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6

Manche Nacht lag die kleine Fenja schlaflos in ihrem Bett und dachte darüber nach, was sie wohl tun könnte, um Borjas Liebe zu erringen, sein Herz zum Leben zu erwecken. Er brauchte ja darum seine verstorbene Braut nicht zu vergessen, mochte ihr ein zärtliches, liebendes Gedenken bewahren, wenn er sich nur innerlich wieder dem Leben zuwandte, den Bann des Todes bräche, der ihn gefangen hielt und sein Seelenleben krankhaft beschattete. Oft saß sie still und stumm in seinem Zimmer, während er studierte, langsam Blatt auf Blatt umwendend. Sie sah ihn an und sann darüber nach, mit welchem »lebendigen Wasser«, wie es im Märchen hieß, sie sein Herz besprengen müßte, um es dem Leben zurückzugewinnen und Liebe in ihm zu erwecken.

 

Ihre Freundin Walja Shurawljowa gab ihr einen Rat. »Du bist verliebt, Fenitschka. Warum gibst du es nicht zu? Ich sehe es ja … Versuch' doch, ihn zu gewinnen …«

»Wie soll ich das tun? …«

»Ich will dir sagen, wie. Veranstalte einen lustigen Abend, gib ihm Wein zu trinken, und ich will dir durch Iwina – sie studiert ja Medizin – ein aufreizendes Pülverchen besorgen. Wenn ihm der Wein und das Pulver zu Kopf gestiegen sind, weiß er nicht mehr was er tut. Nachher heiratet er dich dann … Eine Freundin von mir hat auf diese Weise vor kurzem einen Bergbaustudenten gewonnen …«

»Das tue ich nicht. Es ist häßlich.«

»Wie du willst … Aber gib acht, wenn Boris sich selbst überlassen bleibt und seiner krankhaften Sehnsucht nach der Toten, so gibt es über kurz oder lang ein Unglück. Das kann nicht gut enden, Fenja. Und dann wirst du schuld daran sein, denn du allein hättest ihn retten können …«

Die kleine Fenja sagte gepeinigt:

»Ich kann das nicht tun, Walja …«

 

Einen ganzen Monat lang quälte sich Fenja. Zuweilen übermannte sie Verzweiflung. Sie dachte daran, daß seine Mutter ihr Borja gewissermaßen anvertraut hatte, von ihr Hilfe und Rettung erhoffte, und sah keinen Ausweg. Sie wußte, er verzehrte sich in Sehnsucht nach der Toten, erwartete sie, hoffte in seiner religiösen Exaltiertheit auf ihr Erscheinen.

Eines Abends fragte sie ihn:

»Borja, was würden Sie tun, wenn ich jetzt nicht fortginge?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wenn ich in Ihrem Zimmer bliebe?«

»Wir sind doch Freunde, Fenja … Als ich krank war, sind Sie ja auch bei mir geblieben.«

»Und wenn ich ganz bliebe? Was würden Sie tun? Sie wissen doch, daß ich Sie liebe, Borja …«

»Auch ich liebe Sie, Fenja … Sie sind mir lieb und teuer geworden, Sie würden mir fehlen, wenn wir uns längere Zeit nicht sähen …«

»Ich bin aber eine Frau, Borja; Sie wissen, daß eine solche Liebe mir nicht genügt, ich brauche Sie; ich will mehr, ich will alles, ich will Sie ganz …«

»Und Sie, Fenja, wissen, daß ich die Verstorbene liebe und niemand mehr so lieben kann, wie Sie es wollen.«

»Das ist nicht wahr, Borja. Es kann nicht, es darf nicht wahr sein!«

 

Die kleine Fenja hing seinen Worten nach … Lieb und teuer war sie ihm geworden, fehlen würde sie ihm … Er liebte sie, liebte sie ja, aber er wagte es nicht, sich das einzugestehen, wagte es nicht, das Versprechen ewiger Treue zu brechen, die er der Sterbenden gelobt hatte, konnte darüber nicht hinweg … Sollten sie beide an diesem Schemen zugrundegehen? Wie, wenn sie seine Wachsamkeit wirklich zu betäuben, die Hemmungen, die ihn fesselten, durch ein paar Gläser Wein zu lockern versuchte? … Etwas mußte geschehen, um ihn aus seiner Erstarrung zu erlösen. Er brauchte sie ja nicht zu heiraten; ach Gott, nicht darum handelte es sich! In keiner Weise wollte sie ihn binden, er sollte nur einmal das Weib erkennen, nur einmal untertauchen in die Zärtlichkeit eines liebenden Frauenherzens; vielleicht würde ihn das auffrischen, die Gespenster verscheuchen, ihn dem Leben zurückgeben. Vielleicht würde er sie nachher darum hassen; aber wohl nur in den ersten Tagen; die Erinnerung an die heißen Küsse ihrer vor sehnender Leidenschaft trockenen, glühenden Lippen, an die innige Verschmelzung ihrer beglückten Leiber würde ihn zurückführen zu ihr; das lebendige, sieghafte Leben würde stärker sein als die Schatten des Todes …

Tagelang ging sie mit heißem Kopf umher, ihren Gedanken nachhängend, und konnte sich nicht entschließen, zu handeln. Doch immer verzehrender wurde ihre Leidenschaft, wie Feuer rann es durch ihre Adern bei der Vorstellung, daß er, der Reine, der Ersehnte, sie an sich zöge, sie begehre, sie beglücke; wie irr blickten ihre Augen.

Walja kam noch einmal darauf zu sprechen.

»Also Iwina und ich haben beschlossen, dir zu helfen …«

Empört, ungestüm stieß Fenja hervor:

»Nein, ich will es nicht! … Er selbst soll sich zu mir finden …«

»Nun, wir werden ja sehen …«

 

Ruhig wie immer begegnete Borja der kleinen Fenja, wenn sie des Abends still in seinem Zimmer saß, doch empfand er ihre Nähe als wohltuend. Vor dem Schlafengehen betete er lange und inbrünstig, flehte zu Gott, er möge der Toten erlauben, ihm zu erscheinen. Oft fuhr er aus dem Schlafe auf, starrte in die Dunkelheit und lauschte gespannt in die nächtliche Stille. Zuweilen nur beunruhigte ihn der Gedanke an die andere, die ihn liebte, nichts von ihm forderte, still auf etwas wartete und sinnend ihre Blicke auf ihn richtete. Ihre Frage, was er tun würde, wenn sie bei ihm bliebe, hatte ihn erregt. Verschwommene Gedanken, lockende, traumhafte Bilder kamen ihm, die ihm aber unwirklich und gegenstandslos erschienen und wieder entschwanden. Aber irgendwie blieb eine innere Unruhe zurück, eine Art Nervosität überkam ihn, die er sich nicht erklären konnte und die er auf Überarbeitung zurückführte. Er hatte mehrere Prüfungen abgelegt, war in den Seminaren mit Referaten hervorgetreten, die ihm durch ihre Tiefgründigkeit anerkennende Bemerkungen seiner Professoren eingetragen und Aufmerksamkeit erregt hatten. Er mußte den Bogen überspannt haben; auch war seine Gesundheit nach dem Unglücksfall noch nicht ganz wiederhergestellt. Zuweilen überkamen ihn eigenartige Halluzinationen: die Menschen auf der Straße schienen ihm schattenhafte Wesen, die geisterhaft an ihm vorüberhuschten; er blickte sich verstört um, schauerte zusammen – ihm schien, als wandele sie, seine tote Braut, unter diesen Schatten. Wenn er über seinen Büchern saß, meinte er zuweilen leichte Schritte zu hören, sprang auf, lauschte, blickte verloren in die weißliche Frühlingsnacht hinaus …

 

Zwei Tage vor ihrem Geburtstage, als Boris im Bett lag, betete und wartete, trat die kleine Fenja im Nachthemde, die beiden Zöpfe wie einen Kranz um den Kopf gewunden, leise in sein Zimmer. Er erhob sich halb, rief leise:

»Du! Bist du es?«

Fenja hauchte:

»Borja … Ich bin es …«

»Geliebte! Komm, küsse mich …«

»Hast du mich erwartet? …«

»Ja, immer, immer …«

Als sie näher trat, erkannte er sie und rief zornig:

»Warum kommen Sie in der Nacht zu mir? Sie wußten, daß ich … jemand … erwarte? …«

Die kleine Fenja, die von seinen Halluzinationen wußte, hatte gehofft, er würde sie in der Erregung nicht erkennen und war im sehnenden Vorgefühl winkenden Glückes zu ihm geschlichen. Ungestüm pochte ihr Herz. Mühsam faßte sie sich.

»Ich habe hier ein Heft vergessen … Mein Tagebuch …«

»Was soll das, Fenja?«

Sie tat, als hätte sie nicht verstanden.

»Ich habe es auf Ihrem Schreibtische liegen lassen. Ich dachte, Sie würden vielleicht darin lesen, Borja …«

»Ich wünsche nicht, daß Sie in der Nacht zu mir kommen.«

»Ich will es nicht wieder tun, Borja …«

Sie verließ das Zimmer, zog die Tür hinter sich zu. Boris war so verstört, daß er sein Gesicht in die Kissen drückte und lautlos in ein krampfhaftes Schluchzen ausbrach.

Fenja war lauschend hinter der Tür stehengeblieben, hörte ihn kurz aufschluchzen, dann wurde alles still … Ein bitteres Gefühl stieg in ihr auf.

Sie warf sich mit dem Gesicht auf ihr Bett und steckte die Hände unter das Kissen, ihr Körper zuckte. Sie flüsterte:

»Geliebter, übermorgen wirst du mein sein … Ich lasse dich nicht der Toten. Mich, die Lebende, sollst du lieben! Die Toten sollen sich nicht in unser Leben drängen … Ich will nicht, daß du an ihr zugrunde gehst; ich lasse es nicht zu. Du sollst nicht sterben, du sollst leben und lieben! Du wirst erwachen! Auferstehen! Ich will mich auflösen in dir, Leben und Liebe in dich hineinhauchen. Du sollst das Leben erkennen, indem du mich erkennst. Dann wirst du mir nicht mehr entweichen, wirst bei mir bleiben … Du wirst denken, daß du die Tote an dein Herz drückst … Wenn du erwachst, wirst du die Lebende in deinen Armen halten und nicht mehr von ihr lassen … Nie … Und die Tote wirst du vergessen, dich von ihr befreien … Du erwartest die Tote und wirst die Lebende erwerben. Ich werde zu dir kommen als Tote und Lebende zugleich, und du wirst auferstehen, und zusammen mit dir werde ich auferstehen, als eine andere, Reine, deiner Würdige … In einer doppelten Wiedergeburt wird unsere Liebe uns dem Leben, dem Glück, zuführen …«

Ein neuer Gedanke kam ihr, jauchzend, beseligend:

»Ja, ich werde rein werden an dir, dem Reinen, dem Unbefleckten, und in Reinheit von dir empfangen … Dein Kind, Geliebter, wird in mir erzittern, dein Kind! O dieses Glück, dies unsagbare Glück …«

 

Mit schimmernden Augen, zag wie eine Braut, trat sie am nächsten Abend in sein Zimmer.

»Borja, vergeben Sie mir, daß ich gestern abend in Ihr Zimmer gekommen bin. Seien Sie mir darum nicht böse!«

»Ich bin Ihnen nicht böse, Fenja …«

»Borja, was ich Ihnen sagen wollte. Morgen feiere ich meinen Geburtstag. Kommen Sie zu mir; ich bitte Sie darum. Ohne Sie würde ich mich vereinsamt fühlen. Ich möchte meinen Freund an diesem Tage bei mir sehen.«

»Ich werde kommen; danke. Sie können mich ja dann rufen.«

 

Am nächsten Tage ging die kleine Fenja vom Morgen an wie abwesend einher, war ganz in sich versunken, nur ihre Augen glommen und wanderten unstet und wie irr, als schwebte etwas Unheimliches um sie. Nach dem Mittagessen eilte sie in die Stadt, um Süßigkeiten zum Tee zu kaufen.

Während ihrer Abwesenheit sprach Walja bei ihr vor und musterte mit hausfraulich prüfendem Blick die Herrlichkeiten, die Fenja zum Abend vorbereitet hatte. Sie entdeckte eine Flasche jenes Weines, von dem Boris während seiner Krankheit zur Stärkung getrunken hatte, entfernte behutsam die Kapsel, zog den Pfropfen heraus, schüttete ein Pulver in die Flasche, zwängte mit Anstrengung den Pfropfen wieder hinein und streifte auch die Kapsel über, die sie sorgfältig an den Flaschenhals drückte, um alle Spuren zu verwischen. Dabei murmelte sie vor sich hin:

»Das Mädel tut nur so! … ›Daß du es nicht wagst, ich will es nicht‹ – dabei hofft sie aber insgeheim bestimmt auf unsere Hilfe …«

Darauf suchte sich Walja etwas zum Essen heraus, setzte sich mit untergeschlagnen Beinen auf den Diwan und sagte zufrieden:

»Sie hat immer Sachen, die gut schmecken …«

Wer auch zu Fenja kommen mochte, er wurde gastfreundschaftlich aufgenommen. Alle ihre Bekannten wußten, wo ihre Vorräte standen. Sie schloß ihre Zimmertür niemals ab; sprachen Gäste in ihrer Abwesenheit vor, so warteten sie auf ihre Rückkehr und holten sich, wenn sie hungrig wurden, aus ihrem Schrank etwas zu essen.

Die kleine Fenja kehrte zurück.

»Ah, Walja! Was treibst du hier?«

»Ich esse zunächst mal.«

»Komm, decken wir den Tisch. Du kannst mir helfen.«

Gegen sieben trafen allmählich die Gäste ein. Um sieben kehrte auch Boris, einen Blumenstrauß in der Hand, nach Hause zurück. Fenja lief ihm im Gang entgegen.

»Was haben Sie denn da?«

»Ein paar Blumen, Fenja.«

»Borja, darf ich sie vorläufig in Ihr Zimmer stellen?«

»Warum?«

»Ich möchte nicht, daß Walja und die übrigen wissen, daß die Blumen von Ihnen kommen. Für mich haben sie eine besondere Bedeutung. Nachher, wenn meine Gäste fortgegangen sind, hole ich sie mir herüber.«

»Wie Sie wollen.«

Er hatte ihr, ohne sich über sein Tun Rechenschaft abzulegen, ebensolche Blumen gebracht, wie er seiner Braut in den Sarg gelegt hatte: Narzissen und weiße Tulpen. Sie stellte den Strauß in einer breiten Vase auf seinen Tisch.

»Wie gut sie es hier haben, nicht wahr, Borja? … Und jetzt kommen Sie zu mir.«

Sie hieß ihn neben sich Platz nehmen. Nach dem Tee stellte Fenja mit ihren Freundinnen Schnäpse und Weine und allerlei kalte Platten auf den Tisch. Fenjas Landsleute waren begeistert.

»Hallo, bei Ihnen geht es ja heute hoch her, Fenitschka! Sogar Wein gibt es!«

»Ihnen merkt man den Bergbaustudenten an, Kamerad. Alle Bergbauer sind mächtige Trinker …«

»Fenitschka, ich wollte Ihnen zu den Pralinen eigentlich auch eine Flasche Likör bringen. Bei einem jungen Mädchen ist man ja niemals sicher, ob man etwas zu trinken bekommt, und so auf dem Trockenen zu sitzen, dafür bin ich nicht sehr. Aber – um offen zu sein – mein Geld reichte nicht aus … Likör darf man doch einer jungen Dame schenken? Was meinen Sie?«

Die Studentinnen lachten.

»Es gibt doch Pralinen mit Likör. Ich wollte also Schokoladenkonfekt ohne Likör und den Likör dazu extra bringen. Dabei ist doch gar nichts Komisches!«

Ein Polytechniker setzte sich zu ihm und die beiden unterzogen die Flaschen einer eingehenden Besichtigung. Fenja nahm ihnen eine Flasche fort.

»Dieser Wein ist nicht für Sie.«

»Warum nicht? Ist er zu gut für uns?«

»Der ist für Smoljaninow. Boris trinkt sonst nichts, aber diesen Wein hat ihm der Arzt sogar verordnet, so daß er nicht ablehnen darf.«

»Na, wenn es was für die Gesundheit ist, so wollen wir Ihnen die Flasche lassen. Wir müssen aber auch etwas für unsere Gesundheit tun, Waßja … Hier, diese dickbäuchige Flasche ist etwas für mich, die nehme ich mir; sie kommt aus dem Ausland und selbst die Mönche lassen diesen Likör gelten. Mit ihrem dicken Bäuchlein sieht sie selbst wie ein heiliger Vater aus, bloß die Glatze fehlt.«

Fenja goß Boris ein und füllte sein Glas gleich wieder, als er es angetrunken hatte.

»Fenja, ich trinke nicht mehr.«

Seine Kameraden setzten ihm zu:

»Das geht nicht, Smoljaninow, sonst hinken Sie nachher auf einem Bein. Und Sie müssen sehen, wieder zu Kräften zu kommen. Die Gesundheit geht vor, ob Sie nun wollen oder nicht.«

Unter Scherzen und Lachen und Trinksprüchen wurde Boris zum Trinken angehalten.

Boris antwortete einsilbig, sprach wenig. Der Wein schien ihm anfangs herbe, nach jedem weiteren Schluck schmeckte er aber besser, und er trank schließlich, ohne sich zu sträuben, wenn sein Glas immer wieder gefüllt wurde. Allmählich wurde ihm ein wenig wirr im Kopf, durch seine Glieder strömte ein unbegreiflich sehnendes Verlangen, und er empfand es freudig, daß nicht jemand Fremdes, sondern die kleine Fenja, seine liebe Freundin, neben ihm saß.

Schließlich sang er zusammen mit den übrigen lustige Studentenlieder.

Um zehn erklärten Shurawljowa und Iwina, daß sie nach Hause müßten. Die Studenten zogen den Aufbruch noch eine kleine Weile hin. Schließlich verabschiedete sich die ganze Gesellschaft. Fenja hielt Boris an der Tür zurück und flüsterte ihm zu:

»Borja, Sie haben mir versprochen, noch zu bleiben. Warten Sie einen Augenblick. Ich begleite die Gäste nur zur Tür und bin gleich wieder da.«

Im Vorzimmer zog man sich lange an, lachte und scherzte. Fenjas Freundinnen küßten sie, die Studenten schüttelten ihr die Hand.

Fenja kehrte in ihr Zimmer zurück, machte eine Hälfte des Tisches frei, indem sie alles auf die andere Seite hinüberschob, und holte aus der Kommode eine Schachtel Konfekt hervor.

»Das habe ich für Sie aufbewahrt, Borja, mein Lieblingskonfekt; und dies ist auch mein Lieblingslikör, er duftet wie Apfelsinen.«

Boris schwieg … Seine Augen, weitaufgerissen, wanderten unruhig umher. Sie setzte sich neben ihn auf den Diwan. Er aß mechanisch von dem Konfekt, das sie ihm reichte, trank ebenso mechanisch, wenn sie sein Glas füllte.

»Erinnern Sie sich noch daran, wie wir auf der Empore im Adelsklub zusammen saßen, Borja? … Garben, schwer an Korn, fallen mir auch jetzt auf die Schläfen … Wissen Sie noch: ›Haare wie reifes Korn, und Sie – der gesegnete Sommer, Ljona‹?«

Die Erinnerung an den Abend, an dem sie einander kennengelernt hatten, überkam sie weich; sie rückte näher zu ihm heran und legte den Kopf an seine Schulter. Er rührte sich nicht; ihm war, als schwimme sein Körper auf schaukelnden Wogen. Seine Augen glänzten. Er trank nicht mehr. Er war nicht betrunken, und doch war es wie ein Rausch; ein leichter angenehmer Schwindel hatte ihn erfaßt. Seine Gedanken waren klar, schwebten aber so rasch vorüber, daß er sie nicht erfassen konnte.

»Borja, ich liebe Sie ja …«

Sie verstummte. Der Anblick der Speisereste, die halbgeleerten Gläser und Flaschen waren ihr unangenehm. Sie wußte nicht was tun. Heute, noch heute mußte es geschehen, aber nicht hier in diesem unordentlichen Zimmer … Bei ihren Worten über jenen Abend auf dem Ball erinnerte sie sich daran, was er über ihr Haar gesagt hatte, löste es, flocht schnell zwei Zöpfe, die sie sich um den Kopf wand und statt eines Bandes mit weißen Blumen befestigte, so daß es aussah, als trüge sie einen Blütenkranz.

»Schauen Sie her, Borja …«

Er hob den Blick, zuckte zusammen und rückte von ihr ab.

»Ich will jetzt gehen, Fenja.«

Verzweiflung überkam sie; alles schien verloren …

Er schwankte. Sie schob ihre Hand unter seinen Arm und führte ihn in sein Zimmer. Vor der Tür lauschte sie, hörte, wie er sich entkleidete und zu Bett ging. Ihr Herz schlug laut. Sie wartete, sie wußte nicht wie lange. Als sie meinte, er sei eingeschlafen, schlich sie hinein und entkleidete sich im Dunkeln, mit einer Hand an den Tisch gestützt, um nicht umzusinken. Barfuß, im bloßen Hemde, die Finger an den Achselbändern, um auch das Hemd in einem Augenblick abstreifen zu können, trat sie an sein Bett. Sie wollte flüstern, aber vor Erregung entrang es sich ihr nur wie ein Hauch: »Borja! …«

Er schlug die Lider auf, seine Augen blickten irr. Und wie in jener Nacht flüsterte er:

»Du! … Bist du es, Lina?«

»Ja, Borja …«

Sie ließ das Hemd hinabgleiten, schlüpfte unter die Decke und schmiegte sich an ihn. Er strebte ihr zu, umschlang sie, ihre Körper vereinten sich, stumm, stöhnend, immer wieder. Nur zuweilen flüsterte er ersterbend:

»Du! Du …«

 

Beide waren in Schlaf gesunken. Boris schlief unruhig und mußte wohl bei einer Bewegung gespürt haben, daß er nicht allein war, daß jemand bei ihm lag. Sein Kopf war plötzlich ganz klar; er schlug die Augen auf und prallte zurück.

Ihre Arme glitten matt hinab, ihre Finger bewegten sich, umfaßten das Kissen. Sie war nicht erwacht.

Er sprang leise aus dem Bett und wußte vor Entsetzen nicht, was er beginnen sollte. Er starrte auf das Fenster, durch das der blasse Schimmer der weißen Petersburger Frühlingsnacht drang, auf das Bild seiner Braut, auf die Blumen, als suchte er nach einem Halt; sein Blick blieb an dem Heiligenbilde haften.

Er zog die Schultern ein …

»Du hast mich gestraft, Herr … Ich komme, ich komme zu dir …«

Ganz von diesem Gedanken erfüllt, aufs tiefste durch ihn erschüttert, zog er sich hastig an, öffnete seinen Korb, entnahm ihm Verschiedenes, ließ es wieder fallen, raffte schließlich ein wenig Wäsche zusammen, die er in ein Laken wickelte und in einen kleinen Handkoffer legte, öffnete eine Schreibtischschublade, steckte einige Sachen in die Tasche, auch das Bild seiner Braut, wollte gehen, kehrte wieder um, nahm das Heiligenbild von der Wand ab und legte es auch in den Koffer, ließ leise den Deckel sinken – all das in großer Hast, wie gehetzt, und schlich schließlich mit gesenkten Augen aus dem Zimmer.

Um acht Uhr sprachen Fenjas Freundinnen Shurawljowa und Iwina neugierig vor, um das junge Paar zu wecken. In Fenjas Zimmer herrschte große Unordnung; ihr Bett war unberührt.

»Walja, wo können sie denn sein?«

»Wohl bei ihm, sehen wir nach.«

Sie blickten durch die Türspalte. Auch hier war alles durcheinandergeworfen, Sachen umhergestreut, am Tisch auf dem Fußboden lagen Fenjas Kleid und Wäsche und auf dem Bett sie selbst, nackt, die Decke zurückgestreift, in ein Häufchen zusammengeringelt, und auf dem Kissen schimmerten ein goldenes Medaillon mit einem Rubin, ein Kreuzchen und ein kleines Heiligenbild.

»Hier hat es ein Drama gegeben; komm Walja.«

Auf Zehenspitzen schlichen sie stumm davon.

 

Fenja erwachte, fand den Geliebten nicht mehr an ihrer Seite, warf einen Blick ins Zimmer und begriff, daß jetzt alles zu Ende war. Er war von ihr gegangen, auf immer, war geflohen – nicht aus dem Leben, nein, davon war sie überzeugt, wohl aber ins Kloster, um Buße zu tun.

Sie setzte sich auf den Bettrand, hob das Hemdchen vom Fußboden auf, streifte es aber nicht über, sondern warf es sich über die Knie und ließ die Blicke von einem der umherliegenden Gegenstände zum anderen wandern, ganz in den Gedanken vertieft, ob sie wohl ein Kind von dem Geliebten empfangen habe. Ihr Körper spürte noch seine Liebkosungen, die Nacht mit seinem leidenschaftlichen Ungestüm wogte noch in ihr; sie lächelte selig und flüsterte:

»Ja … ja … ja …«

 


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