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7

Durch die Straßen zogen jubelnde Volksmassen mit Plakaten und Fahnen, an allen Ecken wurde das Manifest des Zaren »das Manifest des Zaren«: Gemeint ist das Manifest Nikolai II., das dem Lande eine beschränkte Konstitution verlieh und die Reichsduma einberief. gelesen, auf allen Fabriken heulten die Sirenen, in den Sälen der Hochschulen fanden unaufhörlich Versammlungen statt, bis in die Nacht hinein wurde stürmisch applaudiert. Afonka hatte vergessen, daß er mit den Leuten in steifen Hüten durch dieselbe berüchtigte Tür ein und ausgegangen war, und brüllte in der Fabrik lauter als alle. Trotzdem fühlte er sich haltlos hin und hergerollt wie ein abgerissenes Blatt. Er ging nicht mehr in die Geheimpolizei, man hatte ihn schließlich doch nicht als Spitzel eingestellt; er falle zu sehr in die Augen, selbst die Straßenjungen würden bald mit dem Finger auf ihn weisen, war ihm erklärt worden. Von seiner Fabrik eilte er auf andere Fabriken, um den Reden über das neue Leben zu lauschen, dessen Anbruch jubelnd gefeiert wurde, und besuchte nur selten die Schwestern; eine Art Schwermut hatte ihn überkommen.

Die kleine Fenja erhielt ein Telegramm von ihrem Onkel und eine Überweisung von dreihundert Rubeln: sie solle unverzüglich nach Hause kommen. Nach dem Bruch mit Petrowskij war sie innerlich gleichsam erstarrt, äußerlich aber heiterer geworden, seit die quälende Unruhe von ihr gewichen war.

Auf das Telegramm antwortete sie: »Ich komme bald« und blieb in Petersburg, eilte, wie ein Schäfchen der Herde nachläuft, von Versammlung zu Versammlung, lauschte den Reden der Dumakandidaten, fing an, Theater zu besuchen, schloß Freundschaft mit mehreren Studentinnen.

Erst zu den Weihnachtsferien machte sie sich auf die Heimreise. Sie hatte sich einen Schlafplatz gesichert und schlief die Nacht durch. Als sie am Morgen erwachte, stand der Zug in einem Walde, drei Werst von Twer entfernt. Die Wagen schaukelten nicht, man konnte schön schlafen; erst gegen neun begannen die Fahrgäste zu erwachen. Man schaute zum Fenster hinaus, zog Erkundigungen ein, erfuhr, daß der Zug im Schnee steckengeblieben und es unbestimmt sei, wann es weiter ginge, legte sich wieder zur Ruhe nieder und dämmerte in der Wärme und Stille dahin. Erst der Hunger trieb die Leute aus den Betten. Man aß, was man mit hatte, Sardinen in Öl, Wurst, Fischkonserven, Brot, war nicht mehr hungrig und doch nicht recht satt; schließlich meldete sich der Durst.

Auch die kleine Fenja hatte von ihren Vorräten gegessen, wollte trinken, steckte zur Ablenkung einen Bonbon nach dem anderen in den Mund, wodurch ihr Durst noch größer wurde, und wandte sich schließlich an ihren Nachbar, einen Studenten.

»Kamerad, haben Sie nicht etwas zu trinken?«

Der Student hatte nichts da und schlug vor, ihr in einem Glase Schnee zu bringen. Bald waren alle Fahrgäste draußen und füllten Gläser, Teekessel, Kaffeekannen mit Schnee. Allmählich wurde man unruhig, fragte den Schaffner zehnmal in der Stunde, wann es weiter ginge.

»Zwölf Stunden werden wir wohl noch warten müssen, die ganze Strecke ist verweht, wir können weder vor noch rückwärts.«

Um die Zeit totzuschlagen, unterhielt man sich. Der Student erwies sich als Fenjas Landsmann. Man redete über alles, über den Krieg, über Politik, über die anhebende Freiheit, ging schließlich wie üblich auf neuere Literatur über, was die sexuelle Frage aufs Tapet brachte, und sprach ausführlich über Liebe. Das rief Wortspiele hervor, reizte die Nerven. Als dann statt der Gasbeleuchtung Kerzenstümpfchen in Erscheinung traten, legten sich die älteren Herrschaften, nachdem man wieder Stullen und Konserven gegessen und geschmolzenen Schnee getrunken hatte, zur Ruhe nieder, während die jungen Leute, die aus Petersburg zu den Weihnachtsferien auf dem Heimwege begriffen waren, allerlei Kurzweil trieben, bis sich überall flüsternde Pärchen bildeten.

Und als der Student in dem fast dunklen Abteil näher zu Fenja heranrückte und ihr den Arm um die Taille legte, wich sie ihm nicht aus, zierte sich nicht, sondern schmiegte sich an ihn, nicht Nikodims, wohl aber ihrer enttäuschten Liebe gedenkend, während der Student ihr Balmonts »Balmont«: Konstantin Balmont und Valerij Brjussow – bedeutende Lyriker, Führer der Moderne zu Beginn des Jahrhunderts. »Brjussow und Balmont«, Gedichte, deutsch von Wolfgang E. Groeger, Skythen-Verlag, Berlin. Siehe auch: »Geschichte der russischen Literatur« von Arthur Luther, Bibliographisches Institut, Leipzig. berühmtes Gedicht ins Ohr flüsterte: »Ich will vermessen, ich will verwegen die vollen Trauben zu Kränzen reihn … Zwei Herzen sollen ein Lohen sein … Ich bin die Freude, ich bin die Jugend, ich bin verwegen, ich will es sein! …« Der kleinen Fenja war es jetzt, nachdem ihre Liebe Schiffbruch erlitten hatte, eigentlich gleichgültig, wer verwegen und vermessen zu ihr sein wollte, wenn er ihr nur ein bißchen Freude gab und sie auf andere Gedanken brachte und jene heiß aufsteigenden Wellen in ihr entfachte, die so süß betörend sind …

Sie wechselten zärtliche Flüsterworte. Unter stürmischen Küssen, die kein Ende nehmen wollten, sagte die kleine Fenja manches Süße, was sie für Nikodim in sich aufbewahrt hatte, und erst, als der Student sie anflehte, nun auch die letzte Grenze zu überschreiten, und hinzufügte:

»Sie brauchen gar nicht bange zu sein, es schlafen ja alle …« fuhr sie ihn an:

»Lassen Sie mich los! Sind Sie verrückt geworden? …«

»Warum haben Sie denn Angst – es ist doch ganz dunkel? …«

Sie löste sich aus seinen Armen und erlaubte ihm nicht mehr, sie zu berühren. Als er sah, daß nichts mehr zu erreichen war, kletterte er auf seine Pritsche. Auch Fenja legte sich hin und zum ersten Male seit langer Zeit schlief sie gedanken- und wunschlos, und eine traumhafte Süße strömte durch ihre Glieder … Am nächsten Morgen wartete sie ungeduldig, daß der Zug endlich weiter ginge; warum konnten die Bauern, die den Schnee vom Bahndamm schaufelten, den Zug schließlich nicht an Stricken weiterziehen, wenn es schon gar nicht anders ging! Erst am Abend setzten sich die Räder knarrend in Bewegung und die kleine Fenja und der ganze Zug atmeten erleichtert auf.

 

Als sie am dritten Tage nach der Abreise endlich in ihrer Heimatstadt ankamen, verabschiedete sich Fenja von ihrem Landsmann, blitzte ihn mit den Augen an, sagte fröhlich:

»Wir sehen uns auf dem Studentenball wieder. Werden Sie kommen?«

»Unbedingt, Fenitschka! Natürlich komme ich hin, Liebste …«

Auf dem Ball erwartete sie, daß er auf sie zutreten, ihr den Hof machen würde, hatte sogar die Absicht, ihn zu sich einzuladen, aber wie es nun bei Reisebekanntschaften so geht, man vergißt die flüchtige Tändelei, sobald man mit seinem Gepäck bequem in der Droschke sitzt und nach Hause fährt …

Die kleine Fenja verkaufte mit einigen Studienfreundinnen an einem Tischchen Blumen, suchte, möglichst viel einzunehmen, kokettierte mit jedem Ingenieur, Rechtsanwalt, Arzt, und als ihr Onkel Kirja herantrat, mußte er für ein Blumensträußchen ganze hundert Rubel bezahlen. Er lächelte über ihren Eifer und steckte ihr die Maiglöckchen an die Schulter.

»Darf ich dir einen Gymnasiasten vorstellen, Fenja?«

»Einen Gymnasiasten? … Onkel Kirja! Wohl Quartaner?«

»Komm, ich zeige ihn dir.«

Er führte sie durch den großen Säulensaal der Adelsversammlung, mit einem verbindlichen Lächeln immerfort nach links und rechts grüßend.

»Mokiere dich nicht, Fenitschka … Ich glaube, der wird einmal ein interessanter Mann.«

»Zu welcher Partei gehört er, Onkel?«

»Zu keiner, ich denke, er wird niemals zu einer Partei gehören.«

»Dann stellen Sie ihn mir vor.«

»Boris Wassiljewitsch, dies ist meine Nichte Fenitschka, Sie dürfen sie auch so nennen.«

Nach einem Walzer mit einem Leutnant, der von der Garde träumte, erfuhr Fenja von ihren Freundinnen am Blumentisch, daß Boris Wassiljewitsch Smoljaninow großen Erfolg bei den Primanerinnen des Lyzeums und den Studentinnen der ersten Semester habe: sie seien alle in ihn verliebt, er aber in niemand. Die jungen Mädchen hatten von ihren Brüdern folgendes Gespräch zwischen ihnen und Boris erfahren:

»Du lebst also in Keuschheit und Reinheit, Boris?«

»Ja, in Reinheit.«

»Und warst noch niemals bei den Mädeln in der Vorstadt?«

»Ich werde auch nie hingehen.«

»Und hast noch keine Lyzeistin geküßt?«

»Nein, keine.«

Dieses Gespräch erzählten die jungen Mädchen einander wie eine Anekdote, ungläubig und neugierig. Jede wollte nun die erste sein, die er küßte, jede suchte ihn in ihre Netze zu fangen, doch an seiner ruhigen Unbefangenheit glitten alle Verführungskünste der jungen Schönen ab.

Auch Fenjas Neugier war erwacht; sie ging ihn suchen, wanderte durch alle Säle; schließlich fand sie ihn auf der Empore; er saß allein.

»Warum sind Sie von unten geflohen, Boris Wassiljewitsch?«

In etwas singendem Tonfall antwortete er schlicht, als wären sie alte Bekannte, und seine weiche tiefe Stimme voll warmer Innigkeit erregte sie seltsam, schien leise in verborgen schlummernde Tiefen ihres Wesens zu dringen:

»Sie wurden zum Tanz entführt, Fenja, und ich wollte mich nicht, vielleicht ungewünscht, Ihnen in Erinnerung bringen … Aber wenn ich Sie Fenja nenne, müssen auch Sie mich mit abgekürztem Namen nennen.«

»Wie lautet er denn?«

»Bilden Sie ihn sich selbst. Man sollte jedem Menschen einen Namen geben, der auf ihn paßt.«

»Welcher Name würde denn zu mir passen? Ich heiße Fjokla Timofejewna.«

»Auf Sie? … Jelena, und nennen würde ich Sie nicht Ljola, nicht Lena, sondern Ljona.«

»Und warum gefällt Ihnen Fenja nicht?«

»Fjokla – so heißen Bäuerinnen; Fenja, Fenitschka – junge Dienstmädchen, junge Nonnen im Klosterchor. Sie aber sind schlank, eher klein von Wuchs, von ebenem Gleichmaß. Das üppige Goldhaar ist hochgerafft, und diese – ich weiß nicht recht, wie man sie nennt – diese Büschel über Schläfen und Ohren sind wie Ähren – lachen Sie nicht darüber, daß es so poetisch klingt, ich sage, was ich sehe. Wenn ich Künstler wäre, würde ich den Sommer, den gesegneten, nach Ihnen malen: Sie in grobweißem Bauernhemde, blaugestreiftem, ärmellosem Kleide, inmitten reifer Garben, die Haare in zwei Zöpfen als Kranz um den Kopf gewunden. Haare wie Garben mit goldenen Körnern, jede Strähne eine fruchtschwere Ähre … Beglückender Sommer in festlichem Gewande … Arme – schimmernde Sicheln der Freude auf weiter, unendlicher Flur … So sind Sie, Ljona – der Sommer, gelöst und allumfassend, wie die goldene Unendlichkeit wogender Felder.«

Das war zu Beginn einer Bekanntschaft ein seltsames Gespräch, das sich in gleich angeregter Weise bis zum Schluß des Abends hinzog. Die kleine Fenja war von seiner schlichten Herzlichkeit angenehm berührt; sie fühlte, hier sprach ein Mensch unbekümmert aus, was er dachte, und seine Gedanken waren farbenreich, bildhaft und eigenartig. Nicht über Liebe, nicht über die sexuelle Frage, nicht über Politik – die gewöhnlichen Gesprächsthemen unter Studierenden – sprach er; er war wie ein Mensch aus einer anderen Welt, wo der Himmel in allen sieben Farben des Regenbogens schimmerte. Und die kleine Fenja vergaß, daß sie mit ihm kokettieren, ihm den Kopf hatte verdrehen wollen. Unbefangen lachte sie, als er sagte:

»Schauen Sie hinunter – wie komisch die Leute wackeln, von hier oben gesehen. Da, jener dicke Student – es sieht aus, als müßte er jeden Augenblick fallen. Wenn sie sich so sehen könnten, würden sie niemand auf die Empore lassen, und ich würde keine Tanzsäle mit Emporen bauen.«

Es war eigentlich nichts Komisches in seinen Worten, aber als sie hinunterschaute und die Bewegungen des dicken Studenten verfolgte, schüttelte sie sich vor Lachen. Im Zug, auf der Heimreise, hatte sie vergessen, vor sich selbst fliehen wollen, hier hörte sie zum ersten Male seit langer Zeit unbefangene Menschenworte, aus denen weder Verlangen, noch Eifersucht, noch Erwartungen sprachen, noch die Sucht, sich in ihr Leben zu drängen, hier konnte sie sich so geben, wie sie war, einfach und schlicht; es war wie ein Ausruhen der Seele.

Als der Abschiedsmarsch gespielt wurde, gingen sie hinunter.

»Auf Wiedersehen, Fenja.«

»Warten Sie mal. Ich gehöre zum Festausschuß, bleiben Sie hier als mein Gast und nehmen Sie an unserem Abendessen teil, es ist nur ein kleiner Imbiß; gut?«

Smoljaninow nahm dankend an; daß er sich nicht zierte, gefiel ihr. Im Saale hatte eine Gruppe von jungen Leuten ihren Onkel umringt. Die Studenten älterer Semester sprachen auf ihn ein:

»Kirill Kirillowitsch, bleiben Sie hier, Sie sind alter Petersburger Student, bemoostes Haupt, Sie gehören zu uns!«

Die jungen Füchse echoten:

»Sie müssen bleiben, Sie müssen bleiben, wir lassen Sie nicht fort!«

Und die Studentinnen quietschten, während eine von ihnen ihm eine rote Nelke ins Knopfloch steckte:

»Sie essen mit uns, Kirill Kirillowitsch, zusammen mit Fenitschka.«

»Bleiben Sie, Onkel Kirja, Sie sind unser Gast.«

»Gern, meine Herrschaften, danke. Aber Sie müssen mir gestatten, meine Pfeife zu rauchen, den ganzen Abend habe ich fasten, mich mit Zigaretten behelfen müssen.«

Aus dem für den Abend eingerichteten Büfett wurde aufgetischt, was übrig geblieben war, auch ein Korb Bier wurde herbeigeschafft; Kirill Kirillowitsch erhielt eine Flasche Champagner vorgesetzt.

»Darf ich mir aus dem Kasinobüfett einen Whisky bringen lassen, meine Herrschaften?«

Als ein Kellner ihm das Gewünschte brachte, trat der Ingenieur mit ihm beiseite.

»Bestellen Sie für die ganze Gesellschaft ein Abendbrot, vier Gänge und kalte Platte.«

»Es ist spät … halb drei …«

»Das gibt's bei mir nicht; sagen Sie das auch dem Koch. Zählen Sie, wieviel Gedecke nötig sind.«

»Zu Befehl, Kirill Kirillowitsch.«

Als die jungen Leute das Gaudeamus-Lied anstimmten, meldete der Kellner dem Ingenieur, daß das Essen im Säulensaal serviert sei. Kirill Kirillowitsch erhob sich:

»Verzeihung, ich bitte auf einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit. Fenitschka ladet Sie alle zu einem Abendessen ein; gehen wir hinüber, und dort singen wir noch einmal unser Lied, und ich singe mit.«

Fenitschka nahm als Gastgeberin am Kopfende des Tisches Platz, ihr Onkel und Boris Smoljaninow, der angehende Student, saßen links und rechts von ihr. Und es gab nicht nur Bier, es gab auch Schnäpse und ausländische Weine, deshalb mußte immer wieder gesungen werden. Schließlich, als die Stimmen schon nicht mehr ganz sicher waren, wurden revolutionäre Lieder angestimmt. Dabei gedachte jemand Petrowskijs, und zu Fenja klangen die Worte herüber:

»Nikodim Petrowskij ist verhaftet worden; man hat Propagandamaterial und Drucktypen bei ihm gefunden. Er wird wahrscheinlich nach Sibirien verbannt werden.«

Wie fern das alles war und wie verletzend! huschte es der kleinen Fenja durch den Kopf, und um nicht denken zu müssen, sagte sie halblaut zu Smoljaninow:

»Boris, Ljona will mit Ihnen anstoßen …«

Als die Fenster des Saales, der Doppellicht hatte, mattgrau erschimmerten, erhob sich der Ingenieur verstohlen von seinem Sitz, bot der kleinen Fenja den Arm, und sagte an Smoljaninow gewandt:

»Boris Wassiljewitsch, kommen Sie mit? Es ist spät geworden. Begleiten Sie uns.«

Noch in die Vorhalle drang das nicht mehr taktsichere Gegröhle eines Revolutionsliedes: »Wir stammen alle aus dem Volke …«

Sie flogen im Drakinschen Schlitten nach Penji. Die Schellen der Pferde klingelten. Als sie angekommen waren, sagte Kirill Kirillowitsch zum Kutscher:

»Semjon, bringe den jungen Herrn nach Hause.«

»Onkel Kirja, ich möchte Boris begleiten.«

»Du wirst frieren, Fenitschka …«

»Nein, mir ist ganz warm, Onkel.«

»Wie du willst … Ich werde auf dich warten.«

Wieder ging es durch die ganze Stadt nach der Adelsstraße, zu zweien. Sie lauschte auf seine etwas singende Stimme, die träumerisch klang, und sagte dann aus einem ihr selbst unklaren Antrieb:

»Erzählen Sie mir etwas über den Stern von Bethlehem, Boris …«

»Drei Weise aus dem Morgenlande verneigten sich vor dem Stern – mit Leib, Seele, Verstand – jeder auf seine Art; darum fand denn auch der eine – Christ, den Geborenen, der andere – Christ, den Gestorbenen, der dritte – Christ, den Auferstandenen; da erlosch jedem von ihnen der Stern. Nur dem Menschen, dessen Streben aus seiner ganzen Wesenheit fließt, aus Körper, Seele und Verstand, dem erlischt niemals der Stern von Bethlehem; er wird ihn sein Leben lang führen, ihn, der das Unsterbliche sucht, sein Leben lang …«

»Kann ein Mensch einem anderen sein Stern von Bethlehem sein?«

»Nach unserem Stern suchen wir ja immer in einem Menschen …«

»Also könnte auch ich jemandes Stern sein, jemandes Stern von Bethlehem? …«

»Jemandes Stern … Gewiß, Ljona.«

Die kleine Fenja sann vor sich hin … Auch sie wollte ihren Stern haben, und ihr war, als müsse dieser klare Stern Boris Smoljaninow sein.

Plötzlich wandte sie sich ihm zu und streckte ihm beide Hände entgegen.

»Wenn ich Sie küßte? …«

»Ich würde es nicht zulassen.«

Allein kehrte sie zurück. Es war schon fast ganz hell geworden. Sie ließ die Blicke umherschweifen, wollte an nichts denken, und es zog ihr durch den Sinn: Kaljabin, das ist der Leib, der sich verneigt, und ein Schauer schüttelte sie; Nikodim – der Verstand, und schon hatte sie ihn halb vergessen; und Boris – das ist die Seele? Vor wem aber verneigt sich diese Seele? O wenn ich ihm mit Leib, Verstand und Seele sein Stern, sein Stern von Bethlehem sein könnte! …


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