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8

Arischa schritt durch die Stadt, und ihr war, als sähen sich alle Vorübergehenden nach ihr um, als würfen die Menschen aus den großen Fenstern der Steinhäuser ihr Blicke nach, als wüßte die ganze Welt, warum die Äbtissin sie auf die Wanderschaft geschickt hatte. Sie beeilte sich, die Stadt möglichst schnell hinter sich zu lassen, durchquerte die Schützenvorstadt, wo kleine Häuser schief und krumm umherstanden, und kam schließlich auf eine einsame Landstraße; zwischen zwei Roggenschlägen schritt sie ins Unbekannte. Von Kindheit an hatte sie im Kloster gelebt, war nie allein außerhalb der Stadt gewesen, in der Unendlichkeit der Kornfelder. Sie freute sich über die Blumen am Wege, über das trillernde Lied der Lerchen. Sie suchte die schwebenden Pünktchen im Himmelsblau, verfolgte ihren jähen Sturz in die Tiefe und dachte, so sei es auch mit der Menschenseele: bald schwinge sie sich zum Himmel empor, dem Leben ein jubelndes Loblied singend, bald falle sie in die Tiefe, auf die sündige Erde, wo die Menschen sich in Sehnsucht verzehrten, der Sünde verfielen, andere und sich selbst peinigten, durch Qualen wieder geläutert wurden und sich aufs neue in lichte Höhen schwangen. Und wenn eine Lerche im schimmernden Blau verschwand, lächelte Arischa ihr und den eigenen Gedanken nach.

Ihre Füße, des Wanderns ungewohnt, schmerzten. Sie setzte sich an den Wegrand, zog die Stiefel aus, die eng schienen, und ging barfuß weiter. Die kleinen Erdklümpchen auf dem Wege stachen die Sohlen wie Ahlenspitzen. Sie versuchte, ob es sich auf dem schmalen Pfade längs des Roggenfeldes nicht besser ginge, doch hier verletzten dürre Halme und Nesseln die Füße. Geduldig schritt sie weiter, sich mit dem Gedanken tröstend, daß sie auf ihrer Wanderschaft alles demütig ertragen müsse. Allmählich gewöhnten sich ihre Füße an die Beschwerden, und sie verfolgte wieder das muntere Treiben der Lerchen. Sonne, Wärme und die wogende Luft weckten im Körper ein Gefühl köstlicher Ruhe, und zum ersten Male im Leben fühlte Arischa, daß Segen und Freude über die Erde ausgeschüttet war. Die letzten Tage im Kloster, in der Zelle der Äbtissin, hatten besänftigend auf ihr verstörtes Gemüt eingewirkt und Liebe zum Leben und eine stille Demut in ihr geweckt.

Um die Mittagsstunde entnahm sie ihrem Rucksäckchen ein Stück Klosterbrot und setzte sich zur Rast unter eine vom Blitz gespaltene Weide am Wegrande. Während sie aß, berührte sie mit den Fingern zärtlich Grashalme, Löwenzahn, Margueriten neben sich. Unversehens schlummerte sie ein …

Ein Bauer kehrte auf seinem Wagen aus der Stadt ins Dorf zurück; er bemerkte die Schlafende und hielt neugierig sein Pferd an. Zuerst hüstelte er unentschlossen, dann rief er:

»Mütterchen, hallo, Mütterchen, warum liegst du denn da? Bist wohl müde geworden von der Wanderschaft? Steig ein, wenn du willst, ich nehme dich ein Stückchen mit.«

Arischa schlug die Augen auf und erschrak vor dem Fremden. Sie gedachte der Worte der Äbtissin, die sie vor Unbekannten gewarnt hatte. »Vielleicht hat so ein zufälliger Weggenosse auch nicht die Absicht, dir Leid zuzufügen,« hatte die alte Frau gesagt, »und will es auch nicht tun, aber das Tier in ihm ist stärker … Sündig ist der Mensch, wird in Sünde geboren und vom Satan versucht; er flieht das Böse, der Böse aber flüstert ihm ins linke Ohr, auf seinem Rücken hockend, und versucht ihn, und sein Geflüster übertönt die Stimme des Schutzengels …« So erwiderte sie denn:

»Ich danke Ihnen, doch ich gehe lieber zu Fuß.«

»Na, wie du willst, von mir aus kannst du aber ruhig aufsitzen …«

Als er keine Antwort erhielt, zog der Bauer die Zügel an, schnalzte mit der Zunge und fuhr weiter.

Arischa fühlte sich ermattet, schloß wieder die Augen und blieb bis zum Anbruch der Dämmerung in Nachsinnen versunken sitzen. Da sie sich fürchtete, auf freiem Felde zu übernachten, ging sie bis ans nächste Dorf, wagte sich aber nicht hinein. Sie scheute sich, fremde Leute um ein Nachtlager zu bitten, und legte sich, ihren Rucksack unter dem Kopf, auf dem Rain zwischen zwei Roggenfeldern zur Ruhe nieder. Sie schlief nicht gleich ein; lauschend vernahm sie, wie mit der herabsinkenden Nacht ringsum eine merkwürdige Stille eintrat, als fielen nicht nur die Menschen in Schlaf, sondern als verstumme auch die Erde bis zum Anbruch des neuen Tages. Es schien eine seltsame Stille; wenn sie hinhorchte, war ihr, als spüre sie die Erde atmen; die Luft wurde durchsichtig, jeder Laut klang eigentümlich klar, besonders das Krähen der Hähne, man hörte sie sogar mit den Flügeln schlagen; sie tauschten Wechselrufe aus. Dann wurde es wieder still.

Als Arischa am Morgen erwachte, empfand sie Hunger, dabei hatte sie alles Brot aufgegessen, nicht einmal ein Stückchen Rinde war übriggeblieben. Da erst vergegenwärtigte sie sich, daß sie die Menschen ja um Almosen bitten mußte, für sich und für das Kloster. Die Äbtissin hatte zu ihr gesagt:

»Klopfet an, so wird euch aufgetan, bittet, so wird euch gegeben. Auch du wirst auf deinem Sühnegang im Namen unseres Heilands bitten müssen; dann vergiß nicht, daß jede Gabe gesegnet ist, von wem sie auch kommen mag. Und wenn du auf hartherzige Menschen stößt, die dir weder Obdach gewähren noch ein Stück Brot geben, so nimm von den Spenden für das Kloster so viel du brauchst; du versündigst dich dadurch nicht.«

Ein paar Kopeken zum Wechseln hatte man ihr mitgegeben; die durfte sie nicht ausgeben; um Brot zu bitten aber scheute sie sich. Sie ging ins Dorf, schlug das lederne Sammelkästchen mit dem Bild des Klosters innen am Deckel auf, legte die wenigen Kupfermünzen hinein und schritt schweigend die Blockhäuschen entlang. Niemand gab ihr etwas. Die Leute waren an Bettler, an Almosen sammelnde Bauern, deren Hof niedergebrannt war, an Mönche und Nonnen, die um Spenden für ihr Kloster baten, gewöhnt und erwarteten, daß die junge Nonne ans Fenster, in den Hof treten und bitten würde; dann hätte sie hier und da vielleicht eine Kleinigkeit erhalten. Nicht von ihrem Überschuß spenden ja die Bauern, sondern, selbst Not leidend, aus Mitleid mit dem Schicksalsgenossen.

Durch das ganze Dorf schritt Arischa; niemand reichte ihr etwas. Als sie an die Dorfeinfahrt kam, brach sie vor Hunger und weil es so verletzend schien, in Tränen aus. Sie kehrte wieder ins Dorf zurück und redete, sich überwindend, einen vorübergehenden Bauern bittend an:

»Eine Spende zum Schmuck unseres Klosters …«

Der Bauer sah sie an, bemerkte ihre verweinten Augen.

»Hat dir jemand ein Leid getan?«

»Nein …«

»Warum hast du dann geweint?«

»Hunger …«

»Komm mit in die Stube.«

Er führte sie in sein Haus, hieß sie am Tische Platz nehmen, schickte sein Töchterchen in den Gemüsegarten nach Zwiebeln und legte ein Stück Brot mit Salz und Zwiebeln vor ihr hin. Schweigend sah er zu, wie sie aß; als sie zu Ende war, fragte er:

»Wohl zum ersten Male?«

»Ja …«

»Für euer Kloster?«

»Ja …«

Er legte zwei Kopeken in das aufgeschlagene Kästchen neben die anderen und begleitete sie an die Pforte.

»Geh mal ins Kirchdorf; morgen ist dort Kirchweih.«

Schon aus der Ferne, von einem Hügel, erblickte Arischa die Kirche und auf dem Kirchplatz Warenstände, Verkäufer, drängelnde Bäuerinnen in Putz, Bauern und Kinder. Kaum wagte sie sich hin, stellte sich vor der Kirchentür zu den Bettlern, die einförmig in singendem Tonfall immer dieselben Worte wiederholten, während die Menschen zur Messe strömten.

»Gebt einem Krüppel ein Almosen um unseres Heilands willen …«

»Helft einem Blinden, Brüder …«

Da fiel auch sie, erst leise, dann immer lauter in die vielstimmige Litanei ein:

»Zum Schmuck unseres Klosters … Zum Schmuck unseres Klosters …«

Und als die Leute wieder aus der Kirche kamen, fügte sie hinzu: »Rechtgläubige Christen …«

Als letzter erschien im Portal der kleine Dorfpope, der wegen des Kirchweihfestes eine feierliche Miene aufgesetzt hatte. Als er die Nonne erblickte, trat er auf sie zu, erkundigte sich, aus welchem Kloster sie käme, und fragte weiter:

»Haben Sie eine Genehmigung vom Bischof und Konsistorium?«

Arischa zog das Papier aus dem Busen und reichte es ihm.

»Gehen Sie ins Pfarrhaus zu meiner Frau.«

Arischa erhielt ein Abendessen vorgesetzt und Unterkunft für die Nacht. Am nächsten Tage stellte sie sich zur Morgenmesse aufs neue vor die Kirchentür, schritt dann hinter den Bettlern die Bauernhöfe ab und begab sich am Nachmittage wieder auf die Wanderschaft.

 

Von Dorf zu Dorf wanderte sie, auch durch die Provinzstädte, wo Stille und friedliche Ruhe herrschte; die großen Gouvernementsstädte aber mied sie, der Lärm, der Verkehr, das ganze eitle Treiben der vielen Menschen schreckte sie ab. Sie besuchte Nonnen- und Mönchsklöster, pilgerte zu den Grabstätten der Heiligen, um zu beten und Spenden zu sammeln. Sie sah viel Not und Elend und fand Trost daran: auch andere litten und rangen, also mußte auch sie ihr Kreuz geduldig und demütig tragen. Sie wurde kräftig und stark, Licht und Luft stählten ihre Glieder, die Sonne brannte ihr Gesicht braun und rosig. Sie wußte nicht, daß sie noch hübscher geworden war, die Menschen aber sahen es, und mancher bewundernde Blick streifte die junge Nonne.

Im Frühjahr und Sommer bat sie nur selten in einem vertrauenerweckenden Hause um ein Nachtlager, meist schlief sie auf dem Felde, im Walde. Doch als der Herbst kam, zwang sie der Regen, oft eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Die begehrenden Blicke der jungen Bauern und Burschen versetzten sie in Angst und Schrecken. Einst geriet sie in das Haus eines Witwers, der sie mit gierigen Augen ansah und in der Nacht sich ihr zu nähern versuchte.

Mit Mühe entwand sie sich ihm, floh in das Dunkel hinaus, wanderte zwei Tage lang im Regen durch den Wald, durchnäßt bis auf die Haut. Da gedachte sie ihres Klosters, der Äbtissin, und beschloß zurückzukehren. Ohne Scheu entnahm sie der Sammelbüchse Geld und fuhr mit der Eisenbahn in ihre Stadt zurück. Der Mutter Äbtissin berichtete sie, daß sie Frühjahr und Sommer über unbehelligt durch die Welt gewandert, jetzt aber vor der Gewalttätigkeit der Menschen geflohen sei.

»Du kannst bis zum Frühjahr bei unserer alten Weihbrotbäckerin bleiben; sie ist still und ruhig, auch du wirst still und ruhig bei ihr leben; hilf ihr bei der Arbeit. Im Frühjahr aber gehst du wieder auf die Pilgerfahrt. Ich kann dir die Buße nicht erlassen; du mußt durch die Versuchungen und Verlockungen der irdischen Wanderschaft hindurch.«

 

Bis zum Frühjahr wohnte sie bei der Weihbrotbäckerin, knetete Teig, buk Weihbrötchen, brachte sie in die Kirche, holte Mehl aus der Stadt. Einmal traf sie Wladimir, blickte ihm in die Augen und erschauerte. Seit diesem Tage mußte sie aufs neue immer wieder an ihn denken; sie war wieder zum Leben erwacht. Sie verbrachte schlaflose Nächte, gedachte der Vergangenheit, seiner zärtlichen Worte und Versprechungen. Als sie durch Feld und Wald gewandert war, hatte sie sich gedankenlos dem Sein hingegeben, wie ein Ausruhen der Seele war es gewesen; an den Geliebten hatte sie gar nicht gedacht. Seit der Begegnung mit ihm war aber die Sehnsucht nach dem entschwundenen Glück wieder in ihr erstanden. Die angesammelten Kräfte erwachten und weckten unerfüllbare Wünsche. Sie konnte nicht mehr beten. Sie kniete vor dem Heiligenbilde, flüsterte ein Gebet, ihre Gedanken aber eilten zu ihm, zu dem Geliebten. Schlief sie ein, so träumte sie von seinen sündigen Liebkosungen. Sie konnte das Frühjahr kaum erwarten. Sobald es warm wurde, ging sie zur Äbtissin, sagte weinend:

»Das Bild des Geliebten versucht mich, ich ersticke hier, ich kann nicht mehr! Erteilen Sie mir Ihren Segen zur Wanderschaft …«

»Gehe hin in Frieden. Und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe. Triffst du auf deinem Wege eines Menschen wahrhaftige Liebe, so nimm sie hin als Sühne. Seine Liebe wird dich läutern, dich reinigen von dem Makel, der auf dir lastet. Bringt dir die Liebe aber noch einmal Leid und Qual, so wird sie dich zu Gott zurückführen, dich auf immer seinem Dienst weihen.«

 

Diesmal sammelte Arischa die Spenden nicht in Dörfern, sondern pilgerte von Kloster zu Kloster. Einst schloß sie sich einer Schar Pilger an und schritt in sich versunken hinter dem Zuge einher. Die Wallfahrer zogen nach dem Kloster Belobereshsk, um zur Gottesmutter zu beten.

Das Kloster lag in einem großen Walde versteckt. Sie hatte es im vorhergehenden Jahre einmal besucht, und es hatte ihr dort gefallen.

Bei dem Dorfe Mylinka begann der Wald, Urwald, so dicht, daß ein Mensch kaum hindurch konnte. Schweigsame hundertjährige Fichten strebten zum Himmel, gleichmäßig und eben; kein Schiff wäre groß genug, um solch einen Mast zu tragen. Die dunklen Wipfel in der Höhe rauschten wie Segel riesiger Schiffe, doch nicht stämmige Matrosen liefen die Rahen entlang, sondern leichtfüßige Eichhörnchen schnellten sich wie schlängelnde Fische von Zweig zu Zweig, von Ast zu Ast, von Baum zu Baum; durch den ganzen Wald hatten sie freien Weg in der Höhe. Die buschigen Tierchen spielten in der Sonne, warfen einander Fichtenzapfen zu, einen Regen vorjähriger Nadeln herabschüttelnd. Grollend rauschte der Wald auf, wogende Wellen strichen über die Wipfel, Donner rollte von Stamm zu Stamm. Der Wald erstarrte, wartete stumm auf den nächsten Schlag, der noch stärker und unheimlicher dahinrollte; die alten Fichten knirschten, als striche ein Weinen durch das Astgewirr, als stöhnte die Erde unter ihrer Sündenlast. Und wieder trat Stille ein. Blickte die Sonne hervor, so rauschte ein fröhliches Flüstern durch die dunklen Nadeln und wie sanfte Wellen am Meeresstrand strich ein Rieseln durch den Wald, verebbte und erklang nach kurzen Augenblicken aufs neue, wieder und wieder, einlullend wie ein Schlummerlied, und es schien, als singe nicht der Wald seufzend und rauschend dieses Lied, sondern als wäre es, tief und gleichmäßig, der klingende Atem der Erde. Rot sank die Sonne gen Abend, und der Wald flammte auf in goldenem Zinnoberrot, die Schuppen der Rinde glommen, schmolzen, Harz träufelte in glühenden Bernsteintropfen herab, und die goldene Luft duftete nach Weihrauch.

Es geht sich leicht in solch einem Walde. Der Weg schlängelt sich zwischen zwei zackigen Goldmauern dahin, die Wipfel fließen ineinander, und wie ein schmaler Pfad schimmert zwischen ihnen der blaue Himmel, der Strom der Ewigkeit. Die Füße versinken in körnigem Silber; samten knirscht der weiße Sand: darum heißt ja auch das Kloster Belobereshsk, die Weißen Ufer.

Hinter der weißen Klostermauer liegt der Fluß, die Swen. Die Hänge der steilabfallenden Ufer sind aus weißem Sand, und das Wasser ist so klar, daß der Blick bis auf den Grund hinabdringt; man sieht jeden Fisch. Tief unten schwimmt ein rotflossiger Barsch, es scheint aber, als glitte er gleich unter der Oberfläche dahin, so daß man ihn leicht mit der Hand greifen könnte. Silberschuppige Gründlinge glitzern wie Riesenwellen im Sonnenschein. Klar wie ein Spiegel ist das Wasser der Swen, und da unter den Wurzeln der hundertjährigen Fichten eiskalte Quellen in den Fluß fallen, die durch altes Moos, trockene Tannennadeln und wohlriechendes Harz gesickert sind, hat es einen Goldton, ist duftig und im Geschmack leicht bitter. Wer von dem Wasser trinkt, kann nie genug haben: er spürt die Heilkraft, die ihm innewohnt. Man blickt in den Fluß, und der Wunsch kommt einen an, den Arm in die durchsichtige Flut zu tauchen und mit den Fingern den Boden zu berühren.

 

Der Weg zum Kloster führt durch den Wald, und biegt man nach rechts ab, so kommt man an die Swen. Es geht sich leicht in solch einem Walde. Stumm ziehen die Wallfahrer dem Kloster zu. Der Wald schweigt, und auch sie schweigen. Jeder denkt im stillen an seine Sünde. Ganz hinten im Zug geht die junge Nonne.

Leicht hebt und senkt sich hier im Walde Arischas Brust. Der Harzgeruch steigt ihr berauschend zu Kopf, darum verliert auch der Körper alle Schwere; zuweilen spürt sie ihn überhaupt nicht, hört nur das Hallen ihres Herzens und fühlt das Wogen ihres Frauenblutes. So leicht, so gelöst sind ihre Glieder, daß sie emporschweben könnte, emporfliegen – der Freude zu. Im vergangenen Jahre war sie einmal hier, und es hat sie wieder hergezogen, um im Walde auszuruhen von den Menschen, um auf das Silbergeläut in der Höhe zu lauschen. Dann war ihr, als läuteten nicht die Klosterglocken, sondern die goldenen Tannen, wie in der versunkenen Märchenstadt, dem sagenhaften Kitesh. In solch einem Walde, schien ihr, müsse auch die sündige Seele rein werden. Der Wald hörte das Pochen ihres Herzens, spürte ihre Gedanken – sie glitten die Wurzeln hinab in die Erde, und die Erde würde sie aufnehmen, beides, Gedanken und das Pochen ihres Herzens, und ihr vergeben; hier würde die Erde ihr vergeben …

Die Wallfahrer übernachteten im Walde und Arischa mit ihnen. Mit jedem neuen Morgen wurde der Druck, der auf ihr lastete, immer leichter, wurde ihr immer freier ums Herz. Sie lag auf dem Moose und lauschte in den Wald und wußte nicht mehr, ob der Wald atme, oder ob sie so tief atmete, daß alles Schwere dahinschwand. An diesem Morgen schien ihr, als wäre alles anders geworden, freudig und verheißend, als blicke sie mit anderen Augen in die Welt und sehe sie zum ersten Male. Neue Lebenslust war in ihr erwacht, als hätte sie nie gesündigt. Dieses Gefühl im Herzen, betrat sie das Kloster. Zur Frühmesse stellte sie sich mit den Bettlern vor das Portal der Kathedrale, um Spenden für ihr Kloster zu sammeln. Als die Messe zu Ende war, kamen die Kirchgänger heraus, die Mönche folgten ihnen. Ein Mönch trat auf sie zu.

»Mütterchen, haben Sie schon die Genehmigung unseres Abtes erhalten?«

»Noch nicht …«

»So gehen Sie zu ihm und bitten Sie um seinen Segen; sonst dürfen Sie hier nicht sammeln.«

Arischa ging zum Abt, zu Vater Gerwaßij, einst Nikolka Predtetschin geheißen. Der flachsblonde Dienstbruder meldete sie an.

Sie wartete im Empfangszimmer an der Tür. Ein Teppich auf dem Fußboden, weiße Läufer zu den Türen hin, ein breiter Tisch mit einer Samtdecke, ein altertümlicher Lederdiwan, links und rechts Lehnstühle, an den Wänden auf der einen Seite Bildnisse von Äbten, in schwarzen Rahmen, und über dem Diwan von Bischöfen, in goldenen Rahmen; in der Ecke schräg gegenüber dem Eingang ein Ikonenschrein und ein ewiges Lämpchen vor dem Bilde der Gottesmutter. Das Zimmer hatte drei Fenster, die mit Tüll verhangen waren, damit die Besucher nicht durch Mücken belästigt würden.

Würdevoll trat Abt Gerwaßij ein; er hatte die hohe Mütze nicht aufgesetzt; sein kastanienbraunes Haar fiel in Ringeln auf die Schultern hinab; ein Idealbild eines Mönches. Langsam fingerte er den Rosenkranz. Er sah Arischa an, durchbohrte sie mit seinem Blick, musterte sie vom Kopf bis zu den Füßen. Die Nonne gefiel ihm; jung war sie, schlank, ihr Gesicht goldbraun und rosig vom Sonnenbrande; ihre Augen blickten freudig. Sie erinnerte ihn irgendwie an die kleine Fenja; auch Fenja war im Sommer so goldbraun und rosig gewesen und hatte auch goldenes Haar, nur heller im Ton.

Als Abt befleißigte sich Nikolka eines würdigen und gemessenen Auftretens und trug ein demütiges Wesen zur Schau. Er war besorgt um sein Ansehen bei der Bruderschaft und den Starezen. Zuweilen zog es ihn wohl im Gedenken an frühere Zeiten zu den Weibern in Polpenki, auch warf er mancher Wallfahrerin, Sommerfrischlerin und Kaufmannsfrau, die zum heiligen Abendmahl ins Kloster kam, verstohlene Blicke zu, dann aber erinnerte er sich seiner Abtswürde und wollte sein geruhsames Leben nicht aufs Spiel setzen. Beim Anblick der jungen Nonne aber kamen ihm allerhand Gedanken; er müßte sehen, sie möglichst lange im Kloster zurückzuhalten, irgendwo in der Wirtschaft unterzubringen …

Der Wirtschaftsbetrieb des Klosters war groß; da waren die Gemüsegärten, die Überschwemmungswiesen, die Mühle, die Viehhöfe, der eine gleich neben dem Kloster, der andere auf dem Vorwerk, auf denen Nonnen als Viehmägde angestellt waren. Eine Frau müßte er sich zulegen, eine hübsche, junge Frau, dachte Nikolka, während er Arischa prüfend musterte. Schon oft war ihm der Gedanke gekommen, daß es so nicht weiterginge. Er mußte sehen, sich von den Qualen des lüsternen Fleisches zu befreien und von den sündigen Träumen und Vorstellungen, die ihm Tag und Nacht keine Ruhe ließen.

Er segnete Arischa, indem er ein weites Kreuz über sie schlug, und reichte ihr die Hand zum Kuß. Als er ihre warmen weichen Lippen fühlte, erschauerte er; der Wunsch, die junge Nonne im Kloster zurückzuhalten, wurde noch bohrender.

»Sie sammeln Spenden für Ihr Kloster?«

»Ich möchte auch in Ihrem Kloster sammeln dürfen und bitte um Ihren Segen dazu, Vater Abt …«

»Zur Zeit sind nur wenig Wallfahrer hier, in zehn Tagen aber, zum Pfingstfest, wird hier alles überfüllt sein; da werden Sie eine reiche Ernte zum Ruhme Ihres Klosters einbringen … Bleiben Sie so lange hier, ruhen Sie sich ein wenig aus von der Wanderschaft.«

Nikolka sprach in samtenem Bariton, mit herzlicher Freundlichkeit, sah ihr in die Augen, ließ sein Wohlgefallen an ihr durchblicken. Als sie sich verabschiedete, segnete er sie wieder, und wieder erschauerte er unter dem Handkuß ihrer Lippen, die ihm jetzt noch wärmer schienen.

»Ja – wo werden Sie denn wohnen?«

»In den Baracken, zusammen mit den Wallfahrern.«

»Es schickt sich nicht, daß eine Nonne sich unter Laien aufhält. Gehen Sie auf den Viehhof zu den Mägden, die bei uns Nonnen sind, Sie können bei ihnen wohnen. Mein Dienstbruder wird Sie hinführen. Dort werden Sie ruhiger wohnen können. Und um auch für unser Kloster etwas zu tun, könnten Sie den Müttern in der Wirtschaft helfen in den Stunden, die Sie weder dem Gebet noch Ihrem frommen Dienste widmen.«

Er ging selbst zu seinem Novizen hinaus und sagte streng:

»Sage auf dem Viehhof, der Abt habe befohlen, die Mutter hier gastlich aufzunehmen und ihr eine eigene Kammer einzuräumen; ich werde selbst hinkommen, um nachzusehen. Und Mutter Arefia soll für sie sorgen und sie nicht mit Arbeit überhäufen.« Leiser fügte er hinzu: »Du siehst ja, daß sie aus einem vornehmen Hause stammt.«

 

Arischa ruhte aus in der kleinen Zelle. Man brachte ihr Milch, Kwas, köstlich duftendes Brot, und zum Abendessen schickte ihr Mutter Arefia Kohlsuppe mit Fisch, in der saure Sahne zerlassen war.

Kaum dämmerte der Morgen, da trieben die Hirten die bereits gemolkenen Kühe auf die Weide; dann wurde es still auf dem Viehhof. Arischa war aufgestanden, trank kuhwarme Milch und ging zur Messe, um Spenden zu sammeln. Als der Abt aus der Kirche kam, trat sie auf ihn zu und bat um seinen Segen. Er fragte, ob sie mit der Unterkunft zufrieden sei und segnete sie. Gemessen schritt er der Abtei zu, segnete die Mönche, die auf ihn zueilten, während er an die junge Nonne dachte, deren leisen Kuß und warme Lippen er noch auf seiner Haut spürte, und malte sich aus, wie es sein würde, wenn sie ihn erst auf den Mund küßte …

Den ganzen Tag dachte er an sie; nach der Abendmesse aber hielt er es nicht länger aus und ging auf den Viehhof, um seine Anordnungen für das bevorstehende Pfingstfest zu treffen. Er segnete die Nonnen und fragte Mutter Arefia:

»Na, wie geht es deinem Gast? Laß sie nicht zu viel arbeiten. Sie ist aus vornehmem Hause …«

Er wollte durchaus, daß sie vornehmer Abstammung sei – ihr Aussehen ließ darauf schließen: hübsch, schlank, ein feines Näschen mit einem ganz kleinen Höcker, ebenmäßige Brauen, eine rosiggoldene Gesichtsfarbe … Nonnen einfacher Herkunft sahen anders aus. Die Mütter da auf dem Viehhof zum Beispiel, die waren wie Milchkühe, von einer Leiblichkeit, die die längsten Arme nicht hätten umspannen können, ekelhaft anzuschauen! Dazu farblose Augen, harte Hände und puterrote oder pockennarbige Gesichter – zur Auswahl. Bestimmt mußte die zarte Nonne aus gutem Hause sein, eine Adlige – vornehmer als Fenja; das wäre etwas zum Lieben!

Mutter Arefia antwortete demütig:

»Ich nötige sie nicht zur Arbeit, sie wollte selbst helfen; sie sagte, der Vater Abt habe es ihr befohlen.«

»Wirst du zu den Festtagen auch gut eingedeckt sein? Wird es für alle reichen?«

»Es wird schon reichen … Wir stellen Vorräte bereit …«

»Es wird wohl am besten sein, wenn du sie bittest, das Wirtschaftsbuch zu führen.«

Zwei Tage war Arischa auf dem Viehhof, als sie sich entschloß, bis zu Pfingsten zu bleiben. Es gefiel ihr hier. Bei Morgengrauen erhob sie sich, half Mutter Arefia, ließ Milch durch ein Sieb, blickte auf den Wald: wie eine Mauer standen die Fichten hinter den Ställen nebeneinander, rauschten leise. Die Sonne ging auf, da erglühten die Schuppen der Stämme rosig, dunkler nach unten zu; wie ein Heiligenschein schimmerte es um die Bäume. Das Vieh zog auf die Weide, die Mägde räumten die Milch fort und gingen frühstücken. Arischa aber konnte sich nicht trennen, stand verloren da, horchte auf den Singsang des Hirtenhorns im Walde und sagte sich, daß sie es noch nie im Leben so gut gehabt hätte wie hier.

 


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