu helfen, fragt ihn bei jeder wichtigen Angelegenheit um Rat, ob es sich nun um die Heirat der Tochter gegen den Willen der Eltern oder um den Sohn handelt, der seinen Anteil ausgezahlt haben will. Die Mutter hatte deshalb harte Auseinandersetzungen mit dem Vater, immer wieder, bis sie schließlich erklärt:

»Ich werde zum Starez pilgern und ihn um Rat fragen.«

Und der Bauer antwortet:

»Na, gehe hin; was er sagt, werden wir wohl tun müssen.«

Auch der Bauer glaubt an den Starez und pilgert zu ihm.

»Schwer ist unser Leben, Vater; und es gibt keinen Ausweg – wohin sollte der Bauer! Wir haben kein Land, das Stückchen Erde …«

»Murre nicht über den Herrn … Dein Leben ist dein Leben, blicke nicht auf andere. Andere haben es noch schwerer und leben auch und murren nicht. Dulde auch du. Zu wenig Land hast du? Warte ein wenig, bald liegst du im Grabe, dann gehört dir die ganze Erde … Von der Erde bist du genommen und zu Erde wirst du werden … Du sehnst dich nach ihr, sie ist ja aber dein, sie entgeht dir nicht, sie wartet auf dich …«

Für jeden findet der Starez ein leises Wort. An eine Seele muß man leise mit der Seele herantreten. Bevor der Starez zu sprechen anhub, sah er den Menschen an, erkannte an seiner Kleidung, an seinem Gesicht, aus welchen Kreisen er stammte, welcher Kummer ihn bedrückte. Richtiger als ein Arzt stellte er fest, woran der Mensch litt. Ein Starez hat immer eine fein besaitete Seele; nur ein Mensch, der feinfühlig ist und Herzenstakt besitzt, kann Starez werden. Durch ein Wort, durch den Tonfall seiner Stimme tröstete Vater Akakij die Leidgebeugten.

»Du hast es schwer im Leben?«

»So schwer, daß ich es gar nicht sagen kann, Väterchen … Unser Ernährer ist gestorben …«

»Der Herr hat ihn zu sich gerufen …«

Er sah eine arme Witwe vor sich, die für ihre verwaisten Kinder zu sorgen hatte, richtete sie auf, flößte ihr neuen Lebensmut ein. Gerührt durch die leise, innige Stimme des Greises, erzählte ihm die Frau von ihrem Leben, ihrem Leid, ihren Sorgen, weinte sich aus, und tröstend drangen seine Worte in ihre Seele. Sie merkte es nicht, daß der Starez ihre eigenen Worte wiederholte. Stumm sann er vor sich hin, sah sie an, sagte etwas ganz Gewöhnliches, und doch fiel der Leidgebeugten plötzlich eine Last vom Herzen, ganz leicht wurde ihr, weil der Greis ihre Seele, ihre Worte, ihren Kummer in sich aufgenommen hatte und zwei Seelen einen Augenblick sich still berührt hatten. Getröstet ging solch ein Mensch vom Starez fort, und ihm war, als hätte nicht er dem Alten sein Herz ausgeschüttet, sondern als hätte der Greis mit seherischem Blick sein Innerstes durchdrungen und ihn auf wunderbare Weise wieder aufgerichtet; in dankbarem Gedenken erzählte er dann von der wunderbaren Gabe des Starez und weckte den Glauben an ihn in anderen. Vater Akakij weckte diesen Glauben in den Gramgebeugten, indem er ihnen ihre Bürde erleichterte. Nie verurteilte er einen Menschen um seiner Sünden, um seiner gewissenlosen Handlungen willen, hatte Mitleid mit dem Irrenden und versöhnte ihn mit seinen Mitmenschen, mit seinem Fehltritt dadurch, daß er ihm vergab. Das Versöhnende, das von ihm ausging, dieses Allverzeihen war es wohl, was der leidenden Seele Erleichterung brachte und neues Leben in ihr weckte.

Starezen gab es nicht in jedem Kloster. Nur wenige Klöster waren durch sie berühmt; zu ihnen pilgerten die Leidtragenden von allen Enden Rußlands. Meist umgaben sich die Starezen mit Schülern, die von ihnen lernten, an äußeren Merkmalen das Innenleben des Menschen zu erkennen.

Vater Akakij aber hatte sich keine Schüler, keinen Novizen genommen, um sie nicht Seelenkonflikten auszusetzen. Denn die Mönche ließen den Greis trotz der großen inneren Anspannung, die seine Tätigkeit als Seelenarzt erforderte, nicht in Ruhe, sondern suchten aus Neid und Mißgunst ihm durch allerlei gehässige Kleinigkeiten, die sich täglich wiederholten, das Leben zu verbittern. Insbesondere hatte es Vater Doßifej auf ihn abgesehen, wobei er ihm nicht selbst zusetzte, sondern Novizen und seine Freunde unter den Mönchen gegen ihn aufhetzte. Er wollte ihn aus dem Kloster hinausärgern.

Einst hatte Vater Akakij einen Storch gezähmt, der jeden Morgen vom See zu ihm geflogen kam. Oft hatte der Starez am Ufer gesessen und das Tier gelockt, das immer zutraulicher wurde, bis es schließlich vom Mühlendach zu ihm herabflog und um Brot bettelte. Akakij schritt langsam einen Waldpfad entlang, ein Stück Brot in der ausgestreckten Hand haltend. Das Tier folgte ihm, zuerst zögernd, dann immer freier. So hatte ihn Vater Akakij einmal bis zu seiner Klause gelockt; am nächsten Tage kam der Storch von selbst hingeflogen und folgte seitdem dem alten Manne auf Schritt und Tritt.

Vater Doßijef schnarrte hämisch überall im Kloster:

»Nein, scho wasch! Da macht er schich vor den Leuten wichtig, lascht schich von einem Vogel begleiten, alsch wäre er wirklich ein Klauschner ausch alterschgrauer Tscheit … Macht schich luschtig über die Leute … Scheht her, wasch ich für ein heiliger Mann bin: während ich noch auf Erden wandle, folgen mir nicht nur die Menschen, schondern auch die Vögel unter dem Himmel …«

Die Mönche schlugen den Storch tot. Da weinte der Greis; es schien ihm die tiefste Kränkung, die ihm die Menschen in seinem langen Leben zugefügt hatten. Vielleicht hatte nicht Doßifej selbst das Tier getötet, doch wurde es erschlagen hinter der Mühle aufgefunden. Drei Tage lang hatte Vater Akakij nach ihm gesucht. Auch der Müller hatte sich darüber gewundert, daß der Storch plötzlich verschwunden war, und anfangs gemeint, er wäre ganz bei dem Starez geblieben.

Mit gebrochenen Flügeln und zerschmettertem Kopf fand ihn der Greis schließlich und weinte um ihn wie um einen teuren Menschen …

Niemand wußte etwas von Akakijs früherem Leben, auch wann er ins Kloster gekommen war, hatte man vergessen. Nur Abt Sawwa hatte darum gewußt; Sawwa war aber gestorben. Der Starez selbst sprach nie davon und suchte seine Frau zu vergessen, die ihn verlassen hatte. Seit jenem Tage hatte er nie mehr geweint, um den getöteten Storch aber trauerte er lange in seiner Klause und ließ sich selbst vor den Wallfahrern viele Tage nicht blicken.

 

Nun hatte Vater Doßifej es erreicht, daß der Greis aus seiner Klause ausgesiedelt werden sollte. Der Abt ließ ihn zu sich kommen; die Sache war ihm peinlich, auch schämte er sich vor dem Starez, wußte er doch, daß diesem nichts verborgen blieb: an den Augen würde er erkennen, der Abt liebe Arischa nicht mit brüderlicher, sondern sinnlicher Liebe … Vater Gerwaßij kniete nieder und verbeugte sich vor Akakij bis zur Erde.

»Starez, Gerechter …«

»Versündige dich nicht vor dem Herrn. Allein der Allmächtige ist gerecht, wir aber sind Menschen, dem Tode verfallen und der Sünde …«

»Vater, die Bruderschaft will, daß du in die Einsiedelei übersiedelst … Hohe Gäste, mit dem Bischof an der Spitze, wollen das Kloster besuchen, und die Bruderschaft fürchtet, die vornehmen Städter könnten dich in deinem ehrwürdigen Alter durch Hohn und Spott verletzen. Unglaube herrscht in den Städten, Vater, die Menschen dort machen sich lustig über die Religion. So wähle dir denn eine Zelle in der Einsiedelei, wohne dort. Wenigstens eine Zeitlang. So will es die Bruderschaft, gemeinsam ist es beschlossen worden.«

Wieder verneigte sich Nikolka vor dem Starez, mit der Stirn den Boden berührend.

»Und nimm Waßenka in deine Obhut, Vater. Die Bruderschaft fürchtet, die Gäste aus der Stadt würden ihren Spott mit dem Blöden treiben. Der Pförtner hat keine Zeit, ihn immer zu beaufsichtigen … So nimm ihn denn zu dir, Vater, halte ihn zurück von der Fleischessünde, der er in seiner Schwäche frönt, wirke ein auf seine sündige Seele …«

Stumm fügte sich Vater Akakij dem Beschluß der Bruderschaft.

Der Abt gab ihm das Geleit bis zu seiner Klause, sprach über die Menschenseele, dachte dabei aber heimlich an Arischa, an die Würde eines Archimandriten, an die edelsteinbesetzte Mitra …

Nikolka schritt weiter zur Mühle, warf einen Blick auf den See, befahl dem Müller, die Boote instand setzen zu lassen, und begab sich gegen Abend auf das Vorwerk zu Arischa. Er klopfte gewohnheitsmäßig an das Fenster ihrer Zelle, Arischa kam herausgelaufen, umarmte, küßte ihn. Im Flüsterton sagte sie:

»Bald, bald muß es sein, in diesen Tagen. Dann werde ich wieder ganz dein sein … Ich habe mich so nach dir gesehnt … Viele Tage schon bist du nicht bei mir gewesen …«

Am Morgen, nachdem die Kühe auf die Weide gezogen waren, brach er auf.

»Sorge für einen reichlichen Vorrat von Butter, hohe Gäste kommen ins Kloster, der Bischof mit dem Fürsten. Ich werde dich nicht besuchen können, solange sie da sind. Wenn sie etwas erfahren, ist's um uns geschehen. Gib auch du acht, komme ihnen nicht unter die Augen.«

Während er durch den Wald schritt, mußte er immer wieder daran denken, wie es sich wohl vermeiden ließe, daß die Gäste von der Sache auf dem Vorwerk etwas erführen. Die Mönche sprachen nicht davon, würden auch weiter schweigen, erfuhr es aber der Bischof, so drohte ihm Verbannung nach Solowki. Einst hatte Drakin ihm mit Solowki Angst machen wollen. Damals hatte ihn die Drohung nicht weiter beunruhigt, jetzt aber wurde ihm unheimlich bei dem Gedanken.

Er sprach auf dem Rückwege bei dem Herbergsvater Iona vor und ordnete an, die Sommerfrischler aus der neuen Herberge in einigen weiter abgelegenen Wirtschaftsgebäuden und in der alten Herberge unterzubringen und die neue Herberge zum Empfang der Gäste instand zu setzen.

»Verstehst du? Und daß du mir das Ungeziefer in der alten Herberge vertilgst; du weißt, was ich meine … Wenn hier nicht genug Platz ist, müssen wir einen Teil der Gäste in der alten Herberge unterbringen.«

Jedem erzählte er, daß der Bischof mit dem Fürsten kommen würde, als hielte er den angekündigten Besuch für ein persönliches Verdienst. Mit jedem Tage häuften sich die Sorgen und Mühen, er kam gar nicht mehr dazu, an Arischa zu denken.

 

Derselbe Archidiakonus, Pjotr Iwanowitsch Smolenskij, traf wieder im Kloster ein. Vater Pjotr hatte gierige, huschende Augen, richtige Diakonusaugen, eine gerade, nadelspitze Nase, ein Ziegenbärtchen und eine schwarze wellige Mähne. Diesmal kam er nicht allein, sondern mit seiner jungen hübschen Frau und seiner Schwägerin, einer Schülerin der Eparchialschule. Vater Iona empfing ihn und ließ den Abt benachrichtigen. Dem Archidiakonus aber folgten aus dem Walde Seminaristen, Waisen.

Die ganze Schar drang in die Herberge ein; der Reihe nach traten die jungen Leute an Vater Iona heran, küßten ihm die Hand, um seinen Segen zu empfangen. Indessen erklärte Smolenskij dem Abt:

»Vater Gerwaßij, ich hatte ganz vergessen, hatte ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß der Bischof seinen Segen zum Aufenthalt der Waisen im Kloster erteilt hat; es sind unsere Waisen, die Kinder verstorbener Geistlicher. Wo sollten sie bleiben? In der Stadt ist es heiß zum Ersticken, die jungen Leute aber haben dringend Erholung nötig. Es sind zukünftige Diener der Kirche; vielleicht können Sie sie in den Landhäuschen unterbringen? Der Bischof ist sehr besorgt um das Wohl der Waisen.«

Nikolka war fassungslos; wo sollte er sie alle unterbringen? Vater Iona half ihm aus der Not, schickte die Seminaristen in den Flügel des Wirtschaftsgebäudes hinter den Herbergen.

Vom Morgen bis zum Abend lief Nikolka zwischen der Abtei und dem Zimmer des Vaters Smolenskij hin und her; tausend Fragen waren zu besprechen.

 

Auch in der Gouvernementsstadt herrschte Unruhe.

Bischof Ioßaf war bei den Adeligen beliebt. Bisher hatten alle Bischöfe mit der weltlichen Obrigkeit in einem gespannten Verhältnis gelebt. Ioßaf aber unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu dem Fürsten Rjasnoi, dem Gouverneur.

Sie waren Freunde, Busenfreunde könnte man sagen, hatten zusammen das Pagenkorps absolviert, in derselben Eskadron der Chevaliergarde gedient, und dann hatte sie das Schicksal in dieselbe Stadt geführt. Ioßaf hatte Pech gehabt in der Garde; er hatte gehofft, es bis zum General zu bringen, aber da war eine kleine Skandalaffäre dazwischengekommen, und er hatte seinen Abschied nehmen müssen. Jeder andere wäre wohl aus der Hauptstadt ausgewiesen worden, ihn aber ließ sein Vater bloß in sein Palais kommen und gab ihm den Rat, die Karriere zu wechseln. Und diesem Vater mußte er schon gehorchen: ganz Rußland gehorchte ihm, um so mehr mußte es sein unehelicher Sohn tun.

So blieb denn dem Chevaliergardisten nichts anderes übrig, als die geistliche Akademie zu besuchen, Mönch zu werden, noch einmal von vorn anzufangen, um geistlicher General zu werden.

Er wurde zum Bischof erhoben und kam in die Gouvernementsstadt, wo sein Freund, Fürst Rjasnoi, General und Kammerherr mit dem goldenen Schlüssel auf dem Uniformrock, Gouverneur war. Sie erneuerten ihre Freundschaft, gedachten der alten Tage.

Seit der neue Bischof sein Amt angetreten hatte, war die Kathedrale nicht nur an den Festtagen voller Menschen, sondern auch jeden Sonnabend zur Abendmesse, und am Sonntag zur Mittagmesse herrschte in der Kirche geradezu ein Gedränge. Die Damen der Gesellschaft hatten erfahren, daß der Bischof aus fürstlichem Hause und ehemaliger Chevaliergardist war. Er gehörte zu ihren Kreisen, und sie strömten in die Kathedrale, wenn er zelebrierte, um über seine weltmännischen Manieren in Entzücken zu geraten. Das Einkommen der Oberpriester steigerte sich dadurch in unerhörtem Maße: drei Kirchenälteste reichten die Sammelteller herum, die voller Silbermünzen zurückkehrten.

Jede Bewegung des Bischofs wurde von den Damen mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt, und ein begeistertes Flüstern rann oft durch die Reihen. Wenn der Lobgesang »Ehre dem Herrn« erklang, trat Ioßaf gemessen – es war, als glitten seine Füße ohne sich zu bewegen über den Boden – unter die Betenden und schwenkte das Weihrauchfäßchen. Voran schritt ein Protodiakonus mit einer Kerze, hinterher Archidiakone, die zwei- und dreiarmige Altarleuchter trugen, und in der Mitte des Zuges Ioßaf, das silberne Weihrauchfäßchen in der Hand, das den Duft von köstlichem Zypressenholz vom Berge Athos verbreitete. Um mit dem schwingenden Räuchergefäß nicht an die betenden Damen zu stoßen, sagte der Bischof entschuldigend:

»Pardon, mesdames, pardon …«

Verzückt glänzten die Augen der Schönen, und Ioßaf hörte hinter seinem Rücken tuscheln …

»Bezaubernd …«

»Zum Küssen …«

Kaum merklich, allein mit den Augen, lächelte er den Damen zu und nickte sogar verstohlen mit dem Kopf, indem er sich den Anschein gab, als schüttele er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Die Archidiakonen schritten stramm wie fesche Adjutanten die Reihen mit dem Sammelteller ab. Den Honoratioren ließ der Bischof Weihbrötchen überreichen. Der Fürst legte einen Dreirubelschein auf den Teller. Der Archidiakonus trug den Teller zurück, eine Hand über den Schein gedeckt, und im dunklen Säulengang ließ er ihn schnell in der Tasche verschwinden.

Am Sonntag war beim Gouverneur Empfang der Honoratioren mit ihren Damen, und für den Bischof wurde ein besonderes Frühstück mit auserlesenen Weinen serviert.

 

Bei einem gemütlichen Tee in der Abtei teilte der Archidiakonus Smolenskij dem Abt vertraulich mit: »Was ich Ihnen sagen wollte, Vater Abt – ganz im geheimen … Sie müssen sich auf den Besuch von Damen und Herren der Gesellschaft gefaßt machen. Unser Bischof stammt ja, wie Sie vielleicht gehört haben, aus fürstlichem Hause, und nicht nur aus fürstlichem – aus dem Hause Romanow …«

»Aus dem Zarenhause? … Wieso? …«

»Er soll der morganatische Sohn des verstorbenen Großfürsten Alexander Nikolajewitsch sein, also ein Onkel Seiner Majestät. Ich würde Ihnen raten, sich den Herbergsvater einmal vorzunehmen, damit er keinen Quatsch macht und die geistlichen und weltlichen Herrschaften auseinanderhält …«

Am Abend ließ der Abt den Herbergsvater zu sich kommen.

»Also, Vater Iona, gib acht und schreibe dir hinters Ohr, was ich sage … Es sind sehr große Herrschaften, die zu uns kommen … Wir haben so hohe Gäste noch niemals beherbergt. Da heißt es aufpassen, damit du sie alle richtig unterbringst. Am besten wäre es, wenn du gleich jeden fragtest: ›Geruhen Sie zu dem Gefolge Seiner Eminenz oder Seiner Exzellenz zu gehören?‹ Die Geistlichkeit kommt nach unten, die Laien in das obere Stockwerk der neuen Herberge. Und dem Rang nach weise ihnen Zimmer an. Und daß dir nicht etwa einfällt, Krach mit deinen Glocken zu machen, die Gäste zu den Messen aus dem Bett zu läuten. Laß sie schlafen, so lange sie wollen, sie kommen zur Erholung her … Und daß mir deine Novizen flink und höflich sind; wer es an etwas fehlen läßt, dem werde ich eine Kirchenbuße auferlegen, bei Brot und Wasser soll er sein Vergehen sühnen … Und auch du selbst nimm dir zu Herzen, was ich gesagt habe …«

Bei all dem erregten Hin und Her bemerkte Nikolka nicht, wie die Zeit dahinflog. In einer Woche wurden die Gäste erwartet.

 


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